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Grüner Kolonialismus: EU-CELAC-Gipfel als Absatzmarkt-Suche

Santa Marta – Der vierte EU-CELAC-Gipfel in Kolumbien sollte eine Partnerschaft auf Augenhöhe besiegeln. Stattdessen offenbarte das Treffen alte Machtstrukturen: Während die meisten Staats- und Regierungschefs fernblieben, forderten soziale Bewegungen beim Gegengipfel echte Mitbestimmung statt bloßer Beteiligung.

Als sich am 9. und 10. November Vertreter aus über 60 Staaten an der kolumbianischen Karibikküste versammelten, fehlte es nicht an großen Worten: „Wir bestehen auf Multilateralität“, verkündete Gastgeber Gustavo Petro. EU-Ratspräsident António Costa sprach von „Dialog statt Konfrontation“. Die sogenannte Erklärung von Santa Marta mit ihren 52 Punkten bekräftigte Demokratie, Klimaschutz und internationale Zusammenarbeit, berichtet das Nachrichtenportal amerika21.

Doch die Realität sah anders aus: Bundeskanzler Friedrich Merz sagte ab, ebenso Emmanuel Macron und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Auch lateinamerikanische Staatschefs wie Chiles Gabriel Boric und Mexikos Claudia Sheinbaum blieben fern. Der Grund? Die aggressive Politik Donald Trumps in der Region. Der US-Präsident hatte Kolumbiens Petro als „narco-kommunistisch“ diffamiert und zuvor Sanktionen gegen ihn verhängt. Diplomatische Kreise sprechen laut der Nachrichtenagentur Bloomberg von Druck aus Washington, den Gipfel „nicht zu hoch zu hängen“, schreibt das Nachrichtenpool Lateinamerika (NPLA).

„Wenn der Multilateralismus zur schlecht besuchten Strandparty wird, ist es vielleicht nicht mehr gut um die gute alte europäisch-lateinamerikanische Partnerschaft bestellt“, kommentiert NPLA sarkastisch.

Einige Analyst*innen sprechen dem Portal zufolge von „vorauseilendem Kuschen vor Trump“.

Grüner Kolonialismus im neuen Gewand

Hinter der Fassade von Klimaschutz und Nachhaltigkeit verbirgt sich ein altbekanntes Muster: Europa braucht Rohstoffe für seine „grüne Wende“ – Lithium aus Bolivien, Kupfer aus Chile, Wasserstoff aus Patagonien. Mit Investitionszusagen von 40 Milliarden US-Dollar präsentierte sich die EU als Wohltäterin, die unter dem Schlagwort „Triple Transition“ – ökologisch, digital, sozial – Unterstützung verspricht, so die Tageszeitung junge Welt.

Doch diese „grüne Transformation“ folgt einer kolonialen Logik: Lateinamerika liefert Rohstoffe, Europa die Technologie. „Nachhaltigkeit dient als Label für ein neues Extraktivismusmodell“, kritisiert die junge Welt. Das Ergebnis sei „asymmetrische Abhängigkeit unter ökologischem Deckmantel“. Wer Kapital, Technologie und Märkte kontrolliere, diktiere auch die Bedingungen – unabhängig davon, ob es um fossile Brennstoffe oder „grüne“ Rohstoffe gehe.

„Lateinamerika wird so einmal mehr zum Zulieferer in einer globalen Wertschöpfungskette, die vom globalen Norden bestimmt wird“, schreibt die jW. In Kolumbien sollen Solarparks entstehen, Ecuador bekomme Kredite für Wasserprojekte. Doch hinter den Zahlen stehe „weniger ökologisches Bewusstsein als geopolitisches Kalkül“.

Sozialgipfel der Völker: Die Gegenstimme

Parallel zum offiziellen Gipfel versammelten sich soziale, bäuerliche, gewerkschaftliche und feministische Organisationen zum dritten Sozialgipfel der Völker Lateinamerikas und der Karibik. Über 1.500 Delegierte aus mehreren lateinamerikanischen Ländern sowie europäische Kollektive debattierten über Menschenrechte, Klimawandel, Militarisierung, Feminismus, Energiewende und Migration, berichtet amerika21.

Die Organisationen forderten von den Regierungen der CELAC und der EU, Lateinamerika und die Karibik als „Friedenszone“ anzuerkennen – durch konkrete Maßnahmen zur Vermeidung von Interventionen, einseitigen Sanktionen und wirtschaftlichem Druck. In ihrer Abschlusserklärung verlangten sie Schuldenerlass, direkte Finanzierung lokaler Initiativen und Schutz vor extraktiven Großprojekten.

Die zentrale Kritik richtete sich gegen die „grüne Doppelzüngigkeit“ Europas: Unter dem Vorwand von Klimaschutz würden weiter Territorien zerstört und Abhängigkeiten vertieft, schreibt die junge Welt. Die Erklärung des Sozialgipfels betont laut amerika21 die Notwendigkeit einer regionalen Integration, „die auf Zusammenarbeit und Komplementarität basiert“ und wirtschaftliche Modelle in den Mittelpunkt stellt, die soziale und ökologische Rechte priorisieren.

Besonders scharf kritisierten die Bewegungen die „Fortsetzung einer politischen Praxis, die als Bedrohung für die regionale Stabilität betrachtet wird“ – darunter die Präsenz ausländischer Militärstützpunkte, wirtschaftliche Blockaden und die zunehmende Gewalt gegen soziale und ökologische Führungspersonen. Die CELAC müsse ihre Verpflichtungen zum Schutz von Menschenrechtsverteidiger:innen verstärken, forderten die Organisationen.

Doch wie so oft blieben diese Stimmen im offiziellen Gipfel ungehört. „Die Struktur des Gipfels erlaubt Beteiligung, nicht Mitbestimmung“, konstatiert Elias Korte in der jungen Welt. Die sozialen Bewegungen hingegen erklärten, dass die direkte Beteiligung der Zivilgesellschaft ein wesentliches Element sei, um Vereinbarungen zu erreichen, die die Prioritäten der Bevölkerungen widerspiegeln, berichtet amerika21.

CELAC: Einheit als Fassade

Dass die CELAC überhaupt noch als einheitliches Forum auftrat, war bereits ein diplomatischer Erfolg. Die Widersprüche sind unübersehbar: Venezuela und Nicaragua verweigerten die Unterschrift unter die Abschlusserklärung – aus Protest gegen Formulierungen zum Ukrainekrieg. Argentinien, Ecuador, Panama und Paraguay distanzierten sich vom Abschnitt zum Gaza-Konflikt. Costa Rica, El Salvador sowie Trinidad und Tobago vertraten eine ähnliche Position und lehnten außerdem die Abschnitte ab, die die Region als Friedenszone bezeichnen und ein Ende der Wirtschaftsblockade gegen Kuba fordern, schreibt das lateinamerikanische Nachrichtenportal teleSUR.

Für die sozialen Organisationen verdeutlichen diese Spannungen die Notwendigkeit, autonome Räume der zivilgesellschaftlichen Artikulation zu stärken, so amerika21.

Für den venezolanischen Außenminister Yván Gil, der zum ersten Mal seit Jahren an einem CELAC-Treffen teilnahm, war seine Anwesenheit vor allem „Symbol eines leisen diplomatischen Comebacks“, vermittelt durch Kolumbien, Brasilien und Spanien, analysiert die junge Welt. Von echter Reintegration könne jedoch keine Rede sein.

Europa sucht verlorenen Einfluss

Der Gipfel offenbarte die geopolitische Realität: Europa hat in Lateinamerika massiv an Einfluss verloren – vor allem gegenüber China, das sich als verlässlicher Investitionspartner etabliert hat. Als 2022 lateinamerikanische Staaten nicht auf Brüssels Kommando reagierten und Russland-Sanktionen verhängten, wurde dies auch in Europa deutlich, erinnert die junge Welt.

Brüssel versucht gegenzusteuern – mit Strategiepapieren, Wertediskursen und eben solchen Gipfeltreffen. Doch ohne „langen Atem“ und tatsächliche Präsenz werde man Chinas Position nicht brechen können, konstatiert Jörg Kronauer in seinem Kommentar. „Südamerika verfügt über viele Rohstoffe, die die Industrie in der EU dringend braucht, Lithium zum Beispiel“, so Kronauer. Wer Chinas starke Position knacken wolle, müsse „konsequent Präsenz zeigen“ und einen langen Atem haben. „Beides gehört nicht unbedingt zu den Stärken der Union.“

Dass nun ausgerechnet bei diesem Gipfel die europäischen Spitzenpolitiker fernblieben, um es sich mit „Daddy“ – so nennt NATO-Generalsekretär Mark Rutte den US-Präsidenten – nicht zu verderben, spricht Bände, bemerkt Kronauer sarkastisch.

Fazit: Kolonialismus im grünen Gewand

Der Gipfel von Santa Marta offenbarte vor allem eines: die Kontinuität alter Machtverhältnisse. „Europa sucht neue Absatzmärkte, Lateinamerika kämpft um Souveränität“, resümiert die junge Welt. Die soziale Frage bleibe unbeantwortet: Wer profitiere von der „grünen Transformation“, und wer zahle ihren Preis?

„Solange die EU Klimapolitik als geopolitisches Werkzeug nutzt und die CELAC ihre Einheit vor allem als Fassade bewahrt, bleibt der ‚Dialog der Ungleichen‘ eine PR-Veranstaltung“. Der Kolonialismus sei nicht Geschichte – „er hat nur sein Kostüm gewechselt. Heute trägt er Grün.“ (junge Welt)

Vertreter:innen bäuerlicher Organisationen betonten beim Sozialgipfel die Bedeutung der lokalen Lebensmittelproduktion und die Notwendigkeit staatlicher Maßnahmen zur Verringerung externer Abhängigkeiten. Feministische Gruppen wiesen darauf hin, dass Geschlechtergerechtigkeit stärker in die Politik einfließen und Sicherheit für Frauenrechtlerinnen gewährleistet sein müsse, berichtet amerika21.

Trotz allem sieht die kolumbianische Regierung den Gipfel als Erfolg. „Ein historisches Treffen“, „ein Sieg des Dialogs“, so der offizielle Ton aus Bogotá, berichtet NPLA. Der Energieminister sprach gar davon, Kolumbien habe „die Mythen gebrochen“ und Lateinamerika als gleichberechtigten Partner präsentiert.

„Nun ja“, kommentiert NPLA trocken: „Auf dem Papier ja – im Bild eher nicht. Denn eine Partnerschaft auf Augenhöhe sieht anders aus, wenn die eine Seite kaum auftaucht und die andere versucht, möglichst nicht zu viele Fotos von sich in die sozialen Medien zu stellen.“

Die Ergebnisse des Sozialgipfels wurden zum Abschluss an CELAC-Delegierte übergeben, damit sie in zukünftigen Dialogprozessen berücksichtigt werden. Ob das geschieht, bleibt fraglich. Permanente Beteiligungsmechanismen für soziale Bewegungen – wie vom Sozialgipfel gefordert – sind nicht in Sicht.


Text: Michael Wögerer
Titelbild: x.com/petrogustavo (16:9)

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