Die atomare Bedrohung und gesinnungsethische Sackgassen
In diesen Zeiten wird eines deutlich: Es wird zu viel auf der Basis von Emotionen und nicht im Hinblick auf Folgenabwägungen diskutiert.
Von anonym
Wladimir Putins jüngste Drohungen im Rahmen eines Galakonzerts anlässlich der Schlacht um Stalingrad haben wiederholt eine Debatte darüber entfacht, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass die russische Regierung sich im Rahmen dieses Krieges tatsächlich für den Einsatz von Atomwaffen entscheiden wird. Vielfach wird argumentiert, dass Putin lediglich mit der Angst des Westens spielen würde, weshalb seine fortwährenden Drohungen nicht davon abhalten sollten, die Ukraine weiter mit militärischem Gerät zu unterstützen. Das Argument lautet weiter, dass Putin die in vielen westlichen Gesellschaften vorherrschende Imagination einer nuklearen Eskalation bewusst nutzt, um in einer Position der Stärke zu bleiben.
Die Argumentation von westlicher Seite, welche darauf basiert, dass Putins Intention genau darin besteht, verkennt jedoch einen wichtigen Aspekt: die Rolle des Nichtwissens. Während der Hochphasen der Corona-Pandemie hat der Faktor des Nichtwissens ebenfalls eine äußerst wichtige Rolle gespielt. Während zu Beginn der Pandemie, aufgrund unzureichender wissenschaftlicher Erkenntnisse im Hinblick auf die Natur (und Gefährlichkeit) des Virus, oftmals drastischere Maßnahmen, wie beispielsweise Ausgehsperren, angewandt wurden, um Menschenleben zu schützen, wurden diese mit zunehmenden wissenschaftlichen Erkenntnissen im Hinblick auf die Natur des Virus ständig neu justiert und angepasst. Waren erhöhte Sterblichkeitsraten zu beobachten, wurden die Maßnahmen verständlicherweise wieder verschärft. Hat die Sterblichkeit nachgelassen, wurden die Maßnahmen berechtigterweise wieder fallen gelassen. Kurzum: Es ging um die durchaus nachvollziehbare Abwägung von Freiheit und Sicherheit (und die damit einhergehende Erkenntnis, dass nichts von beiden wirklich ohne das andere bestehen kann).
Über Versuche und gefährliche Irrtümer
Im Hinblick auf den Krieg in der Ukraine begehen jedoch diejenigen, welche behaupten, dass Putin lediglich darauf bedacht ist, den Westen einzuschüchtern, einen eklatanten Fehler: Sie wenden die während der Corona-Pandemie vorherrschende Herangehensweise von Versuch und Irrtum auf den Ukrainekrieg selbst an. Zu Beginn des Krieges hieß es, dass der Ukraine keine schweren Waffen geschickt werden sollen. Auch wenn es höchstwahrscheinlich richtig war, diese Entscheidung fallen zu lassen – diese schienen der Ukraine bei der Verteidigung ihres Territoriums tatsächlich einige Rückgewinne zu ermöglichen – ist es dennoch äußerst beunruhigend zu beobachten, wie zunehmend bisherige Tabus gebrochen werden: eine zentrale Ingredienz für die Eskalation von kriegerischen Auseinandersetzungen. Bis vor einiger Zeit war der Leopard noch ein klares Tabu, da durch diesen der Krieg zu eskalieren droht. Schlussendlich wurde der Panzer von Bundeskanzler Scholz geliefert, da die Kritik an seiner zögernden Grundhaltung zunehmend größer wurde. Jetzt ist ein ähnlicher Diskurs zu beobachten: Kampfjets sind auf jeden Fall als ein klares Tabu einzustufen – nur wer weiß, wie der allgemein vorherrschende Diskurs in vier Wochen aussehen wird?
Die aus einer derartigen Grundlogik resultierende Gefahr liegt eigentlich auf der Hand: Eine auf Versuch und Irrtum basierende Herangehensweise kann ab einem gewissen Punkt dazu führen, dass ein Irrtum stattfindet, welcher einen neuen Versuch unmöglich macht, da ein nuklearer Flächenbrand entsteht.
Ein Plädoyer für die Verantwortungsethik
Diese Überlegungen sollten jedoch nicht zu der Annahme verleiten, einem gesinnungsethischen Pazifismus zu folgen, welcher die Konsequenzen für die ukrainische Bevölkerung völlig außer Acht lässt. In seinem sehr lesenswerten Essay Pazifismus – Eine Verteidigung differenziert der Philosoph Olaf Müller unter anderem zwischen einem gesinnungsethischen und einem verantwortungsethischen Pazifismus. Das Problem am gesinnungsethischen Pazifismus sei, so Müller, dass „[…] viele pazifistische Gesinnungsethiker entweder mit geschlossenen Augen oder mit verschlossenem Herzen durch die Welt“ gehen und fährt fort: „Sie brauchen nicht nach rechts und links zu schauen, wenn sie einfach nur Nein sagen zu jedweder kriegerischen Handlung; es kann ihnen gleichgültig sein, in welcher Situation und warum jemand vorschlägt, zu den Waffen zu greifen. Selbst wenn vor ihrer Haustür die schlimmsten Verbrechen geschehen und selbst wenn sich diese Verbrechen militärisch stoppen ließen – all diese Einzelheiten sind irrelevant für die Anwendung des rigorosen Verbots kriegerischer Handlungen.“ Müller bleibt jedoch nicht bei seiner Kritik an einem gesinnungsethisch geprägten Pazifismus stehen, da es Müller um eine Verteidigung des Pazifismus selbst geht. Vielmehr ist Müllers Kritik auf die gesinnungsethische Grundposition selbst ausgerichtet und damit auch auf diejenigen, welche – hier kommen im deutschen politischen Diskurs zunächst Anton Hofreiter und Marie-Agnes Strack-Zimmermann in den Sinn – nach Müllers Worten einen gesinnungsethischen Verteidigungsbellizismus vertreten, welcher auf der Annahme basiert, dass das Opfer eines Angriffskrieges sich mit (möglichst) allen militärischen Mitteln zur Wehr setzen soll und darf. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen gelangt Müller schließlich zu der Schlussfolgerung, dass jegliche Form der gesinnungsethischen Grundhaltung in diesem Zusammenhang abzulehnen ist, da diese die möglicherweise verwerflichen Konsequenzen des eigenen Tuns unberücksichtigt lässt.
Im Hinblick auf die derzeitige Situation macht es von daher Sinn einem verantwortungsethisch geprägten Pazifismus zu folgen, welcher auf Verhandlungen drängt, welche keinesfalls gefährliche Konsequenzen für die ukrainische Bevölkerung zur Folge haben dürfen, aber andererseits darum bemüht sind, das Blutvergießen zu beenden. Denn eine verantwortungsethische Version des Pazifismus erkennt drei wesentliche Aspekte an, für welche die gesinnungsethischen Verteidigungsbellizisten weitestgehend blind sind: Erstens: Das Blutvergießen in der Ukraine wird nicht durch immer weitere Waffenlieferungen gestoppt.
Zweitens: Die derzeitige Situation ist durch so viel Nichtwissen geprägt, dass jeder weitere Schritt im Sinne eines verantwortungsethischen Pazifismus darauf bedacht sein sollte, eine Eskalation dieses Krieges zu vermeiden. Und drittens, zu guter Letzt: Der zweite Aspekt verleitet den verantwortungsethisch geprägten Pazifisten – im Gegensatz zum gesinnungsethisch geprägten Pazifisten – keineswegs dazu, das Leid der ukrainischen Bevölkerung bedingt durch eine Angst vor kriegerischer Eskalation zu ignorieren, sondern vielmehr mit in das eigene Handeln einzukalkulieren. In diesem Zusammenhang erinnert Müller ebenfalls an Albert Einstein und Bertrand Russel, welche zwar Zeit ihres Lebens überzeugte Pazifisten waren, aber während des zweiten Weltkrieges dennoch zu der Überzeugung gelangt sind, dass die militärische Bekämpfung von Nazi-Deutschland aus einer verantwortungsethischen Sicht die einzig vernünftige Option darstellt.
Da die derzeitige Situation jedoch in vielerlei Hinsicht eine andere als im zweiten Weltkrieg ist (diese Anmerkung ist notwendig, da gerade Befürworter immer weiterer Waffenlieferungen immer wieder gern eine derartige historische Parallele konstruieren), gilt es in diesem Zusammenhang auch zu anderen Schlussfolgerungen zu gelangen. Die von Lula vorgeschlagene Friedensinitiative stellt in diesem Zusammenhang eine angemessene und vernünftige Reaktion auf die derzeitige Situation dar. Oder, wie Johannes Varwick es in der Überschrift eines kürzlich von ihm veröffentlichten Meinungsbeitrag treffend auf den Punkt bringt: Wir sollten mehr Lula wagen!
Dieser Beitrag erschien zuerst am 24.02.2023 im Debatten-Magazin „The European“.
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