Totaler oder fragmentierter Frieden?
Neun Jahre nach dem Friedensabkommen mit den FARC erlebt Kolumbien eine Vermehrung bewaffneter Akteure, eskalierende Gewalt in strategischen Regionen und das Phänomen, dass ausgerechnet unter der ersten progressiven Regierung des Landes die Friedensbemühungen ins Stocken geraten.
Von Elias Korte, Cali (Zeitschrift INTERNATIONAL, Heft III/2025)
Seit dem Friedensabkommen von 2016 hat sich die Anzahl bewaffneter Gruppen in Kolumbien erhöht. Wo einst die FARC als dominanter Akteur die Gewaltlandschaft strukturierten, konkurrieren heute mindestens vier Hauptgruppen um territoriale Kontrolle. Es ist ein Flickenteppich bewaffneter Macht entstanden, der jeden Versuch zentralisierter Friedensverhandlungen zur Sisyphusarbeit macht.
Das Nationale Befreiungsheer (ELN) illustriert die strukturellen Herausforderungen des neuen Konflikts. Mit über 6.000 Kämpfern in mehr als 200 Gemeinden präsent, verfügt die Organisation über eine föderalistische Struktur mit sieben autonomen Kriegsfronten. Diese dezentralisierte Machtverteilung, die einst militärische Überlebensstrategie war, erweist sich heute als Achillesferse für Friedensverhandlungen: Anders als bei den hierarchisch organisierten FARC kann keine Zentrale verbindliche Abkommen für alle Fronten schließen. Die politische Glaubwürdigkeit des ELN hat dabei erheblich gelitten, denn die sozialrevolutionäre Rhetorik wird zunehmend von ökonomischen Interessen überlagert. Drogenhandel, illegaler Bergbau und Erpressung finanzieren heute die Organisation, die sich einst als ideologische Alternative zu den FARC darstellte.
Der Estado Mayor Central (EMC), die größte Dissidentengruppe der ehemaligen FARC, steht für die Hybridisierung zeitgenössischer Gewaltakteure. Offiziell erst 2021 gegründet, versteht sich der EMC als Kontinuität der „verratenen Revolution“. Es ist eine Legitimationserzählung, die die fragmentierte Realität der Organisation kaschiert. Der EMC ist kein einheitlicher Block, sondern ein relativ loses Netzwerk regionaler Fronten mit unterschiedlichen Prioritäten: Während einige Kommandeure rhetorisch am linken, anti-imperialistischen Erbe festhalten, dominiert in der Praxis die Kontrolle über Kokaanbau, Drogenrouten und illegale Minen. Diese Heterogenität macht den EMC schwer fassbar und Verhandlungen mit ihm noch schwerer.
Die Segunda Marquetalia (SM), benannt nach dem historischen Ursprungsort der FARC, repräsentiert das symbolische Scheitern des Friedensprozesses. Unter Führung von Iván Márquez, einem der Hauptverhandler des ursprünglichen Abkommens, kehrte ein Teil der demobilisierten FARC-Führung 2019 zu den Waffen zurück. Ihre Begründung: fehlende Sicherheitsgarantien und die Weigerung der konservativen Duque-Regierung, das Friedensabkommen vollständig umzusetzen. Militärisch ist die SM heute die schwächste der FARC-Abspaltungen, symbolisch jedoch die bedeutsamste: Sie verkörpert das Narrativ des „gebrochenen Friedens“ und legitimiert damit indirekt andere Rückkehrer und zugleich die politische Rechte in ihrer Agitation gegen weitere Friedensabkommen.
Der Clan del Golfo (CdG), mit bis zu 14.000 Mitgliedern aktuell die mitgliederstärkste illegale Organisation, entstammt den rechten paramilitärischen Strukturen der 1990er-Jahre. Nach der offiziellen Demobilisierung der Autodefensas Unidas de Colombia (AUC) 2006 formierten sich Teile des einstigen Dachverbandes als „kriminelle Banden“ neu. Der CdG verkörpert die Entideologisierung bewaffneter Gewalt: Während die AUC sich noch als explizit antikommunistisch verstand, standen beim Golf-Clan von Beginn an ökonomische Interessen im Zentrum. Dennoch bestehen bis heute enge Verbindungen zu lokalen Eliten.
Totaler Frieden als fragmentierte Realität
Gustavo Petros Friedensstrategie erkennt die neue Komplexität der Gewaltlandschaft konzeptionell an: Statt bilateraler Verhandlungen mit politisch motivierten Guerillas sieht sie einen multilateralen Dialog mit Guerillas, Dissidenten, Paramilitär-Nachfolgern und urbanen Banden vor. Diese „Polyphonie des Friedens“ reflektiert die fragmentierte Realität und stellt einen konzeptionellen Fortschritt gegenüber früheren, zentralstaatsorientierten Ansätzen dar.
Die bisherige Bilanz ist jedoch ernüchternd: Die Verhandlungen mit dem ELN sind seit Januar 2025 ausgesetzt. Die Abspaltung Comuneros del Sur führt jedoch separate Gespräche. Der EMC ist in zwei Hauptfraktionen gespalten: Eine hat sich aus den Gesprächen zurückgezogen und intensiviert ihre militärischen Aktivitäten, die andere vereinbarte im Mai 2025 eine Entwaffnungszone für 500 Kämpfer. Auch die SM zerfiel: Eine Abspaltung namens Coordinadora Nacional Ejercito Bolivariano verhandelt seit Februar 2025 separat über „territoriale Transformationen“. Die Gespräche mit dem CdG stocken seit Dezember 2024.
Diese Fragmentierung offenbart ein strukturelles Dilemma: Die Unterscheidung zwischen „politischen“ und „kriminellen“ Akteuren ist unscharf geworden, was die rechtliche Grundlage von Verhandlungen angreifbar macht. Gleichzeitig fehlt institutionelle Abstimmung, denn Sicherheitskräfte, Verwaltung und Friedensbeauftragte arbeiten oft aneinander vorbei.
Die Region Catatumbo an der Grenze zu Venezuela illustriert die regionalen Dynamiken des fragmentierten Konflikts.
In der Region mit 300.000 Einwohnern, von denen über 70 Prozent unterhalb der Armutsgrenze leben, konkurrieren vier bewaffnete Akteure um die Kontrolle über 41.000 Hektar Kokaanbauflächen. Seit Anfang 2025 wurden über 65.000 Menschen vertrieben.
ELN agiert teilweise von venezolanischem Territorium aus, was die Bekämpfung durch die Streitkräfte erschwert. Die binationale Dimension des Konflikts verkompliziert Verhandlungen zusätzlich.
Das Departamento Cauca im Südwesten verdeutlicht, wie sich Gewalt gegen ein Territorium richten kann. Mit 1,5 Millionen Einwohnern, davon 50 Prozent indigener oder afrokolumbianischer Herkunft, ist Cauca Schauplatz territorialer ökonomischer Auseinandersetzungen zwischen bewaffneten Gruppen, aber auch zwischen ökonomischen Interessen und sozialen Bewegungen. 2023 verzeichnete die Region über 50 Massaker, fast 100 Morde an zivilgesellschaftlichen Führungspersonen und zahlreiche Anschläge auf indigene Autoritäten. Neben dem Kokaanbau geht es um Goldminen, Mauteinnahmen und strategische Drogenkorridore zum Pazifik.
Die Transformation des Konflikts
Nach dem Friedensabkommen 2016 galt das Narrativ eines „Postkonflikts“ als gesetzt, was eine unzutreffende Bezeichnung ist. Zum einen bestanden weitere bewaffnete Gruppen fort, zum anderen blieben die strukturellen Konfliktursachen ungelöst. Kolumbien erlebt keinen „postkonfliktiven“ Übergang, sondern eine Konflikttransformation von ideologisch zu ökonomisch motiviert, von bipolar zu multipolar und von vertikal – Staat versus Aufständische – zu horizontal: Die meisten Gefechte finden heute zwischen den bewaffneten Gruppen selbst statt. Für die Zivilbevölkerung ist es weniger entscheidend, wer der lokale Gewaltmonopolist ist, sondern ob ihr Territorium umkämpft ist.
Diese Neukonfiguration hat mehrere Ursachen: Nach dem Abzug der FARC aus ihren Hegemonialgebieten entstand ein Machtvakuum, das nicht vom Staat gefüllt wurde, was angesichts jahrzehntelanger staatlicher Abwesenheit kaum anders zu erwarten war. Die mangelhafte Umsetzung des Friedensabkommens unter der konservativen Duque-Regierung von 2018 bis 2022 verstärkte die Frustration in den betroffenen Regionen. Vor allem aber macht die Ökonomisierung des Konflikts bewaffnete Teilnahme attraktiver als staatliche, zivile Entwicklungsprogramme: Drogenhandel, illegaler Bergbau und Erpressung versprechen kurzfristig relativ leicht verdientes Geld.
Das ursprüngliche Friedensabkommen von 2016 ist bis heute ein unvollendetes Versprechen. Unter Duque war die Umsetzung politisch blockiert. Er unterfinanzierte zentrale Komponenten wie den Landfonds gezielt und schwächte die Übergangsjustiz durch institutionelle Angriffe. Petro machte den Friedensprozess zur Chefsache, doch die Fortschritte bleiben überschaubar: Die Regierung kaufte und verteilte mit 200.000 Hektar bereits zehn Mal mehr Land als ihre Vorgängerin in ihrer gesamten Amtszeit. Dies steht jedoch in einem ernüchternden Verhältnis zu den zugesicherten drei Millionen Hektar.
Gleichzeitig nähert sich der Friedensprozess kritischen Wendepunkten: Die Sonderjustiz erreicht das Ende ihrer Mandatszeit, ohne alle Opfergruppen gehört zu haben. Die garantierte politische Repräsentation der ehemaligen FARC im Kongress endet mit der laufenden Legislaturperiode. Gleichzeitig laufen internationale Unterstützungsprogramme aus.
Die Zersplitterung der Ex-FARC zeigt das Scheitern eines kollektiven politischen Übergangs: Neben denjenigen, die in der politischen Partei aktiv blieben, und jenen, die zu den Waffen zurückkehrten, existiert eine dritte Strömung, die weder am „kollektiven Prozess“ festhält noch zur Gewalt zurückkehrt. Diese Fragmentierung spiegelt die Distanz zwischen einer in der Hauptstadt mit viel Komfort und Sicherheit lebenden Führung und der enttäuschten Basis in ländlichen Regionen wider.
Die Grenzen des Machbaren
Der „Totale Frieden“ offenbart nicht nur die Grenzen des politisch Machbaren, sondern auch ein strukturelles Dilemma kolumbianischer Staatlichkeit: Friedensverhandlungen ohne gleichzeitigen Ausbau legitimer, effektiver Institutionen drohen, Gewalt lediglich neu zu organisieren, statt sie zu überwinden. In einem Land mit 52 Millionen Einwohnern auf einer Fläche dreimal so groß wie Deutschland war die Herausforderung staatlicher Integration schon immer gigantisch.
Der kolumbianische Staat überlässt große Teile seines Territoriums traditionell anderen Gewaltmonopolisten. Diese Realität kannten die Menschen in den FARC-Gebieten sehr gut, weshalb sie 2016 teilweise gegen den Abzug der Guerilla stimmten: Sie sahen in ihr einen Faktor lokaler Ordnung.
Die heutigen bewaffneten Akteure haben sich von klassischen Guerillaorganisationen zu hybriden Gewaltökonomien entwickelt, die sich unterhalb der nationalen Öffentlichkeit entfalten. Eine Lösung erfordert mehr als Waffenstillstandsgespräche: Landreform, Drogenpolitik, ländliche Staatlichkeit und Schutz von Aktivisten. Solange diese strukturellen Herausforderungen ungelöst bleiben, wird jeder Friedensprozess zur Symptombekämpfung.
Die bittere Ironie liegt darin, dass ausgerechnet unter der ersten progressiven Regierung des Landes, die den Frieden zur Staatsdoktrin erklärte, die Gewalt in strategischen Regionen wieder zunimmt.
Dies liegt nicht primär an Petros Politik, sondern an der Logik fragmentierter Konflikte: Je mehr Akteure um dieselben Territorien und Ressourcen konkurrieren, desto instabiler wird die Gesamtlage. Außerdem steigt die Gewalt während Friedensverhandlungen häufig, weil bewaffnete Akteure beabsichtigen, den Preis für Zugeständnisse in die Höhe zu treiben.
Der „Totale Frieden“ war von Beginn an zweierlei: Notwendig, weil die Komplexität der Gewaltlandschaft einen umfassenden Ansatz erforderte. Und eine Illusion, weil totaler Frieden in fragmentierten Konflikten quasi unerreichbar ist. Was bleibt, ist die mühsame Arbeit kleinteiliger Schritte Richtung Frieden. Die Beständigkeit des Konflikts lässt sich vor allem durch die kontinuierliche Finanzierung bewaffneter Akteure über internationale Drogengelder erklären. Dies ist ein struktureller Faktor, der national nicht lösbar ist. Kolumbiens Frieden wird nicht am Verhandlungstisch entstehen, sondern durch eine nachhaltige Verbesserung der materiellen Lebensgrundlagen in der Peripherie des Landes.
Elias Korte ist Sozialwissenschaftler und lebt als Korrespondent in Kolumbien.
Titelbild: Kolumbiens Präsident Gustavo Petro. Foto: Gustavo Petro Urrego via flickr / CC BY-NC 2.0

