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Frieden durch Waffen? Experten warnen vor fataler Militarisierungsspirale

Anlässlich des baldigen Weltfriedenstages am 21. September kritisieren österreichische Friedensforscher die europäische Rüstungswende scharf. Sie fordern einen Paradigmenwechsel: Weg von der Fixierung auf militärische Lösungen, hin zu struktureller Friedensarbeit und gesellschaftlicher Versöhnung.

Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: 381 Milliarden Euro will die EU 2025 für Militärausgaben aufwenden – 130 Milliarden davon allein für neue Waffen. Ein fataler Irrweg, warnen Experten beim Mediengespräch des Wissenschaftsnetzes Diskurs. „Übermäßige Militärausgaben garantieren keinen Frieden. Oft untergraben sie ihn sogar, indem sie Wettrüsten anheizen, Misstrauen vertiefen“, zitierte Moderatorin Sophie Menasse UN-Generalsekretär Antonio Guterres.

Ukraine: „Beide Seiten haben legitime Sicherheitsinteressen“

Osteuropa-Experte Dieter Segert von der Universität Wien sieht im Ukraine-Krieg das Ergebnis eines komplexen Ursachengeflechts. „Es ist wichtig zu verstehen, warum die seit den 1970er Jahren errichteten Fundamente einer Ordnung gemeinsamer Sicherheit brüchig geworden sind“, erklärte er. Als zentrale Faktoren nannte Segert die „Hybris des Westens nach 1989/91“, die Niederlage des Staatssozialismus als „Ende der Geschichte“ gedeutet zu haben.

Segert betonte, „auch Russland hat legitime Sicherheitsinteressen, die gewährleistet sein müssen, wenn es hier einen dauerhaften Frieden geben soll.“ Der Politikwissenschaftler verwies auf russische Verhandlungsangebote vom Dezember 2021 und Januar 2022, auf die der damalige NATO-Generalsekretär Stoltenberg nicht geantwortet habe.

Für nachhaltigen Frieden sei gesellschaftliche Versöhnung unerlässlich. „Eine ukrainische Schriftstellerin hat uns gesagt, es gibt 10 Millionen Ukrainer, immerhin ein Viertel der Bevölkerung, die verwandtschaftliche Beziehungen mit Russen haben“, so Segert. Radikale nationalistische Fixierungen in beiden Gesellschaften müssten überwunden werden.

Gaza: Zwischen rationaler Sicherheit und ideologischer Vernichtung

Beim aktuellen Gaza-Konflikt unterschied Friedensforscher Maximilian Lakitsch von der Universität Graz zwischen zwei israelischen Strategien: einer „rationalen“ Sicherheitsdoktrin, die präventiv gegen potenzielle Bedrohungen vorgeht, und einer „vollkommen ideologischen“ Strategie – das Verunmöglichen eines Staates Palästina „mit Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung“.

Lakitsch kritisierte die „Hysterie“ im aktuellen Diskurs scharf: „Frieden ist in jedem Fall Verrat – das ist eine vollkommen naive Position, wenn nicht eine verräterische Position.“ Diese Schwarz-Weiß-Malerei verhindere differenzierte Lösungsansätze.

EU-Militarisierung bedroht Friedensprojekt

Julia Sachseder vom Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien warnte vor einer gefährlichen Entwicklung: „Diese Rüstungswende droht die EU weiter in Richtung einer rein militarisierten Selbstdefinition zu verschieben – mehr Geld für Waffen und Grenzen.“

Am Beispiel der Grenzschutzagentur Frontex zeigte sie auf, wie Migration systematisch als „permanente Bedrohung“ inszeniert wird. Dabei werde „alltägliche Sicherheit von Menschen nachrangig gegenüber Grenzsicherheit“ behandelt. Die feministische Perspektive offenbare, wie Militarisierung „hegemoniale Männlichkeiten“ produziere und gesellschaftliche Normen präge.

Sachseder forderte einen erweiterten Sicherheitsbegriff:

„Sicherheit muss auch immer mit sozialer Gerechtigkeit einhergehen – ohne das bleibt sie brüchig.“

Überalterte und gespalten Friedensbewegung

Sachseder und Lakitsch konstatierten trotz grundsätzlichem Potential eine Krise der europäischen und österreichischen Friedensbewegung. Das Problem: massive Überalterung. „Wenn ich bei solchen Treffen bin, dann senke ich den Altersschnitt mit meinen zarten 42 auch schon massiv“, brachte es Lakitsch humorvoll auf den Punkt. Historisch betrachtet habe die Friedensbewegung in den 1980er-Jahren und beim Irak-Krieg 2003 eine sehr prominente und wichtige Rolle gespielt, erinnerte sich Sachseder, derzeit sei sie jedoch durch die zunehmende Polarisierung fragmentiert.

Die gemeinsame Botschaft der Friedensforscher ist eindeutig: Europa braucht einen Paradigmenwechsel weg von der militaristischen Logik hin zu struktureller Friedensarbeit, Diplomatie und gesellschaftlicher Versöhnung. Sonst droht das europäische Friedensprojekt in einer Rüstungsspirale zu enden.


Text: Michael Wögerer
Titelbild: Filip Andrejevic auf Unsplash (Symbolbild)

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