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Das Märchen vom Sparzwang

Die neue Bundesregierung hat zuallererst drastische Einschnitte im Haushalt vorgenommen, die ausschließlich die Armen und Ärmsten des Landes, die Werktätigen und die in Pension befindlichen treffen. Die Beitragstäter aus den Reihen der SPÖ werden dabei nicht müde, uns zu erzählen, dieser neuerliche Sozialabbau sei nötig, um das Budget zu konsolidieren. Was sie dabei verschweigen, ist die Tatsache, dass diese Art der Umverteilung von unten nach oben bereits seit vier Jahrzehnten laufendes Programm ist.

Von Andreas Pittler

Jetzt auch als Podcast (Audio-Zusammenfassung):

I.

Wie alle Märchen beginnen wir mit dem Satz „Es war einmal“. Österreich war einmal, unter Bruno Kreisky nämlich, ein gutes Land. Die SPÖ – damals noch Sozialistische Partei statt Sozialdemokratische Partei geheißen – hatte 1970 die Wahlen gewonnen und begann umgehend eine Reformoffensive, deren Ziel es war, den Werktätigen, den PensionistInnen, den jungen Menschen in Ausbildung und im Zustand der Familiengründung finanziell unter die Arme zu greifen. Zum ersten Mal in der Geschichte des Landes erhielt das Volk einen Anteil am gesellschaftlichen Reichtum. Maßnahmen wie die Schülerfreifahrt, die Gratisschulbuchaktion und die Streichung der Schulgebühren ermöglichten es erstmals Arbeiterkindern, ebenfalls höhere Bildung in Anspruch zu nehmen. Die Heiratsbeihilfe ermöglichte Jungfamilien einen finanziell besseren Start in die gemeinsame Zukunft, die Kinderbeihilfe half dabei, den Nachwuchs ansprechend großzuziehen. Ein facettenreiches Programm der Erwachsenenbildung ermöglichte einen individuellen Aufstieg hin zu besserer Qualifikation und, damit verbunden, besserer Bezahlung. Eine breite Offensive im Bereich der Infrastruktur – Ausbau von Straßen und öffentlichem Verkehr, flächendeckende medizinische Betreuung, breit gestreute Nahversorgung etc. – machte das Leben allüberall jeden Tag etwas lebenswerter. Kreisky selbst wurde in den Medien gerne mit dem Sonnenkönig verglichen, und ohne Frage kann man in der Rückschau sagen, in den 70er Jahren schien die Sonne zum einzigen Mal in der gesamten Geschichte Österreichs für alle.

II.

Diese – verhältnismäßig – linke Politik war möglich geworden, weil sich die herrschende Finanzoligarchie davor fürchtete, dass sie weit mehr verlieren könnte als nur ein paar Shares und Boni, denn das gesellschaftliche Pendel befand sich in jenen Jahren ganz links außen. Staaten wie Laos, Kambodscha und Vietnam in Asien, Angola, Äthiopien, Burkina Faso und Mosambik in Afrika, Nicaragua und Grenada in Amerika errichteten damals realsozialistische Gesellschaften, in Europa rangen Länder wie Portugal und Griechenland darum, politisch rot zu werden, in Italien war die Kommunistische Partei (PCI) stärkste politische Kraft geworden, und in Frankreich siegte die Volksfront aus Kommunisten und Sozialisten. Und die Länder des Warschauer Vertrags – von der Sowjetunion über die DDR und die CSSR bis zu Kuba und der Mongolei – behaupteten erfolgreich ihren Platz in der Weltwirtschaft. Wer also vor einem halben Jahrhundert reaktionär dachte, er musste leisetreten, denn der Wind der politischen Konjunktur blies ihm harsch ins Gesicht.

 III.

Doch zu Beginn der 80er Jahre begann sich dieser Wind zu drehen. Die Sowjetunion hatte sich mit ihrem Afghanistan-Abenteuer verzettelt, die katholische Reaktion destabilisierte die Volksrepublik Polen, und die Speerspitzen des postimperialistischen Spätkapitalismus, USA und Großbritannien, setzten – leider erfolgreich, wie sich zeigen sollte – darauf, die linke Staatenwelt durch maßlose Hochrüstung in den finanziellen Ruin zu treiben.

An dieser Stelle witterte die Reaktion auch in der BRD und in Österreich Morgenluft. Windige Skribenten der Finanzdiktatur ergingen sich in Hasspostings gegen vermeintliche „Gleichmacherei“ und „Leistungsfeindlichkeit“, postulierten dreist „mehr privat, weniger Staat“ und forderten vom Proletariat, endlich wieder in die Hände zu spucken, um das Bruttosozialprodukt (zu dem die Reichen natürlich schon damals rein gar nichts beitrugen) zu steigern.

Es ist historisch zweifelhaft, ob die Reaktion mit diesem Programm Erfolg gehabt hätte, wenn die Sozialdemokratie treu zu ihren Werten gestanden wäre und sich der grenzenlosen Gier einer verkommenen Schicht von Ausbeutern entschlossen entgegengestellt hätte. Doch die Nachfolger von Kreisky, Firnberg und Broda, sie ließen sich von der Wall Street kaufen und begannen, all die Errungenschaften, die in den Jahren zuvor gegen den Widerstand der Spekulanten erworben worden waren, zurückzunehmen.

IV.

Wir schreiben das Jahr 1987. Am Ballhausplatz sitzt kein linker Reformer mehr, sondern der Nadelstreifbanker Franz Vranitzky. Der hat den realen Kapitalismus von der Pike auf in sich aufgesogen. Im staatsnahen Bereich, wo man zu horrend hohen Gehältern Steuergelder als Casino-Chips verwenden kann, wird er groß und darf dank des gewendeten politischen Makroklimas jetzt darangehen, als Bundeskanzler das Volksvermögen wieder an die Reichen zu verteilen.

Dazu wird das Märchen erfunden, die Kreisky-Jahre hätten unmäßig hohe Schulden produziert, weshalb man das Budget jetzt sanieren müsse, damit Österreich wettbewerbsfähig bleibe. Österreich erhält sein erstes Sparpaket. Die Heiratsbeihilfe wird gänzlich gestrichen, die Kinderbeihilfe zusammengekürzt, Massensteuern und Abgaben drastisch erhöht, Sozialleistungen ebenso drastisch gekürzt, das Volk – und nur das Volk, nicht die Reichen und Privilegierten – musste massivste Belastungen erdulden, gegen die sich damals auch beachtlicher Protest regte. Die damalige Generation glaubte nämlich den Schalmeienklängen der Demokraten noch und meinte, Politik müsse im Interesse der Vielen und nicht der Wenigen gemacht werden. Doch Vranitzky, Exekutor der rechtsreaktionären Finanzdiktatur, zog seinen Raubzug gegen die Werktätigen eiskalt durch. Dass die SPÖ bei den Wahlen dafür dramatisch abgestraft wurde, war den Parteiapparatschiks dabei herzlich gleichgültig. Sie hatten ja ihre Schäfchen im Trockenen und verdienten sauber am Ausverkauf des Volkseigentums.

V.

Gut bestallte SPÖ-Profiteure in den Landtagen und Gemeinderäten, in den Parteizentralen und den sonstigen Privilegienstadeln feilten derweilen eifrig an der Erzählung, natürlich sei man nicht mit allen Maßnahmen einverstanden oder gar zufrieden, aber in einer Koalition – richtig, die SPÖ hatte sich schon damals freiwillig in die Geiselhaft der ÖVP begeben – müsse man eben Kompromisse schließen. Das politische Motto der Vranitzky- und Klima-SPÖ war dabei aus Asterix entlehnt: wir versenken uns selbst, dann ersparen wir uns wenigstens die Prügel. Womit sie nicht einmal Unrecht hatte, denn geprügelt wurde damals schon allein das Volk und nicht die Bonzokratie in der Löwelstraße.

Und die erwerbstätige Bevölkerung Österreichs hatte sich kaum von dem Schock des Jahres 1987 erholt, als dem Spätkapitalismus ein entscheidender Sieg gelang: 1989 implodierte das einzige Bollwerk gegen die grenzenlose Gier des skrupellosen Raubtierkapitalismus, die realsozialistische Staatenwelt, sodass die Wallstreet noch ungehinderter darangehen konnte, das Volk auszurauben. Vranitzky postulierte, Österreich müsse in die EU und sandte mit dem Vormann der österreichischen Reaktion Alois Mock den berüchtigten Brief nach Brüssel.

Damit freilich brachen endgültig alle Dämme, die das Volk noch sozial abgesichert hatte. Die Verstaatlichte Industrie, Prunkstück des heimischen Proletariats, wurde ohne Not zerschlagen und zum Ramschpreis an dubiose Kapitalisten verscherbelt, die zuallererst tausende Arbeitsplätze vernichteten, um dann die Produktionsstätten gänzlich ins Ausland zu verschieben. Ganze Regionen wurden von einen Tag auf den anderen bösartig verarmt. Wo einst unter Kreisky blühende Landschaften gewesen waren, regierten nun Industrieruinen, Not und Verwüstung. Die Arbeitslosen von Marienthal, ein erschütterndes Dokument über die menschenverachtenden Auswirkungen der gewissenlosen Politik der 30er Jahre, sie wurden dank Vranitzky und Klima wieder auf die Tagesordnung gesetzt. Österreich gab freiwillig seine Monopole auf und setzte auf schrankenlosen Manchesterliberalismus, was allerorten zu Massenarbeitslosigkeit, finanzieller Verelendung und allgemeiner Perspektivlosigkeit führte.

Denn natürlich – so die Fortschreibung des Märchens vom Sparzwang – hatte das Sparpaket 1987 nicht genügt. Man müsse weitere, tiefere Einschnitte ins Sozialsystem vornehmen, wolle man … blablabla, an dieser Stelle folgen die üblichen Lügen der Kapitalisten und ihrer Büttel. Das neue Sparpaket, 1995 ins Werk gesetzt, vernichtete neuerlich Volksvermögen und Arbeitsplätze, schränkte die Lebensbedingungen der arbeitenden Masse weiter ein und ermöglichte zeitgleich den Reichen, Superreiche zu werden. Mission accomplished.

VI.

Oder noch nicht. Wo man jemanden Hose und Jacke stehlen kann, gibt es immer noch das letzte Hemd, das man ihm auch noch wegnehmen kann. Nur vier Jahre nach dem zweiten Sparpaket, ging der neue Oberpriester der österreichischen Reaktion, Wolfgang Schüssel, aufs Ganze. Er führte den simplen Gimpel Viktor Klima am Nasenring durch die politische Arena und zwang diesen, freimütig zu bekennen, er werde noch viel mehr sparen, Sparpaket 3 sei unumgänglich. SPÖ und Gewerkschaft begaben sich wieder einmal unter die Leute und erklärten, sie seien natürlich nicht mit allen Maßnahmen einverstanden, aber alles, ja wirklich alles, sei besser als eine Regierungsbeteiligung der Haider-FPÖ.

Schüssel sah noch eine kleine Weile zu, wie sich die SPÖ öffentlich lächerlich machte, dann bildete er justament eine Koalition mit der Haider-FPÖ, proklamierte zynisch ein Programm namens „Speed kills“ und setzte Sparpaket 3 auf drastische Weise um. Diesmal wurden die Pensionsregelungen dramatisch verschärft, Unfallrenten massiv reduziert, Studiengebühren eingeführt, damit die Hietzinger Schnösel und ihre schlagenden Verbindungsbrüder aus den Reihen des Koalitionspartners endlich wieder in den Universitäten unter sich sein konnten, Schüssels Finanzminister Grasser verkündete dreist, ein guter Tag beginne mit einem sanierten Budget und postulierte ein Null-Defizit, das dadurch erreicht wurde, das bisschen Familiensilber, das nach drei Sparpaketen in Folge noch vorhanden war, auch noch zu verschenken. Damit wurden möglicherweise ein paar „Einmaleffekte“ erzielt, aber der ökonomische Einnahmenentgang ging naturgemäß ausschließlich zulasten der heimischen Volkswirtschaft.

Nach außen hin wurde einmal mehr das Märchen bemüht, man müsse die Staatsfinanzen sanieren, um für die Zukunft Handlungsspielräume zu schaffen. Wer in jenen Tagen Geld für Soziales, medizinische Betreuung oder kulturelle Aktivitäten brauchte, dem wurde mit einem Achselzucken beschieden, es sei leider kein Geld vorhanden.

Eine Lüge, die immer wieder als solche entlarvt wurde, wenn es darum ging, Bedürfnisse der Superreichen zu befriedigen. Da wurde erst um Unsummen ein Vertrag zum Erwerb von Abfangjägern abgeschlossen, der von der SPÖ entgegen ihrer Wahlversprechen nach ihrem Wiedereintritt in die Regierung aufrecht erhalten wurde, und als sich ein paar besonders vorwitzige Gambler auf den internationalen Finanzmärkten grob verzockt hatten, war die SPÖ prompt zur Stelle, um die damit in Verbindung stehende Hypo-Alpe-Adria-Bank mit astronomischen Unsummen aus Steuergeld zu „retten“, was einmal mehr zeigte, dass sehr genügend Geld vorhanden war (und ist) – nur halt nicht für die breite Masse.

VII.

Drei Jahrzehnte lang gerierten sich die Grünen als die Saubermann-Partei, die Filz, Korruption und Freunderlwirtschaft den entschlossenen Kampf angesagt hatte. Doch kaum an der Macht (natürlich gemeinsam mit der ÖVP, ohne die es in Österreich scheinbar keine Regierung mehr geben darf), produzierten die Grünen, so der aktuelle Narrativ, das größte Budgetdefizit in der Geschichte des Landes. So groß war auf einmal der finanzielle Schaden, dass sich sogar Brüssel zum Einschreiten gezwungen sah. Also brauchte es das – je nach Zählart – vierte oder fünfte „Sparpaket“, um „zu sanieren, Handlungsspielräume für zukünftige Investitionen … blablabla, da capo al fine. Dieses neue Sparpaket erwies sich als derart giftig, dass sogar die FPÖ die Finger davon ließ, wissend, dass die Blauen, sollten sie diesen Wahnsinn mittragen, niemand mehr wählen würde – wie es ja schon beim Sparpaket anno 2000 der Fall gewesen war.

Derlei strategisches Denken ist der aktuellen Apparatschik-Clique der SPÖ völlig fremd. Hauptsache, man kommt wenigstens kurzfristig an die Futtertröge, kann sich „Vizekanzler“, „Ministerin“ oder wenigstens ORF-Stiftungsrat nennen und dabei eine Zeitlang kräftig abcashen. Die eigene Kohle wird flugs in Sicherheit gebracht, wie es dem Volk dabei geht, ist einem Sozialdemokraten von echtem Schrot und Korn dabei rechtschaffen gleichgültig. Dieser Typus Funktionär greift einfach in die Mottenkiste alter Lügen und erzählt ein weiteres Mal, er sei nicht mit allem einverstanden, aber …!

Am Höhepunkt des „sozialdemokratischen Jahrzehnts“ hatte es Kreiskys Freund Willy Brandt auf den Punkt gebracht: „Aufgabe der Politik ist es, das Leben der Menschen jeden Tag etwas leichter zu machen. Vermag sie das nicht, dann soll sie sich zum Teufel scheren.“ Genau an diesem Punkt sind wir jetzt. Wir können uns nicht länger nur die Reichen nicht mehr leisten, wir können uns dieses ganze System nicht länger leisten.


Titelbild: Myriams-Fotos/Pixabay

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