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Lernen ist zu Orten zu gelangen, wo du noch nie zuvor warst

Von Oliver Suchanek (17), Schüler der HTL Ungargasse (Wien)

Ich will euch ein Geheimnis verraten. Es ist keines, das einige gern hören wollen. Aber zur gleichen Zeit ist es wichtig, darüber zu reden. Den Mut zu haben. Ich habe verstanden, was 80-90 Prozent der SchülerInnen nie verstehen werden und versteht mich nicht falsch: ich bin jetzt dadurch kein Wundermensch.

Das Geheimnis ist folgendes: was wäre, wenn ich mitteilen würde, dass die meisten Schulen uns gar nicht so intelligent machen, wie sie sollten? Warte! Was? Wir gehen in die Schule, lernen und werden dadurch intelligent – so läuft es doch, oder nicht?

Es gibt drei Arten von Intelligenz. Erstens, sie ist vielfältig; wir begreifen die Welt in jeder Weise, in der wir sie wahrnehmen können. Wir denken visuell, wir denken in Tönen, wir denken in Bewegungen und in abstrakten Begriffen.

Zweitens, Intelligenz ist dynamisch und drittens, was besonders wichtig ist, sie ist individuell.

Und jetzt schauen wir einmal, was die meisten Schulen größtenteils mit uns machen.

Du wirst gezwungen sehr früh aufzustehen, zu einem Ort voller Menschen zu gehen, die dich insgeheim verurteilen, dich versuchen in einen Konkurrenzkampf zu treiben, wer die neuesten Schuhe hat, wer die frechsten Antworten geben kann, wer der Klügste ist…; in der Schule sein bedeutet, alles an so überflüssigen Informationen und Wissen reingestopft zu bekommen. Niemand bringt einem bei, wie man im späteren Leben, in der realen Wirklichkeit, überlebt.

In den meisten Schulen wird man danach beurteilt, wie gut man sich an die Informationen erinnert, die einem gegeben werden. Wie oft hat man sich zwei Minuten nach einem Test an etwas erinnert, kurz nachdem der Lehrer sagte: „Weg mit dem Stift!“, um dann ein paar Tage später zu erfahren, dass dies genau ein paar Punkte weniger wert ist als ein Einser oder gar ein Vierer. Bedeutet das, wenn man sich 5 Minuten früher daran erinnert hätte, hätte das einen mehr qualifiziert für einen bestimmten Job?

Wie oft hat man Sekunden nach der Prüfung alles vergessen, wofür wir zwei Wochen, oder drei Tage davor lernen mussten? Wie oft hat man Sachen ins Kurzzeitgedächtnis gelernt, mit dem Vorhaben, es ins Langzeitgedächtnis zu speichern, aber nie die Zeit und Motivation dazu gefunden, weil gleich nächste Woche der nächste Stoff ins Kurzzeitgedächtnis gespeichert werden muss.

In den meisten Schulen geht es nicht einmal wirklich um das Lernen. Es geht darum, mit wie viel Stress man umgehen kann, bevor man einen Nervenzusammenbruch erleidet, in Depressionen reinrutscht und letztendlich die Motivation verliert.

Lernen ist etwas ganz Anderes. Lernen ist zu Orten zu gelangen, wo du noch nie zuvor warst. Lernen ist Fehler zu machen, daraus zu lernen und wieder welche zu machen. Daran zu wachsen. Lernen ist neue Dinge zu entdecken, welche man zuvor noch nie wusste. Lernen ist an mehr Wissen zu gelangen; Wissen, das dir hilft die Welt um dich zu verstehen. Besonders die letzte Schule hat mich vieles gelehrt, aber am meisten hat sie mich gelehrt, dass Noten, Punkte und Ergebnisse scheinbar wichtiger sind als meine Moral, Gefühle und mentale Gesundheit. Schule, Bildung, ist dazu gedacht, uns in diese Zukunft zu bringen, die wir nicht fassen können.

Letztendlich geht es aber bei der Bildung um das Lernen. Wo kein Lernen stattfindet, findet auch keine Bildung statt.

Wer nicht bereit ist einen Fehler zu machen, wird nie etwas wirklich Originelles schaffen können. Und wenn man dann erst erwachsen ist, haben die meisten von uns die Fähigkeit verloren kreativ zu denken und den Mut zu haben. Man bekommt Angst, Fehler zu machen.

Der Sinn der öffentlichen Bildung ist es Universitätsprofessoren zu produzieren, oder? Das sind die Leute, die an der Spitze sind, die die meisten Punkte, die besten Noten erreicht haben. Unser Bildungssystem basiert auf der Idee akademische Fähigkeiten zu erlangen. Der Grund dafür ist: das ganze System wurde erfunden. Es gab vor dem 19. Jahrhundert keine öffentlichen Bildungssysteme – sie wurden alle begründet, um mit Studenten, Schülern wie wir sie sind, den Bedarf der Industrie zu erfüllen.

Denkt man einmal wirklich darüber nach, dann ist das gesamte Schulsystem ein in die Länge gezogener Prozess der Eintrittsprüfung in die Universität. Und dadurch kommt es dazu, dass Menschen, die wirklich talentiert sind, denken, dass sie es nicht sind.

Schüler werden immer und immer mehr rationalisiert, der Norm angepasst, die sich eh ständig ändert. Die Individualität stirbt aus. Wir reden davon, wie wichtig sie ist, wie sehr wir die Individualität fördern wollen, doch letztendlich sehen wir zu, wie sie langsam zu Grunde geht. Den Schülern wird ausgetrieben eigene Meinungen zu bilden und das kritische Hinterfragen verlernen sie zunehmend.

Was ist mit den jungen Köpfen, die voller Ideen und Kreativität stecken, aber schlicht und einfach Probleme dabei haben, sich schulisch zu konzentrieren (kein Wunder, wir sitzen die meisten Stunden auf einem Fleck!)? Oder, dass man meint, ihre Bemühungen seien nicht gut genug, wenn sie in Wirklichkeit einfach nichts verstehen. „Nachfragen!“, heißt es dann. Aber gleichzeitig soll man wenig Fehler machen und die Erklärungen bestenfalls schon nach dem zweiten Mal verstanden haben. Wie soll man da nachfragen, wenn viele dafür zu schüchtern sind und somit ohne Hilfe versuchen durchzukommen und dadurch das Potential nicht erreichen können, das sie haben. Das Problem ist, dass sich die Bildungskultur nicht auf das Unterrichten und Lernen konzentriert, sondern auf das Testen. Wir sind eine sehr leistungsorientierte Gesellschaft. Kompetenz ist das Wort, das einem schon nach drei Wochen aus dem Hals heraushängt. Tests sind wichtig, ja, aber sie sollten nicht die gesamte Bildungskultur darstellen, oder? Sie sollten nur helfen. Sie sollten unterstützen, nicht das Lernen verhindern, was sie aber leider tun.

Was ist mit den jungen Köpfen, die schulisch sehr zufriedenstellend im Unterricht sind, aber enorme Prüfungsnervosität haben? Nichtsdestotrotz werden sie alle mit den selben Voraussetzungen benotet und beurteilt.

Unser Bildungssystem hat unsere Köpfe genauso ausgebeutet, wie wir die Erde ausbeuten.Um eines bestimmten Rohstoffs willen. Und für die Zukunft wird uns das einfach nichts nutzen.

Manche werden sich wahrscheinlich denken, dass ich ein Schüler bin, der kurz davor steht abzurutschen und sich deswegen über das Schulsystem aufregt.

Ich bin aber ein Schüler, der einen Notendurchschnitt von 1,5 hatte, als ich die zweite Klasse Oberstufe das AHS Gymnasiums abbrechen musste, da die Schule einen psychisch zu Grunde richtete. Ich habe in der HTL bisher einen guten Neuanfang finden können und habe im ersten Halbjahr einen Notendurchschnitt von 1,7 erreicht. Trotzdem bin ich kein Freund des Bildungssystems, aber ein Freund des Lernens.

Das war das Geheimnis.

Fotos: privat

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2 Gedanken zu „Lernen ist zu Orten zu gelangen, wo du noch nie zuvor warst

  • Lukas Ruckenstuhl

    Leider die Wahrheit..

    Antwort
  • Rümeysa Kilic

    Ich stimme dir zu ;) ich finde deine Denkweise und deine Ideen super mach weiter so! Ich hoffe dass wir noch viel Artikeln von dir lesen ;)

    Antwort

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