Aufstieg und Fall der Linken in Israel
Jahrzehntelang dominierten Sozialdemokraten und Kommunisten die politische Landschaft Israels. Ihr Niedergang hängt nicht nur mit politischen Fehlern, sondern auch mit dem markanten Bevölkerungswachstum zusammen.
Eine Rückschau von Andreas Pittler
Jetzt auch als Podcast (Audio-Zusammenfassung):
I.
Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts sah allerorten einen rasanten Aufstieg der organisierten Arbeiterbewegung. So auch unter der jüdischen Bevölkerung, deren Linke sich anfänglich um den „Bund“ gruppierte. Dieser war 1897 – ein Jahr vor der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands – als „algemeyner yidisher arbeter-bund in lite, poyln un rusland“ (allgemeiner jüdischer Arbeiterbund in Litauen, Polen und Russland) gegründet worden. Die Partei verstand sich als „sozialistisch“ und fühlte sich der „Zweiten Internationale“ verbunden. Allerdings setzte der Bund von Anfang an einen überaus starken Schwerpunkt auf die Frage der nationalen Gleichberechtigung der Juden innerhalb des Zarenreichs. Konkret wollten die Bundisten die Juden als anerkannte nationale Minderheit in Russland sehen, wobei dies, so der Bund, nur im Rahmen einer sozialistisch organisierten Gesellschaft möglich sei. Dementsprechend verstanden sich die Bundisten als antiklerikale Marxisten, die Herzls Ideen vom Zionismus als reaktionär-nationalistisch verwarfen. Sie wandten sich gegen die rückwärts gewandte „Stetl-Natur“ der ultrakonservativen Juden und propagierten eine aufgeklärt-moderne Organisation des jüdischen Volkes auf der Basis der jiddischen Sprache, welche die Bundisten als bewussten Gegensatz zum von ihnen als elitär empfundenen Hebräisch wahrnahmen. 1903 spielten die Bundisten übrigens indirekt eine entscheidende Rolle in der Geschichte der russischen Arbeiterbewegung, als ihre Delegierten wegen grundlegender Meinungsverschiedenheiten in der Nationalen Frage den II. Parteitag der SDAPR verließen, was eine markante Schwächung des gemäßigten Flügels um Julij Martow bedeutete, dessen Gruppe dadurch in die Minderheit geriet. Die revolutionäre Strömung um W.I. Lenin erlangte so am Parteitag die Mehrheit und konnte sich nun mit Recht „Bolschewiki“ (Mehrheitler) nennen. Und hatte der Bund um 1905 allein im Zarenreich 33.000 Mitglieder, so griff seine Organisation bald auch in die übrige jüdische Diaspora aus. In den USA und in Kanada entstand der „Jewish Socialist Labour Bund“, und schließlich gelangte die Organisation im Rahmen des „International Jewish Labor Bund“ nach dem Ersten Weltkrieg auch nach Palästina.
Dort war bereits eine zionistische Linke hochaktiv, die sich 1901 als „Poale Zion“ (Arbeiter Zions) vom „Bund“ abgespalten hatte. Zwar vertraten auch die Aktivisten von PZ sozialistische Theorien, doch stuften sie die Sammlung aller Juden in der Heimat der Vorväter als prioritär gegenüber allen anderen Fragen ein. Sie folgten damit den Ideen Theodor Herzls und siedelten, wann immer es ihnen möglich war, in das Gebiet des heutigen Israel über. Dort gründeten sie einerseits die ersten Kibbuzim (Einzahl „Kibbuz“), wo Landwirtschaft auf der Grundlage von kollektiven Besitz und basisdemokratischen Strukturen betrieben wurde. Und um sich vor antisemitischen Übergriffen zu schützen, gründete PZ auch die „HaSchomer“, eine militärische Organisation vergleichbar dem „Republikanischen Schutzbund“, deren Mitglieder sich später der Hagana, der militärischen Widerstandsorganisation gegen die britische Besatzung des Landes anschlossen.
Unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg wurde allerdings auch die Linke im Nahen Osten vom ideologischen Gegensatz zwischen Reform und Revolution ergriffen. Der moderate Teil verabschiedete sich von marxistischen Positionen und gründete 1919 die Partei „Einigung der Arbeit“ (Avoda), deren prominentester Anführer alsbald David Ben Gurion wurde. Auf der anderen Seite gründete sich die „Kommunistische Partei Palästinas“, die ungeachtet ihres Namens ebenfalls eine rein jüdisch organisierte Partei war und alsbald unter der Führung von Leopold Trepper stand, der im Gegensatz zur alten Poale Zion und der Avoda als einer der ersten erkannte, dass im Nahen Osten die soziale Frage nur unter Überwindung des nationalen Gegensatzes gelöst werden konnte, weshalb sich die KPP ab 1924 vermehrt darum bemühte, auch Arabischsprechende in ihre Reihen zu bekommen. Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs konnte die KPP als einzige Partei in der Region von sich sagen, eine „inter-nationale“ Bewegung zu sein.
II.
Nach dem Zweiten Weltkrieg meinte die Weltöffentlichkeit, den Juden quasi als „Wiedergutmachung“ für den Holocaust, das Land ihrer Vorväter als Israel überlassen zu müssen. In „Palästina“ sollten, so die ursprüngliche Idee, zwei Staaten, ein jüdischer und ein arabischer, entstehen, ein Konzept, das auch die Sowjetunion guthieß, weshalb die KPP es ebenfalls befürwortete und sich in „Kommunistische Partei des Landes Israel“ (MAKI) umbenannte. Bereits vor dem offiziellen Kriegsende waren im britischen Mandatsgebiet Wahlen für eine provisorische parlamentarische Vertretung durchgeführt worden, an der sich knapp 200.000 Bewohner beteiligt hatten. Ben Gurions Arbeiterpartei erhielt dabei 36 Prozent der Stimmen, Poale Zion 12,4 Prozent und die Kommunisten zwei Prozent. Insgesamt hielt die Linke damit 88 von 173 Sitzen und sohin eine klare absolute Mehrheit.
Doch die arabische Staatenwelt verweigerte sich der Idee eines eigenen jüdischen Staates, weshalb es noch vor der formellen Ausrufung der Unabhängigkeit Israels zu einem ersten Krieg kam, dem bekanntlich zahlreiche weitere folgen sollten. Israel wehrte die Angriffe auf sein Gebiet erfolgreich ab und konnte in der Folge darangehen, sein eigenes Gemeinwesen aufzurichten. Teil der demokratischen Struktur Israels war dabei die Knesset, das israelische Parlament, welches, gemäß der jüdischen Tradition von den zwölf Stämmen Israels, 120 Mitglieder hat.
Bei den ersten Knesset-Wahlen im Jänner 1949 waren mittlerweile durch Zuwanderung 507.000 Menschen wahlberechtigt. 85 Prozent von ihnen machten von ihrem Recht auch Gebrauch. Ben Gurion triumphierte abermals und erzielte erneut 36 Prozent der Stimmen, Poale Zion, das sich nun „Mapam“ (Vereinigte Arbeiterpartei) nannte, kam auf knapp 15, die Kommunistische Partei auf knapp 4 Prozent der Stimmen. Insgesamt stellte die Linke 71 der 120 Sitze. Damit begann eine jahrzehntelange Dominanz der sozialdemokratischen Richtung, zumal Ben Gurions „Mapai“ und die „Mapam“ immer enger zusammenarbeiteten und auch mehrmals gemeinsam mit einer Liste kandidierten. So waren bei den zweiten Knesset-Wahlen 70 Vertreter der Linken ins Parlament gewählt worden – 45 Mapai, 15 Mapam, 10 Kommunisten -, wobei die Zahl der Wahlberechtigten bereits auf nahezu eine Million angewachsen war.
III.
Der Zuzug, vor allem von Menschen jüdischen Glaubens, hielt die folgenden Jahrzehnte ungebrochen an. Waren bei der Volkszählung 1950 1,4 Millionen Einwohner registriert worden, so waren es 20 Jahre später bereits 3 Millionen und 1990 insgesamt 4,8 Millionen. Seitdem freilich explodiert die Bevölkerungszahl des Landes förmlich. Und das mit nachvollziehbarem Grund. Durch den Zusammenbruch des „realen Sozialismus“ konnten die Juden der Sowjetunion, aber auch jene in den anderen ehedem kommunistischen Staaten, verhältnismäßig leicht emigrieren. Allein in den zehn Jahren bis zur Jahrtausendwende wuchs die Bevölkerung Israels von 4,8 auf 6,4 Millionen Menschen. 2010 waren es 7,7 Millionen, und 2019 überschritt die Bevölkerung die 9-Millionen-Marke. Laut israelischer Statistik lebten am 1. Jänner 2025 insgesamt 9,97 Millionen Menschen auf dem Gebiet des Staates Israel. Eine Verdoppelung der Bevölkerung innert einer einzigen Generation.
Diese demographische Revolution konnte natürlich nicht ohne Auswirkungen auf die politische Landschaft des Staates bleiben. Bis Ende der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts hatten die drei Arbeiterparteien immer über eine solide parlamentarische Mehrheit verfügt, und die Mapai stellte bis 1977 durchgehend die Regierung. Noch 1973 – zwischenzeitlich hatten sich Mapai und Mapam wieder einmal vereinigt – stellte die Arbeiterpartei 40 Prozent der Stimmen und 54 Mandate, die Kommunisten kamen auf 7 Sitze. Vier Jahre später allerdings errang die jüdische Reaktion erstmals in der Geschichte des Landes die Mehrheit. Und der Sieg fiel dramatisch aus. Während die israelische Rechte um den „Likud“ (der Partei Netanjahus) 33 Prozent erhielt, fiel die Arbeiterpartei um über 15 Prozent auf nunmehr 25. Der damalige Chef des Likud, Menachim Begin, schmiedete flugs eine Allianz mit radikalreligiösen Kräften und legte damit die Grundlage für ein Bündnis, das im Wesentlichen bis zum heutigen Tag besteht.
Von dieser Wahlniederlage sollte sich die Arbeiterpartei nicht mehr wirklich erholen. Zwar stellte sie mit Shimon Peres und – bis zu seiner Ermordung durch einen jüdischen Fanatiker – Yitzak Rabin zwei überaus prominente Persönlichkeiten in der israelischen Politik, aber ihr Niedergang setzte sich zu Beginn des neuen Jahrtausends gnadenlos fort. Hatte die Partei 1992 unter Rabin noch 44 von 120 Mandaten errungen, so waren es 2003 nur noch 18 und wiederum fünfzehn Jahre später gar nur noch deren sechs. Bei der bislang jüngsten Knesset-Wahl im Jahr 2022 reichte es gerade noch für vier von 120 Sitzen, und das mit einem Stimmenanteil von 3,7 Prozent.
Die Kommunisten wiederum hielten sich seit den 70er Jahren auf niedrigem Niveau und erzielten regelmäßig vier bis fünf Prozent der Stimmen, womit sie vier oder fünf Mandate erhielten. 2022 errangen sie dreitausend Stimmen mehr als die Arbeiterpartei, womit sie erstmals in der Geschichte Israels stärker waren als die Sozialdemokratie, was aber bei insgesamt neun von 120 Sitzen für beide Parteien wahrlich kein Grund zum Jubeln ist.
IV.
Die politische Landschaft Israels präsentierte sich zu Beginn unseres Jahrzehnts ungemein zerfasert und innerlich zerrissen. Dies hängt auch mit der massiven Einwanderung zusammen, da viele Migrantengruppen ihre eigene politische Repräsentanz formierten. Dementsprechend finden sich in der aktuellen Knesset nicht weniger als zehn Parteien, darunter eine palästinensische Liste und die beiden Arbeiterparteien. Die übrigen sieben repräsentieren die einzelnen Facetten der israelischen Bourgeoisie.
Da ist zum einen „Israel Beitenu“, eine 1999 von sowjetischen Emigranten gegründete Liste, die unter der Führung des berüchtigten Nationalisten Avigdor Lieberman steht, der bereits mehrmals mit umstrittenen Aussagen auf sich aufmerksam machte. Er war u.a. Verteidigungs-, Außen- und Finanzminister sowie immer wieder stellvertretender Premier. Lieberman fordert etwa einen Treueeid auf Israel, um weiterhin staatsbürgerliche Rechte ausüben zu dürfen. Zudem rief er dazu auf, alle Araber, die sich mit Vertretern der Hamas treffen würden, zu exekutieren, wobei er dabei auch gewählte Mandatare in diese Todesurteile einschloss. Naturgemäß vertritt Lieberman vor diesem Hintergrund die Ansicht, in Gaza gebe es keinen einzigen Unschuldigen, allesamt seien sie Unterstützer der Hamas und müssten deswegen geköpft werden: „We have to lift up an axe and remove their heads. Otherwise we won´t survive“. Dass die Partei sich augenblicklich in Opposition befindet, liegt weit weniger an einer mangelnden Unterstützung des politischen Kurses der gegenwärtigen Regierung als an persönlichen Animositäten zwischen Lieberman und Netanjahu, die beide die politische Landschaft der israelischen Rechten seit nunmehr fast drei Jahrzehnten prägen.
Die „Nationale Einheit“ des ehemaligen Generals Benny Gantz trug ursprünglich den Kurs Netanjahus in der Gaza-Frage mit, ist aber mittlerweile auf Distanz zur Regierung gegangen. Eine Sonderstellung nehmen die drei strikt-religiösen Parteien in der Knesset ein, die inhaltlich zwar klar auf der Seite Netanjahus stehen, die aber ein substantielles Problem damit haben, dass im Zuge der aktuellen kriegerischen Auseinandersetzungen die Privilegien der jüdischen Orthodoxie aufgehoben werden sollen. Genau deshalb traten sie jüngst auch aus Netanjahus Koalition aus, die damit in der Knesset eigentlich über keine Mehrheit mehr verfügt. Vor diesem Hintergrund ist fraglich, ob Netanjahus Kabinett die volle Legislaturperiode bis zum Herbst 2026 durchhalten wird.
V.
Dem neutralen Beobachter präsentiert sich die aktuelle politische Lage in Israel als der Kampf jeder gegen jeden. Die bürgerlichen Parteien zerfleischen sich in der Auseinandersetzung um Privilegien, Vormachtstellung und Pfründe, während sich in der Bevölkerung mehr und mehr Unmut breitmacht. Dies freilich nicht nur wegen des Kurses der Regierung, sondern auch wegen der verheerenden sozialen Folgen dieser Politik. Man sollte also meinen, dies wären besonders günstige Bedingungen für die Linke. Doch die findet nach wie vor nicht aus ihrem selbst verschuldeten politischen Ghetto heraus. Und das hat gleich mehrere Gründe.
Zum einen gelang es der Sozialdemokratie nach 1990 nie, die neuen Staatsbürger aus dem ehemaligen Einflussbereich des Kommunismus für linke Konzeptionen zu gewinnen. Vor allem sowjetische Juden waren nachgerade allergisch auf alles, was irgendwie nach Sozialismus klang, und der Arbeiterpartei fiel dazu nichts Besseres ein, als sich als die besseren Nationalisten zu präsentieren. Damit gewannen sie bei den Neubürgern nichts, verstörten aber große Teile ihrer ehemaligen Gefolgschaft, sodass die Partei mehr und mehr zur Sekte verkam. Auch in der aktuell überaus angespannten Lage scheut die Arbeiterpartei davor zurück, dem Kriegskurs des Bürgertums eine klare Botschaft für Frieden, Entspannung und sozialer Gerechtigkeit entgegenzuhalten. Solange also die Arbeiterpartei opportunistisch herumlaviert, wird sie von keiner Seite als wählbare Alternative wahrgenommen werden und darum umso sicherer untergehen, wie es auch schon ihrer Abspaltung „Meretz“ ergangen ist, die 2022 nicht einmal mehr den Sprung in die Knesset schaffte.
Die Kommunisten wiederum haben das Problem, dass sie in der israelischen Öffentlichkeit mehr und mehr als Partei der Araber wahrgenommen werden (tatsächlich sind alle Mandatare mit einer einzigen Ausnahme Angehörige des palästinensischen Volkes), sodass sie mittlerweile quasi den moderaten arabischen Nationalismus – im Gegensatz zu den mehr und mehr Zulauf habenden Islamisten – repräsentieren. So verständlich es auch ist, dass sich die Kommunisten vor allem der nationalen Frage widmen, solange es ihnen nicht gelingt, die soziale Frage wieder in den Vordergrund zu rücken, solange werden auch sie nur eine Nebenrolle spielen können.
Was die Linke in Israel also derzeit braucht, ist ein nahezu kompletter Neubeginn. Sie muss ihre Finger in die zahlreichen Wunden der gegenwärtigen Gesellschaft legen. Wohnen, Essen, Gesundheit, all diese Themenfelder zeichnen sich durch extreme Verteuerungen aus, dazu kommt ein berechtigtes Gefühl der Angst und der Unsicherheit angesichts des permanenten Kriegszustandes. Wenn es der Linken gelingt, die Bevölkerung hüben wie drüben davon zu überzeugen, dass nur ein friedliches Miteinander eine Stabilisierung der Gesellschaft und in weiterer Folge einen wirklichen Fortschritt hin zu Aufschwung und Wohlstand bedingt, dann sollte sie auch in diesen höchst unsicheren Seiten wieder zu einer Kraft werden können, die Israelis und Palästinensern einen Ausweg aus der verfahrenen Situation zeigt. Dazu freilich braucht es eine unmissverständlich klare Linie und den Mut, diese auch in aller Entschlossenheit zu vertreten. Dann nämlich könnten sich im Nahen Osten die Dinge sehr schnell sehr grundlegend ändern.
Titelbild: Abendrot in Galiläa im Norden Israels (Foto: Arvid Olson/Pixabay)

