Die Lüge der Abschreckung — Wie Aufrüstung Krieg vorbereitet
Die Rhetorik der Abschreckung wird oft als nüchterne, defensive Notwendigkeit verkauft — in Wahrheit ist sie ein ideologisches Instrument zur Legitimierung massiver Aufrüstung. Abschreckung behauptet, Krieg zu verhindern, schafft aber zugleich die Bedingungen für ein dauerhaftes Wettrüsten und die Bereitschaft, Gewalt durchzusetzen, wenn Machtansprüche nicht durchgesetzt werden können.
Ein Gastbeitrag von Günter Hackmüller
Die von den Staaten Europas unisono erteilte Auskunft lautet: In der Staatenwelt gibt es böse Mächte – gemeint ist Russland – die uns bedrohen und denen es zuzutrauen ist, dass sie uns in nicht allzu ferner Zukunft überfallen. Mit derlei Wortspenden wird dem Publikum die Schlussfolgerung näher gebracht, dass Aufrüstung dringend Not tut. Nicht um Krieg zu führen, wird versichert, sondern um gemäß der Devise von Marcus Tullius Cicero: „Si vis pacem para bellum“ (Wenn du Frieden willst, rüste zum Krieg) den Gegner abzuschrecken und ihn so davon abzuhalten, einen Krieg zu beginnen.
Die Wahrheit ist das nicht. Nicht nur, weil genau diese Rhetorik der Vorbereitung auf einen Krieg, um ihn zu vermeiden, noch jedem der großen Kriege der Vergangenheit voranging. Kein Krieg der vergangenen 150 Jahre vor dem nicht alle Kriegsparteien versichert hätten, alles tun zu wollen, um einen Krieg zu verhindern. „Selbst Hitler, Göring und Rippentrop kehrten 1939 ihren Friedenswillen heraus, genauso wie der französische Ministerpräsident Edouard Daladier“, schreibt Anne Morelli in ihrem Buch „Die Prinzipien der Kriegspropaganda“.
Suggeriert wird, die Politiker würden bei den geplanten viele Milliarden schweren Schritten der Aufrüstung auf eine Angst- und Bedrohungslage reagieren. Es ist dies eine Erklärung, für die Notwendigkeit von Abschreckung, die an Angst- und Bedrohungsgefühle appelliert, um so bei den Bürgern Verständnis für die von den Politikern aus ganz anderen Gründen geplanten Schritte der Aufrüstung zu erzeugen. Bedroht fühlen sich zwar möglicherweise Bürger als die tatsächlich ohnmächtigen Subjekte der Weltlage und Manövriermasse ihrer Politiker. Diese sind im Unterschied dazu in ihren Entscheidungen nicht von einer derartigen Angst- und Bedrohungslage getrieben und sie reagieren auch nicht bloß auf Aufrüstungsschritte anderer Staaten. Sie bilanzieren ganz nüchtern die Waffen des eigenen Staates, vergleichen sie mit dem entsprechenden Kriegsgerät des ins Auge gefassten Gegners und schließen aus diesem Vergleich und im Hinblick auf die eigenen weltpolitischen Vorhaben, was es ihrer Einschätzung nach an Aufrüstungsschritten braucht.
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Sollen Bürger sich bedroht fühlen, um in den von der Politik unter dem Titel der Abschreckung beschlossenen Aufrüstungsschritten die adäquate Antwort zu sehen, müssen sie überhaupt erst einmal eine Bedrohung kennen. Aus eigenem Erleben kann dieses Wissen nicht stammen, Außenpolitik ist schließlich nicht ihr Geschäft. Sie sind in ihrem Werkeltagsleben mit gänzlich anderen Dingen befasst und haben mit dessen Anstrengungen genug zu tun, um über die Runden zu kommen. Dass es eine Bedrohungslage gibt, muss ihnen erst noch gesagt werden. Ohne entsprechende Information seitens der Außenpolitiker des eigenen Staates wüssten sie weder, dass es einen Feind gibt und auch nicht welcher Staat das ist, noch könnten sie angeben, was an der Politik dieses fremden Herrschers, der von dieser Außenpolitik zum Feind erklärt wurde, das Böse ist. Wer also zu den bösen und wer zu den guten Staaten gehört, worin konkret das Verbrechen der bösen Staaten besteht, erfahren sie einzig und allein von genau den eigenen Außenpolitikern, die ihnen die heimische Aufrüstung unter dem Titel einer Abschreckung als adäquate Antwort und Versuch Krieg zu vermeiden verklickern möchten.
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Aufrüsten, um abzuschrecken, kann nicht jeder Staat. Dafür muss ein Staat in der Staatenwelt schon einiges hermachen, weil er überhaupt erst einmal über die dafür nötigen ökonomischen Mittel verfügen muss. Daher kommen auch nur Staaten auf die Idee der Abschreckung, die in der Konkurrenz der kapitalistischen Nationen eine Macht darstellen, die daher auf Grund dieser ihrer Potenzen Ansprüche gegenüber konkurrierenden Staaten zu formulieren und durchzusetzen imstande sind. Diese ökonomischen und politischen Gegensätze bilden den Ausgangspunkt jeder Abschreckungspolitik. Diese Abschreckungspolitik verfolgt nun nicht den Zweck diese Gegensätze aus der Welt zu schaffen. Im Gegenteil, mit Abschreckung wird mit dem Hinweis auf die eigenen militärischen Potenzen dem Feindstaat bedeutet, dass er besser nicht auf die Idee kommen sollte, den gegen ihn gerichteten Ansprüchen ökonomischer oder politischer Art nicht zu entsprechen. Der Zweck von Abschreckung ist daher dem Feindstaat Gefügigkeit gegenüber diesen eigenen Ansprüchen abzutrotzen – im gegenständlichen Fall des Krieges in der Ukraine von Russland zu verlangen, zu akzeptieren, dass die NATO sich bis an seine Westgrenze ausdehnt.
Abschreckung verfolgt das staatliche Ideal, eigene Ansprüche durchzusetzen, ohne einen Krieg führen zu müssen, ihn umgekehrt aber führen zu wollen, wenn der Gegner sich nicht beugt. Mittels Abschreckung sollen also Ziele erreicht und Ansprüche durchgesetzt werden, die sonst nur per Krieg zu haben sind, das aber wenn und soweit möglich ohne Krieg. Das Ideal der Kriegsverhinderung durch Abschreckung erweist sich als ein logisches Monstrum. Denn um dem Ideal gemäß jede kriegerische Gewalt des Kriegsgegners durch eigene Kriegsdrohungen zuverlässig unterbinden zu können, darf die eigene Entschlossenheit, Waffengewalt einzusetzen, keinesfalls ähnlichen Bedenklichkeiten aufgrund gegnerischer Drohungen unterliegen. Abschreckung des Gegners ernst genommen löst sich auf in das Ideal unbedingter Überlegenheit über ihn.
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So sieht Abschreckung dann auch aus. Das eigene Abschreckungspotential muss in Zerstörungskraft und Reichweite dem des Feindstaates, der dasselbe spiegelbildlich betreibt, überlegen sein. In der Logik des staatlichen Kräftemessens liegt es, dass selbstverständlich auch der Feind diesen Aufbau militärischer Potenzen gegen ihn nicht untätig beobachtet, sondern seinerseits entsprechende Aufrüstungsschritt – ebenfalls unter dem Titel der Abschreckung – setzt. Abschreckung wird derart zur alle ökonomischen Potenzen strapazierenden Daueraufgabe.
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Das so zustande kommende Drohpotential taugt freilich nur so viel, wie der Gegner überzeugt ist, dass es im Ernstfall auch eingesetzt wird. Ständige Manöver besonders an der gemeinsamen Grenze dienen dazu, die eigene Entschlossenheit zu beweisen und die Fähigkeiten des Gegners auf die Probe zu stellen. Sie sollen austesten, inwieweit der Feindstaat ebenfalls entschlossen und fähig ist, zu reagieren. Besondere Glaubwürdigkeit gewinnt die eigene Drohung durch den einen oder anderen tatsächlichen Krieg gegen unterlegene Mächte, die außerdem auch gleich dafür taugen, die Brauchbarkeit der einen oder anderen Waffe im Praxisfall zu testen.
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Von wegen daher: „Si vis pacem para bellum“ – Wenn du Frieden willst, rüste zum Krieg. Abschreckungspolitik ist das Gegenteil eines Versuchs der Kriegsvermeidung. Abschreckungspolitik basiert im Gegenteil auf dem auch zur Schau gestellten Willen zum Krieg. Kriegsfähigkeit hergestellt wird nicht, um Krieg zu vermeiden, sondern im Gegenteil aus dem Entschluss heraus, bei ausbleibender Gefügigkeit des Gegners hinsichtlich der eigenen Ansprüche diesen Krieg erfolgreich führen zu wollen.
Dr. Günter Hackmüller hat viele Jahre über gemeinsam mit anderen eine Radiosendung bei Radio Orange in Wien und bei Radio FRO in Linz gemacht und die Texte der Sendungen auf seiner Homepage GegenArgumente veröffentlicht.
Titelbild: KI-generiert (gpt-image-1)

