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Humanitäre Katastrophe im Sudan

Zwei Jahre nach Kriegsbeginn offenbart die eskalierende Gewalt die tiefen strukturellen Widersprüche des postkolonialen sudanesischen Staates – und wird angetrieben durch externe Faktoren, allen voran die Vereinigten Arabischen Emirate.

 Von Mariam Wagialla (Zeitschrift INTERNATIONAL, Heft III/2025)

Der Kriegsausbruch zwischen den sudanesischen Streitkräften (SAF) und den Rapid Support Forces (RSF) in Khartum offenbarte die tiefen sozioräumlichen Spaltungen der Stadt. Während wohlhabendere Bewohner zentraler Stadtviertel frühzeitig fliehen konnten, blieben marginalisierte Gruppen, besonders Binnenvertriebene am Stadtrand, schutzlos zurück. Ihre Resilienz half ihnen, die massive Belastung zu überstehen, doch ihre Lage zeigt die sozialen Ungleichheiten deutlich auf. In Khartum entscheidet der Wohnort über Überlebenschancen.

Der Zusammenbruch staatlicher Institutionen und die Öffnung von Gefängnissen führten zu Chaos in der Hauptstadt des Sudan. In diesem Machtvakuum verübten bewaffnete Banden, wie die Milizen Tisaa Tawila und Shafshafa, Plünderungen und Gewalt. Der Konflikt forderte Tausende Todesopfer, hinterließ verweste Leichen auf den Straßen und vertrieb Millionen. Hunderte Fälle sexueller Gewalt wurden dokumentiert, das tatsächliche Ausmaß dürfte jedoch viel größer sein. Zeugenaussagen berichten von Zwangsvertreibungen, Erpressungen und willkürlichen Verhaftungen von Zivilisten, denen Kollaboration vorgeworfen wird.

Seit über zwei Jahren leben Khartums verbliebene Einwohner unter Belagerung. Versorgungsketten sind zusammengebrochen, lebenswichtige Güter wie Nahrung und Medikamente kaum zugänglich. Ohne staatliche Hilfe stützen sich viele auf Takiyas – gemeinschaftliche Küchen, betrieben von Notfallkomitees aus den revolutionären Jugendwiderstandskomitees. Diese über Spenden der Diaspora finanzierten Netzwerke leisten unter extremen Bedingungen Hilfe. Während die von den Vereinigten Arabischen Emiraten unterstützten RSF-Milizen große Teile der Stadt kontrollierten, waren Bewegungen gefährlich und genehmigungspflichtig.

Mit der Ausweitung des Krieges verschärfte sich die Vertreibungskrise. Frauen leiden besonders unter Flucht, Gewalt und Naturkatastrophen. Am 29. August 2024 konfrontierte eine Vertriebene Frau Al-Burhan, den Chef der RSF-Miliz, im überfluteten Dorf Qozhendi: „Wir sind erschöpft, Burhan. Nein zum Krieg. Wir leben auf der Straße, seit einem Jahr vertrieben – ohne zuhause. Der Krieg hat uns zerstört“, wird sie im Sudan Conflict Monitor Report zitiert.

Einige Flüchtlinge erhielten Unterstützung durch im Ausland lebende Verwandte, viele jedoch mussten unter extremen Bedingungen ausharren – manche kehrten trotz anhaltender Gefahr zurück. Die Krise verdeutlicht die mehrfachen Belastungen, denen vertriebene Gemeinschaften gleichzeitig ausgesetzt sind.

Die Rückkehr nach Khartum

Ende 2024 startete die sudanesische Armee eine Gegenoffensive zur Rückeroberung verlorener Gebiete. Nach Erfolgen in Gezira, Sennar und dem Weißen Nil drangen sie in Khartum vor, während sich die RSF nach Omdurman zurückzogen. Im Laufe des Frühjahrs 2025 wurde die Stadt zurückerobert. Während Vertriebene aus dem Zentrum Khartums auf Rückkehr hofften, herrschten in den Stadtrandgebieten weiterhin Gewalt und Unterdrückung. Islamistische Milizen, insbesondere das Al-Bara’a Bin Malik-Bataillon, verübten schwere Menschenrechtsverletzungen, darunter Folter und Hinrichtungen, oft unter dem Vorwurf der RSF-Kollaboration, berichtete die Sudanese Tribune.

Seit der sudanesischen Unabhängigkeit erlebt das Land durch autoritäre Herrschaft und erzwungene Arabisierung/Islamisierung verschärfte Spannungen zwischen Zentrum und Peripherie. Khartum, eine koloniale Gründung, ist ein zentralisiertes, exklusives Machtzentrum. Wiederholte Vertreibungen durch Kriege und Naturkatastrophen verfestigten soziale und räumliche Ungleichheiten, sodass die Stadt zum Spiegel der fragmentierten Staatsstruktur wurde. Der Wandel Khartums vom Symbol nationaler Einheit zum Schauplatz brutaler Konflikte offenbart ein Paradox: Die Hauptstadt ist nun Bühne eines Ringens um Legitimität. Da die SAF zentralstaatliche Kontinuitäten repräsentieren, drangen die RSF-Milizen – ursprünglich Nomadenmilizen – in das Machtzentrum ein, und so symbolisieren die Kämpfe um Khartum einen direkten Kampf zwischen dem Zentrum und der Peripherie um die Staatsgewalt.

Der sudanesische Konflikt zeigt ethnisch-regionale Spaltungen und eine Krise des Staatsgefüges. Khartum, das eigentlich ein Symbol der nationalen Einheit sein sollte, wurde zum Schauplatz eines Machtkampfes mit katastrophalen Folgen für das städtische und soziale Gefüge.

Der Krieg ist Ausdruck einer tiefen strukturellen Krise postkolonialer Staatlichkeit, geprägt von Zwang, Ausgrenzung und ideologischer Legitimation.

Eine nachhaltige Lösung erfordert politische Reformen sowie die kritische Reflexion der zugrunde liegenden Institutionen und Denkmuster.

Vom kolonialen Erbe zur Staatskrise

Seit 1956 behielten Sudans Eliten ein zentralisiertes Staatsmodell bei, das aus der Kolonialzeit stammte. Föderale Forderungen aus dem Süden sowie Autonomiebestrebungen anderer Regionen wurden unterdrückt, wodurch Khartums Macht gefestigt wurde. Militärputsche verstärkten die autoritären Strukturen und vertieften Ungleichheiten zwischen Zentrum und Peripherie. Diese Spannungen führten 2011 zur Abspaltung des Südsudans und später zu gewaltsamen Konflikten. Trotz revolutionärer Bewegungen in den Jahren 1964, 1985 und 2019 gelang es der politischen Führung nicht, ein demokratisches, inklusives und rechtsstaatliches System zu etablieren.

Die Revolution von 2018 stürzte al-Bashirs Regierung und brachte die Koalition „Kräfte der Freiheit und des Wandels“ hervor, die einen föderalen, demokratischen Staat anstrebte. Doch interne Konflikte und eine fehlende strategische Vision behinderten den Wandel. Die im Verfassungsdokument von 2019 verankerte, fragile Machtteilung mit dem Militär zerbrach durch den Putsch von 2021. Die zunehmenden Spannungen zwischen SAF, RSF-Miliz und Unterzeichnern des Juba-Abkommens, einem Friedensvertrag, der am 3. Oktober 2020 in Juba im Südsudan unterzeichnet wurde, verwandelten Khartum in ein Zentrum bewaffneter Machtkonflikte, die am 15. April 2023 in offenen Krieg mündeten.

Zahlreiche zivilgesellschaftliche und politische Akteure bemühten sich um eine Vermittlung, scheiterten jedoch an interner Zersplitterung und fehlender Einigkeit. Die Spaltung zwischen dem Leitungsgremium der Forces of Freedom and Change, eine breite politische Koalition ziviler und rebellischer Gruppen, und einer radikaleren Fraktion, darunter die Kommunistische Partei, schwächte das zivile Lager zusätzlich. Vor diesem Hintergrund entstand 2024 die Allianz Tagadum, die mit den RSF-Milizen ein vorläufiges Waffenstillstandsabkommen erreichte. Doch die SAF weigerten sich zu unterschreiben und warfen der Führung von Tagadum Voreingenommenheit und die Förderung der RSF-Milizen vor. Diese Entwicklung vertiefte die Fragmentierung. Innerhalb von Tagadum kam es zur Spaltung: Die Gruppe Taasis forderte eine Übergangsregierung, während Sumoud auf Neutralität und umfassende Lösungen setzte.

Die Taasis-Gruppe, bestehend aus Vertretern der Umma- und Unionistischen-Parteien, Juba-Unterzeichnern und ehemaligen Mitgliedern der Sudanese Professionals’ Association, einem Dachverband von 17 Gewerkschaften, strebte eine „Regierung des Friedens und der Einheit“ an. Sie formierte eine breite zivil-militärische Allianz mit SPLM-N (al-Hilu), RSF-Miliz und lokalen Führungspersönlichkeiten, die gemeinsam die „New Sudan Founding Charter“ unterzeichneten. Die „Sudan Founding Charter“ fordert einen Bruch mit dem exklusiven Zentralstaat und setzt auf freiwillige Einheit, föderale, säkulare Regierungsführung, Geschlechtergerechtigkeit und eine Übergangsverfassung für einen inklusiven Staat. Die Charta wurde jedoch von den revolutionären Kräften abgelehnt, weil sie die RSF-Miliz einschloss, die für schwere Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind.

Trotz der enormen Verluste bietet die aktuelle politische Neuausrichtung eine seltene Chance, das sudanesische Staatsprojekt neu zu denken. Sollte die Charta breite Unterstützung gewinnen, könnte sie das historische Bündnis zwischen Armee und Islamisten herausfordern, offenbart jedoch die strukturelle Krise der politischen Elite. Die strukturelle Fragmentierung des sudanesischen Staates hat ihn anfällig für externe Einflussnahmen gemacht.

Der Krieg wird von regionalen und internationalen Akteuren genutzt, um geopolitische Interessen durchzusetzen und territoriale sowie politische Ordnungen umzustrukturieren.

Die Krise im Sudan zeigt ein doppeltes Staatsversagen: Erstens die Unfähigkeit, ein inklusives, demokratisches Machtzentrum zu schaffen, das ethnische und regionale Vielfalt widerspiegelt, während der autoritäre, kolonial geprägte Staatsapparat fortbesteht. Zweitens verstärkt die Zersplitterung der politischen Eliten den Konflikt und blockiert die Schaffung eines nationalen Projekts, das die gesamte Vielfalt des Sudans repräsentiert.

Die Staatsbildungskrise im Sudan ist Ausdruck historischer Kontinuitäten autoritärer Herrschaft und struktureller Ausgrenzung. Seit der Unabhängigkeit konkurrieren politische Eliten um die Kontrolle eines zentralisierten Staatsapparats, der aus der kolonialen Ordnung hervorgegangen ist. Die Dezemberrevolution 2018 artikulierte den kollektiven Wunsch nach tiefgreifendem Wandel, scheiterte jedoch an den hartnäckigen Spannungen zwischen zivilen und militärischen Akteuren. Das politische Versagen, tragfähige demokratische Strukturen zu etablieren, mündete im Militärputsch von 2021 und dem darauffolgenden Kriegsausbruch. Der Konflikt in Khartum offenbart den strukturellen Zerfall des postkolonialen Nationalstaats. Eine demokratische Neuausrichtung bleibt möglich, sie setzt jedoch einen inklusiven Dialog, eine gerechte Verfassungsordnung und eine Vision freiwilliger nationaler Einheit voraus, um weiteren Zerfall und externe Einflussnahme abzuwenden.

Mariam Wagialla ist Architektin und Stadtplanerin aus dem Sudan und lebt seit über zehn Jahren in Österreich.


Titelbild: Symbolbild (rawpixel.com / CC0 1.0 Universal)

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