Der europäische Koran
Der Rolle des Korans, der Heiligen Schrift des Islam, in der europäischen Ideengeschichte widmet sich eine Sonderausstellung im Mezzanin des Weltmuseum Wien. Sie veranschaulicht die unterschiedliche Wahrnehmung des Korans und seine verschiedenen Verwendungsweisen in der religiösen und intellektuellen Landschaft Europas. Dabei stehen die unterschiedlichen Übersetzungs- und Lesarten wie auch Interpretationen des Korans in Europa seit dem Mittelalter im Fokus.
Von Melanie Sindelar (Zeitschrift INTERNATIONAL, Heft III/2025)
Auch Goethe war vom Koran begeistert: Vor über 200 Jahren verfasste er eines seiner bekanntesten Werke, den West-Östlichen Divan: „Närrisch, daß jeder in seinem Fall. Seine besondere Meinung preist! Wenn Islam ‚Gott ergeben‘ heißt, in Islam leben und sterben wir alle“, schrieb der deutsche Dichter 1819 in Hikmet Nameh. Er bringt darin eine Offenheit und Faszination gegenüber dem Islam zum Ausdruck, die heutzutage bei vielen Schriftstellern in Europa wohl seinesgleichen sucht.
In der umfangreichen Gedichtsammlung West-Östlicher Divan bemüht sich Goethe, inspiriert vom persischen Dichter Hafis, eine kulturelle und intellektuelle Brücke zum Islam zu schlagen.
Für Goethe war der Koran nicht nur ein religiöses Schriftwerk, sondern vor allem ein Text sprachlicher Erhabenheit.
Umso auffälliger daher, dass seine intensive Auseinandersetzung mit dem Koran in der Ausstellung Der Europäische Koran im Weltmuseum Wien kaum eine Rolle spielt. Zwar taucht Goethe auf einer eigens angefertigten Auftragsarbeit auf und ziert das Titelbild des Katalogs sowie mehrere Werbesujets, doch bleibt er inhaltlich weitgehend eine Randnotiz. Das Gedicht Mahomets Gesang von 1772/73 erscheint lediglich in einer kleinformatigen Kopie in Frakturschrift. Sein Versuch, die Sure 114 in arabischer Kalligrafie nachzuahmen, bleibt leider unkontextualisiert. Der nicht im Koran versierte Besucher erfährt weder, wie die Sure lautet, noch, wie sich interpretiert werden kann und was Goethe dazu bewog, sie nachzuahmen.
Musealisierung der Forschung
Der begleitende Einführungstext im ersten Raum legt nahe, dass der Koran Teil europäischer Geschichte sei und als solcher auch verstanden werden müsse.
Was den Koran konkret „europäisch“ macht, bleibt unbeantwortet. Vielleicht noch drängender stellt sich die Frage, ob ein solcher Ausstellungstitel es schafft, Muslime in Österreich anzusprechen.
Denn in der islamischen Glaubensdoktrin gilt die Rede des einen, unabänderlichen Korans, den Gott dem Propheten Mohammed offenbart hat. Übersetzungen des Korans gelten bestenfalls als Interpretationshilfen, deren theologische Gültigkeit je nach islamischer Rechtsschule unterschiedlich eingeschätzt wird. Somit suggeriert der Titel eine okzidentale Aneignung, wenn nicht gar eine subtil-anmaßende Umdeutung.
Die Ausstellung Der Europäische Koran ist in den Sonderausstellungsräumen im ersten Obergeschoß des Weltmuseums am Wiener Heldenplatz untergebracht. Es handelt sich hierbei um das Ergebnis eines vom European Research Council finanzierten Forschungsprojekts namens „The European Qur’an – Islamic Scripture in European Religion and Culture, 1150–1850“. Ein spannendes und gewagtes Unterfangen: Die Darstellung eines geisteswissenschaftlichen Grundlagenprojekts im Museum. Dies ist Segen und Fluch zugleich: Die Ausstellung möchte Forschungsergebnisse an ein breiteres Publikum herantragen, bleibt aber in ihrer Umsetzung trocken und verkopft. Die Vermittlung scheitert teilweise daran, dass fast ausschließlich europäische Wissenschaftler in Videoaufnahmen zu Wort kommen, während die Stimmen aus Österreich oder dem deutschsprachigen Raum gänzlich fehlen. Auch werden neben den Bildschirmen nicht die Forschungsbiografien erklärt, was Besucher fragend zurücklässt, wer die Person am Bildschirm nun eigentlich sei. Das Fehlen islamischer Rechtsgelehrter oder Theologen ist ein verpasstes Potenzial.
Dort, wo die Ausstellung den Sprung in die Gegenwart wagt, bleibt sie überraschend vage. Vieles bleibt offen, was einerseits als Deutungsfreiheit gedacht sein mag, andererseits aber zu Fehlinterpretationen einlädt. So beschreibt die in Wien erscheinende Tageszeitung Der Standard am 26. September 2024 die Koranrezitatorin Medina Javed als „selbstbestimmte Frau“ mit einer „religiösen Poesie ohne Hass“ und reproduziert damit genau jenes stereotype Bild der unterdrückten muslimischen Frau, das in solchen musealen Ausstellungskontexten eigentlich dekonstruiert gehört. Ein Exponat der Ausstellung hätte dazu dienen können, genau dies zu tun. In der Ausstellung findet sich eine Fotografie eines Albums der indonesischen Koranrezitatorin Saida Ahmad aus den 1960er-Jahren. Doch die Rolle von Koranrezitationen in muslimischen Alltagskulturen, gerade auch die Bedeutung weiblicher Stimmen, wird verschwiegen.
Interessante Exponate, fehlende Einbettung
Mit dem Aufkommen der Massenmedien verbreiteten sich Koranrezitationen über Radio, Schallplatten und Audiokassetten. Es ist ein Phänomen, dem sich Anthropologen wie Charles Hirschkind oder Saba Mahmood gewidmet haben. Mahmood erforschte, wie Frauen in Kairoer Moscheen den Koran aktiv und gemeinschaftlich studieren – nicht als passive Empfänger religiöser Doktrinen, sondern als aktive Subjekte, die ihre Frömmigkeit selbstbestimmt kultivieren und im Kontext gelebter Urbanität adaptieren. Auch Talal Asads Konzept des Islam als diskursive Tradition hätte hier einen sinnvollen, kontextualisierenden Beitrag leisten können. Gerade in einer Ausstellung, die wissenschaftlich fundiert Forschungsergebnisse aufbereiten möchte, sollte dieser Reichtum an anthropologischen Perspektiven produktiv eingebunden und damit ein differenzierteres Verständnis vom Koran als gelebter Schrift und vom Islam als partizipative, sich wandelnde Praxis aufgezeigt werden.
Diese fehlende Kontextualisierung zieht sich vor allem durch die zeitgenössischen Perspektiven der Ausstellung. Die Auswahl der Exponate ist interessant, ihre Einbettung jedoch oft unklar: Die historische Fotografie betender senegalesischer Soldaten aus dem Tirailleurs sénégalais-Korps oder ein Brief eines Urdu-sprechenden muslimischen Soldaten in Indien von 1915, der sich sehnlichst einen Koran an die Front wünscht, werden nicht in den Kontext der Ausstellung eingebunden – so faszinierend sie auch sind. Im schlimmsten Fall evoziert die fehlende Kontextualisierung unbeabsichtigt eine Assoziation von Religion und Militarismus, ohne kritische Rahmung oder weiterführende Erklärung.
Auch koloniale Zusammenhänge werden nur gestreift: Ein 1799 erbeuteter Koran mit Widmung an König George III. ist ebenfalls in der Ausstellung vertreten, doch die Geschichte seines ursprünglichen Besitzers, Tipu Sultan, wird nicht erzählt. Dabei hätte dessen Widerstand gegen die britische Expansion in Indien die Ausstellung mit dringend nötiger historischer Tiefe bereichern können. Ohne inhaltliche Einbettung verbleiben die Exponate seltsam lose und wirkungslos.
Am Ende bleibt Der Europäische Koran eine Ausstellung für ein eng ausgewähltes Publikum mit spezifischem Vorwissen und einem starken Interesse an der Genese europäischer Koranübersetzungen. Die Erwartungen, die durch die aufwendig gestaltete visuelle Aufmachung geweckt werden, können inhaltlich nicht eingelöst werden. So entstanden mehrere großformatige Auftragsarbeiten, darunter God is Perfect von Marwan Shahin (2024), welche ein Goethe-Porträt mit 3D-gedruckter UV-Tinte auf Aluminium zeigt. Ästhetisch äußerst ansprechend, bleibt der inhaltliche Mehrwert unklar.
Ein didaktisch äußerst gelungenes Element ist die interaktive Landkarte im zweiten Saal, die geografische Verbindungen und Entstehungsorte historischer Koranübersetzungen visualisiert.
Auch einzelne Objekte, wie eine Gebetslampe, setzen visuelle Akzente. Trotz allem bietet die Ausstellung für historisch Interessierte und im Islam bereits versierte Besucher einen vertieften Einblick in die Geschichte europäischer Koranübersetzungen und ist einen Besuch wert, zumal die Ausstellung bereits am 24. August 2025 endet.
Die Ausstellung „Der europäische Koran“ läuft noch bis zum 24. August 2025 im Weltmuseum Wien, Heldenplatz. Nähere Informationen: www.weltmuseumwien.at
Melanie Sindelar ist Assistenzprofessorin für Kunstanthropologie an der Karls-Universität in Prag. Zuletzt erschien von ihr „Moderne und zeitgenössische Kunst“ im Handbuch „Die Arabische Halbinsel“ (Berlin: Springer, 2025).
Titelbild: İbrahim Mücahit Yıldız from Pixabay

