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Das kapitalistische Manifest: Ein Plädoyer für die Freiheit… nur für welche?

Der Kapitalismus hat trotz aller Mängel auch seine guten Aspekte. Aber sollten deshalb alle anderen wirtschaftspolitischen Konzeptionen in den Bereich des Alternativlosen verbannt werden?

Von Florian Maiwald

In den rechts-konservativen kanadischen Medien wurde zu Beginn des Jahres ein kapitalistisches Manifest verfasst, welches nichts weniger als die Absicht verfolgte, zu bekunden, was für ein großartiges Wirtschaftssystem der Kapitalismus doch ist. Gleich zu Beginn des Manifests wird mit Nachdruck darauf aufmerksam gemacht, dass das kapitalistische Wirtschaftssystem dazu in der Lage war Millionen von Menschen in verschiedensten Ländern auf der Welt  zu dem Ausstieg aus der eigenen Armut zu verhelfen. Und – selbst als der größte Kapitalismuskritiker auf Erden – kann man bei diesem Punkt (wenn man in diesem Punkt nicht mehr als eine empirisch-historische Bestandsaufnahme betrachtet) natürlich bis zu einem gewissen Grad mitgehen. An einer Stelle räumt das Manifest dann ein, dass das kapitalistische Wirtschaftssystem natürlich erhebliche Mängel aufweist, aber dennoch im Grunde alternativlos ist, da alle anderen Alternativen immer mit Gewalt und unzähligen Toden einhergingen:

Wie auch immer man es nennen mag, es ist eine Philosophie, die Hunderte von Millionen Menschen aus der Armut befreit, die Welt mit bahnbrechenden Technologien immer wieder neu gestaltet und eine weltweite Mittelschicht geschaffen hat, die einen Lebensstil genießt, der in der Geschichte seinesgleichen sucht und der sogar angenehmer ist als der der Könige der Geschichte. Ja, es hat auch Kosten gegeben. Viele Varianten der britischen industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts wurden von einigen der „dunklen satanischen Mühlen“ von William Blake begleitet. Die Alternativen zu freien Märkten haben jedoch die sowjetischen Gulags hervorgebracht – 66 Millionen Tote nach Aleksandr Solschenizyns Schätzung -, […] die Schlachtfelder der Roten Khmer und Maos Großer Sprung nach vorn – nach manchen Schätzungen 80 Millionen Tote in vier Jahren.

Die argumentative Strategie, die an dieser Stelle verwendet wird, ist äußerst interessant. Natürlich gab es grauenvolle Verbrechen in der Menschheitsgeschichte und kein kapitalismuskritischer Mensch mit einem Grundmaß an Verstand würde behaupten, dass das, was in der Sowjetunion passiert ist oder derzeit in China passiert als etwas durch und durch Positives zu betrachten ist. Interessant ist an dieser Stelle dennoch, dass in der hier zitierten Passage durchaus eingeräumt wird, dass das kapitalistische Wirtschaftssystem selbstverständlich auch Nachteile mit sich gebracht hat.

Man könnte schon nahezu psychoanalytisch – unter Bezugnahme auf Erich Fromm, welcher den Begriff des gesellschaftlich Unbewussten verwendet hat (konkreter verstanden als die Widersprüche, welche den einzelnen Gesellschaftsmitgliedern nicht bewusst werden dürfen, damit die Gesellschaft weiterhin reibungslos in ihren Abläufen funktionieren kann) – behaupten, dass an dieser Stelle ein sogenanntes kapitalistisches Unbewusstes zum Vorschein kommt, welches lediglich ein Symptom für den Umstand ist, dass den stärksten Verteidigern selbst deutlich wird, dass das System – gerade vor dem Hintergrund des immer weiteren Voranschreitens des Klimawandels, sowie der sich immer weiter ausbreitenden Schere zwischen Arm und Reich – derzeit (oder zumindest in naher Zukunft) an seine Grenzen stößt.

Hatte Marx noch sein kommunistisches Manifest in dem revolutionären Eifer verfasst, einen kompletten Umsturz der gesellschaftlichen Verhältnisse herbeizuführen, verfolgt das kapitalistische Manifest – so scheint es – eine ganz andere Intention: es versucht etwas zu bewahren, wohl wissend, dass dieses zu Bewahrende, aufgrund seiner inhärenten Mängel, bald verschwinden muss. Eines haben die Verfasser jedoch auch übersehen – hierbei handelt es sich um eine Fehlannahme, welche sowohl für das linke als auch für das rechte politische Spektrum durchaus charakteristisch scheint.

Es ist davon die Rede, dass die Alternativen zu freien Märkten sich historisch als durch und durch grausam erwiesen haben. Die Frage bleibt an dieser Stelle nur: Wer hat jemals behauptet, dass die Freiheit von Märkten außerhalb eines kapitalistischen Wirtschaftssystems nicht möglich sei? Oder anders formuliert: Wer sagt, dass der Kapitalismus als dasjenige Wirtschafssystem zu betrachten ist, welches der Freiheit des Einzelnen am ehesten gerecht wird?

Es scheint hier sehr sinnvoll, sich von dem typisch marxistisch geprägten Gedankengut zu lösen, welches immer als das einzig mögliche Pendant zum kapitalistischen Wirtschaftssystem betrachtet wird und sich zu vergegenwärtigen, was andere Denker zu diesem Thema beigetragen haben. So haben einige der französischen Frühsozialisten wie Charles Fourier beispielsweise darauf hingewiesen, dass auch außerhalb des kapitalistischen Wirtschaftssystem in Form von Arbeiterassoziationen Raum für wirtschaftlichen Wettbewerb bleibt. Auch John Stuart Mill – der in seinem Denken auf einmalige Weise zeigt, dass die Denktraditionen des Liberalismus und Sozialismus nicht unbedingt im Widerspruch zueinander stehen, sondern dass der Sozialismus vielmehr als eine konsequente gedankliche Weiterführung des liberalen Grundgedankens zu betrachten ist – macht später, bedingt durch seine vielfältigen Auseinandersetzungen mit den französischen Frühsozialisten auf ähnliche Weise auf diesen Umstand aufmerksam.

Nicht zuletzt hat Axel Honneth in seinem Buch Die Idee des Sozialismus ebenfalls auf diesen Aspekt aufmerksam gemacht:

Im wesentlichen aber hat Marx durch seine begrifflichen, dem Hegelschen Totalitätsdenken verpflichteten Manöver, den Markt mit der Vielzahl seiner Gestalten so stark mit dem Kapitalismus zur Deckung gebracht, daß es nach seinem Tod innerhalb der Bewegung lange Zeit unmöglich war, die alternative, sozialistische Wirtschaftsform anders denn als eine vollkommen marktfreie Ökonomie zu denken […] (Honneth 2020: 92).

Dies ist ein wichtiger Kritikpunkt, der sich von beiden Seiten – sowohl von Kapitalismuskritikern als auch von Befürwortern – vergegenwärtigt werden sollte. Es gibt durchaus bewahrenswerte Aspekte an dem gegenwärtigen Wirtschaftssystem (auch wenn Einige dies nicht wahrhaben wollen), welche nicht zwangsläufig in einem sozialistischen Wirtschaftssystem verschwunden sein müssen. So haben Mill und einige der französischen Frühsozialisten richtigerweise darauf aufmerksam gemacht, dass es verschiedene Arbeitergenossenschaften geben kann, welche miteinander durchaus in einem Konkurrenzverhältnis stehen (wohlbemerkt in einem freundlichen), was den wirtschaftlichen  Wettbewerb weiterhin anheizen würde. Nur mit dem Unterschied, dass die einzelnen Genossenschaften in einem demokratischen Prozess über die Arbeitsteilung entscheiden und die jeweiligen Produktionsmittel gemeinsam verwalten.

Es wäre müßig an dieser Stelle weiter auf diese Aspekte einzugehen. Was die vorherigen Überlegungen jedoch im Ansatz verdeutlichen sollten, ist, dass der Kapitalismus nicht als das einzige Sinnbild für menschliche (und gesellschaftliche!) Freiheit betrachtet werden sollte und dass alles andere, was gedanklich außerhalb der Grundsätze dieses Wirtschaftssystems operiert, ebendiese Freiheitsrechte zu gefährden droht.

Abschließend lässt sich dieser Aspekt anhand eines äußerst schönen Beispiels verdeutlichen: In den letzten Wochen wurde vermehrt darauf hingewiesen, dass das ursprüngliche Ende des Films Fight Club von den chinesischen Behörden zensiert wurde. In dem Ende ist zu sehen, wie der schizophrene Protagonist (gespielt von Edward Norton) sein Alter Ego Tyler Durden (gespielt von Brad Pitt) tötet und damit auch sich selbst umbringt. Die ganze Szene spielt sich in einem Hochhaus ab und zu dem Song Where is my mind von den Pixies lässt sich aus dem Fenster des Hochhauses zu beobachten, wie zahlreiche Finanzgebäude explodieren und zusammenstürzen. Die Botschaft des Films (das weiß eigentlich jeder, der ihn gesehen hat) ist eine ganz klar antikapitalistische. Umso interessanter mutet der Umstand an, dass China (ein sich doch kommunistisch gerierendes Land) dieses Ende mit einer Zensur versehen hat.

Hier wird ein Paradox erkennbar, auf das der slowenische Philosoph Slavoj Žižek des Öfteren hingewiesen hat: Die chinesische Regierung hat es geschafft zwei Aspekte zu vereinen, welche von Linken stets verachtet wurden: ein gnadenloser Kapitalismus kombiniert mit knallhartem Autoritarismus. Dies ist insofern interessant, als hierdurch unmittelbar verdeutlich wird, dass der Kapitalismus nicht als Synonym für Freiheit zu betrachten ist. Aber im Umkehrschluss sollte auch nicht alles, was Aspekte des gegenwärtigen Wirtschaftssystem als problematisch erachtet, als etwas freiheitsgefährdendes betrachtet werden.

Die wahre Revolution, so scheint es, sollte dieser Tage in unserem Denken stattfinden!


Titelbild: Xavi Cabrera auf Unsplash

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