Alltag und Perspektiven in Syrien
Bald jährt sich der Sturz des syrischen Langzeitherrschers Bashar Al-Assad das erste Mal. Während in den europäischen Medien von der Demokratie die Rede ist und die neuen Machthaber bejubelt werden, haben Rechtlosigkeit und ethnische Massaker an Alawiten und Drusen zugenommen. Israel weitet derweilen seine Besatzung im Süden des Landes schrittweise aus.
Von Karin Leukefeld, Beirut (Zeitschrift INTERNATIONAL, Heft IV/2025)
In Damaskus erscheint seit vielen Jahren regelmäßig ein Sicherheitsbericht für private Hilfsorganisationen. Kapitel für Kapitel, Provinz für Provinz wird dargelegt, ob die Lage stabil oder unsicher ist, wie es mit der Strom- und Wasserversorgung aussieht, ob es Arbeit gibt, ob Familien zurückgekehrt sind. Mitte August erschien der aktuelle Bericht, und darin ist zu lesen, dass zum ersten Mal seit 2012 wieder ein Zug zwischen Hama und Aleppo verkehrte und aus der nordwestlichen Provinz Idlib 50 Familien in ihre Heimatdörfer in Homs, entlang der libanesisch-syrischen Grenze bei Qusair, zurückgekehrt seien.
Aus allen Teilen des Landes werden Kämpfe gemeldet.
Entführungen gibt es vor allem im Küstengebiet von Latakia und Tartus, wo Christen, Schiiten und Alawiten berichten, dass sie unter Druck von dschihadistischen Kämpfern stehen, die ursprünglich Teil von Hay’at Tahrir al Sham (HTS) in der Provinz Idlib waren.
Heute tragen diese Kämpfer die Uniform der Allgemeinen Sicherheit, die unter dem Kommando von Innen- und Verteidigungsminister stehen.
Die alltägliche Unsicherheit geht an den regionalen und internationalen Akteuren vorbei. Die „Königsmacher“ der islamistischen Übergangsführung von Ahmed al-Sharaa in den USA, der Türkei, Israel, den europäischen NATO-Ländern und in den arabischen Golfstaaten, die seit 2011 den Sturz des damaligen syrischen Präsidenten Bashar al-Assad betrieben, sind schon lange zur Routine übergegangen. In Paris verhandelt Israel mit Syrien über die „Normalisierung“ der Beziehungen, auch über die Aufteilung des Landes – die so genannte Föderation – wird gesprochen. Deutschland fördert die Ausbildung von Ärzten und Journalisten, und selbst mit Moskau verhandeln die Islamisten über die jeweiligen Interessen.
Israel hat militärisch den Süden des Landes unter Kontrolle genommen, sämtliche militärischen Kapazitäten Syriens zerbombt und bietet sich den Drusen von Sweida und den syrischen Kurden im Nordwesten des Landes als Schutzmacht an.
Die Türkei hat mit Syrien eine Absichtsvereinbarung über zukünftige militärische Zusammenarbeit und Kooperation im Nordosten des Landes gegenüber den kurdisch geführten Syrischen Demokratischen Kräften (SDF) unterzeichnet. Die arabischen Golfstaaten Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate und Katar investieren in den Wiederaufbau der Strom- und Wasserversorgung, planen den Bau von Großprojekten wie dem Umbau des Flughafens von Damaskus und einer Metro. Nach einem saudisch-syrischen Wirtschaftsforum wurde die bilaterale Zusammenarbeit im Stromsektor vereinbart. Es geht um erneuerbare Energie, den Anschluss Syriens an ein regionales Stromnetz, die Zusammenarbeit im Öl- und Gassektor sowie bei anderen petrochemischen Produkten. Ausbildung und Technologietransfer sollen gefördert werden.
Um Energie geht es auch zwischen Aserbeidschan und Syrien, wie das Energieministerium mitteilt. 3,4 Millionen Kubikmeter Gas sollen demnach aus Aserbeidschan über die Türkei in die nordsyrische Provinz Aleppo geliefert werden. Beginn der Lieferung soll ab sofort sein. Mit dem Gas soll das große – einst von Saudi-Arabien gebaute – Elektrizitätswerk von Aleppo beliefert werden, das über ein weites Stromnetz die große Provinz Aleppo bis nach Hama versorgen kann. Möglich geworden sind die Investitionen der reichen Golfstaaten in die Rehabilitation des syrischen Energiesektors, weil die EU und die US-Administration die harten Sanktionen für den Gas- und Ölsektor Syriens aufgehoben haben.
Eingefädelt werden Gespräche und Verhandlungen von Thomas Barrack, seit Frühjahr 2025 US-Botschafter in der Türkei und gleichzeitig auch US-Sonderbeauftragter für Syrien und Libanon. Der Enkel libanesischer Großeltern ist Immobilien- und Finanzdienstunternehmer und hat Donald Trump bereits im Präsidentschaftswahlkampf 2016 begleitet.
Die Aufgabe von Barrack ist es, den Plan des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu für die „Neuordnung des Mittleren Ostens“ voranzutreiben.
Der Plan wurde erstmals 2006 von der damaligen US-Außenministerin Condoleeza Rice öffentlich erwähnt und wird auch von Trump unterstützt.
Als treuer Trump-Gefolgsmann mit guten Beziehungen in Israel, Saudi-Arabien und den VAE sorgt Barrack dafür, dass die US-israelischen Interessen in der Region gewahrt werden. Dazu gehört, dass die anderen Akteure, wie die Türkei oder europäische Staaten, die sich auf die eine oder andere Art an der Zerstörung der „alten regionalen Ordnung“ beteiligen, auch noch etwas abbekommen.
Übergeordnetes Ziel für die Trump-Administration ist die „Normalisierung“ der politischen Beziehungen der Länder der Region mit Israel. Die Kontrolle über Syrien ist dabei zentral.
Uneinige „Einheitskonferenz“ für syrische Föderation
Unter den organisierten Gruppen der Kurden, Drusen und Alawiten wird derweil eine Debatte über die Föderalisierung Syriens gehalten. Am 8. Mai hatten die kurdisch geführten SDF nach Hasakeh zu einer „Einheitskonferenz“ eingeladen, wo weltliche und religiöse Vertreter der sunnitischen Stämme, Christen und Kurden sowie der Drusen und Alawiten zusammenkamen. Die genaue Zielsetzung blieb unklar, allerdings war eine mögliche föderale Struktur für Syrien ein wichtiges Thema. Während ausländische Politiker und Medien mit Interesse das Ereignis verfolgten, reagierte Damaskus ablehnend.
Die Islamisten beharren darauf, die Kontrolle über die jeweiligen bewaffneten Gruppen zu haben und fordern die Unterstellung der Waffen und Einheiten unter die Kontrolle der syrischen Armee, die noch im Aufbau ist. Mit SDF hatte Damaskus am 10. März ein Abkommen unterzeichnet, in dem den Kurden und SDF weitreichende Zugeständnisse gemacht werden. Umso größer war das Unverständnis darüber, dass SDF nun offenbar eine Verhandlungsplattform jenseits von Damaskus eröffnen wollte. Al-Sharaa machte klar, dass jede Art von Verhandlungen, sowohl innersyrisch als auch mit ausländischen Akteuren, ausschließlich in Damaskus stattfindet oder gar nicht. Die „Einheitskonferenz“ ging ohne Ergebnis eher kleinlaut wieder auseinander.
Die islamistische Übergangsführung von al-Sharaa ist dabei, die eigene Position zu sichern und Land und Gesellschaft gemäß der großen Zeit der Umayyaden im 7./8. Jahrhundert zu islamisieren.
Es geht um eine politische Basis, mit der die Islamisierung Syriens, das seit seiner Unabhängigkeit 1946 ein säkulares politisches System hatte, vorangetrieben werden soll.
Eine islamische Kleiderordnung für Lehrerinnen an Schulen ist im Gespräch, Frauen, die in ein Schwimmbad gehen, müssen einen Burkini tragen. Deutlicher sichtbar sind islamische Scheichs, die neuerdings in offiziellen staatlichen Stellen wie Gerichten und Ministerien platziert werden. Sie sollen sicherstellen, dass die religiösen Regeln der Scharia gewahrt werden.
Al-Sharaa folgt jeder Aufforderung seiner Geldgeber am Golf, in den USA oder Europa. Wird ein Untersuchungsbericht über die Massaker an Alawiten oder in Sweida gefordert, setzt al-Sharaa eine Kommission ein. Wird eine Einigung mit den Kurden im Nordosten des Landes gefordert, unterzeichnet er ein Abkommen mit ihnen. Wird von Israel die Entwaffnung der Armee und Entmilitarisierung der südlichen Provinzen gefordert, sagt al-Sharaa das zu. Eine Verfassung wurde gefordert, al-Sharaa legte eine Verfassung vor. Wahlen werden gefordert, al-Sharaa kündigt Wahlen für den kommenden September an. Ob den Islamisten das nutzt, ihre Macht zu behaupten, ob al-Sharaa radikalen dschihadistischen Kräften weichen muss oder ob die „Königsmacher“ schließlich jemand anderen auf den Thron heben wollen, bleibt abzuwarten.
Karin Leukefeld ist Nahost-Korrespondentin und lebt in Beirut und Köln. Sie berichtete bis Dezember 2024 fast zwei Jahrzehnte lang aus Syrien. Anfang 2025 erschien von ihr „Krieg in Nahost“ (Hintergrund Verlag).
Titelbild: Umayyad Mosque in Damascus, Syria (Bernard Gagnon; CC BY-SA 3.0)

