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Das Mercosur-Märchen: Wenn wirtschaftlicher Druck kritische Stimmen übertönt

Die Berichterstattung österreichischer Medien zum EU-Mercosur-Abkommen in den vergangenen Wochen stand ganz im Zeichen einseitiger Wirtschaftslogik

Von Michael Wögerer

Es ist Dezember 2025, und in Österreichs Redaktionsstuben scheint ein bemerkenswerter Konsens eingekehrt zu sein. Das EU-Mercosur-Abkommen, über zwei Jahrzehnte lang hart umkämpft und von Umweltorganisationen, Gewerkschaften und Bauernvertretern kritisiert, verwandelt sich in eine ökonomische Notwendigkeit. Die globalisierungskritische Organisation Attac wirft den heimischen Medien vor, in den vergangenen Wochen eine einseitige Pro-Mercosur-Kampagne gefahren zu haben. Und der Vorwurf ist nicht unbegründet.

Die mediale Wende: Aus Skepsis wird Alternativlosigkeit

Am 6. Dezember 2024 hatte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in Montevideo die politische Einigung zum EU-Mercosur-Abkommen präsentiert. Ein Jahr später, im Dezember 2025, steht die geplante Unterzeichnung kurz bevor – zunächst für Mitte Dezember angesetzt, dann auf Januar 2026 verschoben. Und in diesen Wochen erlebt Österreich eine bemerkenswerte mediale Kehrtwende.

Der Standard veröffentlichte zwischen dem 14. und 18. Dezember 2025 vier Pro-Mercosur-Kommentare. Den Anfang machte Thomas Mayer, leitender Redakteur aus Brüssel, unter dem Titel „Österreich muss sich im Zweifel für, nicht gegen den Freihandel entscheiden“. Schließlich durfte Wifo-Chef Gabriel Felbermayr am 16. Dezember 2025 in einem Gastkommentar erklären, „warum Österreich dem EU-Mercosur-Abkommen zustimmen sollte“.

Die Argumentationslinie ist überall ähnlich: Angesichts der Trump’schen Handelspolitik, Chinas wachsendem Einfluss in Lateinamerika und Europas wirtschaftlicher Schwäche müsse die EU handeln. Auch Die Presse titelte Anfang Dezember: „Österreich kann sich sein Veto gegen Mercosur nicht länger leisten.“ Alarmistischer Kronzeuge ist abermals Wifo-Chef Felbermayr: „Es steht die komplette Handelspolitik der EU im Feuer.“

Bereits im September schrieb die Kleine Zeitung: „Mercosur-Abkommen: Schlusspfiff in Österreichs Spiel auf Zeit“ – der Subtext war klar: Wer jetzt noch zögert, handelt unverantwortlich. Die Wirtschaftskammer und die Industriellenvereinigung treten geschlossen für das Abkommen ein, ihre Pressemitteilungen werden bereitwillig aufgegriffen. Kritische Stimmen? Randnotizen, wenn überhaupt.

Die Perspektive aus Lateinamerika: Hoffnung auf Marktzugang

Tatsächlich sehen viele in den Mercosur-Staaten das Abkommen positiv. Für Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay bedeutet der Deal Zugang zum europäischen Markt von 450 Millionen Konsumenten. Die Eliminierung von 91 Prozent der EU-Zölle auf Mercosur-Produkte verspricht neue Absatzmärkte für Agrarprodukte, insbesondere Rindfleisch, Geflügel, Zucker und Ethanol.

Lateinamerikanische Ökonomen betonen die strategische Bedeutung: Eine Diversifizierung weg von der Abhängigkeit von China, das seit 2018 Europa als wichtigsten Handelspartner der Region abgelöst hat. Chinas Anteil am Außenhandel der Mercosur-Staaten stieg von zwei Prozent (2001) auf 23,5 Prozent (2024), während Europas Anteil von 31 auf 13,3 Prozent fiel. Das Abkommen wird als Chance gesehen, dieses Ungleichgewicht zu korrigieren.

Doch auch in Südamerika gibt es Widerstand: Kleinbauern befürchten die Dominanz europäischer Agrochemie-Konzerne, indigene Gemeinschaften warnen vor verstärkter Entwaldung. Diese Stimmen finden in der europäischen Berichterstattung kaum Gehör.

Was in der Euphorie untergeht: Sieben unbequeme Wahrheiten

Attac Österreich hat sieben zentrale Kritikpunkte am Abkommen zusammengetragen, die in der medialen Debatte systematisch marginalisiert werden:

1. Demokratie-Defizit: Die EU-Kommission hat das ursprünglich einheitliche Abkommen nachträglich in einen politischen und einen wirtschaftlichen Teil gespalten. Der Wirtschaftsteil soll nun mit qualifizierter Mehrheit statt Einstimmigkeit beschlossen werden – eine Umgehung nationaler Parlamente, die Völkerrechtler als potenziell rechtswidrig einstufen. Österreichs Parlamentsveto von 2019 würde damit faktisch außer Kraft gesetzt.

2. Wirtschaftlicher Scheingewinn: Die offiziellen EU-Prognosen versprechen bis 2040 ein Wachstum von 0,05 Prozent – statistisch nicht messbar. Gleichzeitig werden 1.200 Jobs in Österreich (120.000 in der EU) gefährdet. Die Klimaschäden in Österreich beliefen sich 2024 auf 1,7 Milliarden Euro – Kosten, die in der Rechnung nicht vorkommen.

3. Geopolitische Mogelpackung: Ja, die EU sollte ihre Beziehungen zu Lateinamerika stärken. Doch ein Abkommen, das klimaschädliche Branchen fördert und neokoloniale Abhängigkeiten zementiert, ist keine partnerschaftliche Kooperation auf Augenhöhe. Statt gemeinsamer Klimaziele dominiert der Export von Verbrennermotoren und Pestiziden.

4. Bauernopfer: Die 99.000 Tonnen zusätzlicher Rindfleischimporte mögen nach „nur einen Burger pro Person pro Jahr“ klingen – tatsächlich handelt es sich um die besten Teilstücke, was etwa 15 Prozent des entsprechenden EU-Marktsegments entspricht. Gleichzeitig werden Quoten für Agrartreibstoffe massiv erhöht: Wertvolles Essen landet in Autotanks statt auf Tellern.

5. Giftexport: Das Abkommen beseitigt alle Zölle auf Pestizide, von denen viele in der EU längst verboten sind. Konzerne wie Bayer und BASF profitieren, während in Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay Menschen erkranken, Wasser vergiftet und Böden kontaminiert werden. Europäische Verbraucher sind ebenfalls betroffen: Lebensmittelkontrollen sollen weiter abgebaut werden.

6. Klimakiller: Mehr Handel bedeutet mehr Entwaldung für Rindfleisch und Soja, mehr CO2-Emissionen durch Transport, mehr Agrartreibstoffe. Der Amazonas nähert sich seinem ökologischen Kipppunkt. Die im Abkommen verankerte Verankerung des Pariser Klimaabkommens ist ein zahnloses Lippenbekenntnis ohne effektive Durchsetzungsmechanismen.

7. Arbeitsrechte als Fußnote: Der Europäische Gewerkschaftsbund ETUC lehnt das Abkommen ab. Die EU-Kommission räumt selbst „sklavenähnliche Arbeitsbedingungen“ in Mercosur-Ländern ein. Doch das Abkommen enthält keine durchsetzbaren Arbeitsrechtsklauseln, keine Sanktionen gegen Unternehmen. Beschwerden führen höchstens zu unverbindlichen Stellungnahmen.

Die mediale Verengung: Wirtschaft über alles

Die Wirtschaftskammer nennt Mercosur eine „letzte Chance“, die Industriellenvereinigung sprach im Dezember 2025 vom „sachlich unverständlichen“ österreichischen Veto. Wifo-Chef Felbermayr formulierte eine klare Ansage: „Eine Regierung, die sich zum Industriestandort bekennt, muss sich auch zu Mercosur bekennen.“

Diese Logik hat Österreichs Medienlandschaft in den vergangenen Wochen dominiert. Was als legitime Sorge um Europas Wettbewerbsfähigkeit beginnt, wird zur Alternativlosigkeits-Rhetorik. Die Komplexität des Abkommens – sein Demokratiedefizit, seine Umweltfolgen, seine sozialen Kosten – verschwindet hinter makroökonomischen Kennzahlen und geopolitischen Drohszenarien.

Die Kritik von Attac ist berechtigt: Die Breite der medialen Debatte hat sich dramatisch verengt. Während ORF, Kleine Zeitung, Die Presse und Der Standard unterschiedliche Nuancen setzen, kreisen alle um dieselbe Kernbotschaft: Mercosur ist notwendig, Österreichs Widerstand schadet der Wirtschaft.

Bemerkenswert ist eine Ausnahme: Der Standard veröffentlichte am 18. Dezember 2025 auch einen kritischen Gastkommentar des Ökonomen Kurt Bayer mit dem Titel „Der Fokus auf Außenhandel hat die Krisen verstärkt“, der die Dominanz der Pro-Stimmen zumindest etwas durchbrach.

Was fehlt: Eine ehrliche Abwägung

Niemand bestreitet, dass Europa Handelsbeziehungen diversifizieren muss. Niemand leugnet Chinas wachsenden Einfluss in Lateinamerika oder die Bedrohung durch US-Protektionismus unter Trump. Doch die entscheidende Frage lautet nicht, ob Europa mit Südamerika Handel treiben soll – sondern wie.

Ein Abkommen, das fossile Mobilität und industrielle Landwirtschaft fördert, das Pestizide exportiert und Wälder opfert, das Arbeitsrechte zur Verhandlungsmasse macht – ist das wirklich die „alternativlose“ Antwort auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts?

90 Prozent der Österreicher sind laut Umfragen besorgt über negative Auswirkungen des Abkommens. Diese Sorgen als „Mythen“ abzutun, wie es manche Kommentatoren tun, verkennt die realen Konflikte zwischen kurzfristigen Wirtschaftsinteressen und langfristiger Nachhaltigkeit.

Ein Abkommen des 20. Jahrhunderts für die Krisen des 21.

Das EU-Mercosur-Abkommen basiert auf einem Verhandlungsmandat aus dem Jahr 1999 – einer Zeit vor dem Pariser Klimaabkommen, vor der Fridays-for-Future-Bewegung, vor der wissenschaftlichen Gewissheit über den ökologischen Kollaps. Es ist ein Relikt neoliberaler Handelspolitik, das Wachstum über Nachhaltigkeit, Export über Klimaschutz, Konzerninteressen über Menschenrechte stellt.

Die mediale Verengung der Debatte in den vergangenen Wochen war symptomatisch: In Krisenzeiten siegt die ökonomische Panik über die differenzierte Abwägung. Doch genau diese Panik macht schlechte Politik. Europa braucht Handelsbeziehungen mit Lateinamerika – aber solche, die Klimaschutz und Menschenrechte ins Zentrum stellen, nicht an den Rand drängen.

Attacs Forderung nach einem kompletten Stopp und Neustart mit neuem Verhandlungsmandat ist nicht unrealistisch, sondern notwendig. Ein Abkommen, das im 21. Jahrhundert Bestand haben soll, muss Antworten auf die Klimakrise liefern, nicht sie verschärfen. Es muss demokratisch legitimiert sein, nicht an Parlamenten vorbeigeschleust werden. Es muss Arbeitsrechte garantieren, nicht flexibilisieren.

Journalismus in der Pflicht

Die Rolle der Medien in dieser Debatte war und ist problematisch. Zu oft wurde wirtschaftspolitische Kommunikation der Interessenverbände als objektive Berichterstattung präsentiert. Zu selten wurden die fundamentalen Widersprüche des Abkommens benannt. Zu bereitwillig wurde die Alternativlosigkeits-Rhetorik übernommen.

Kritischer Journalismus bedeutet nicht, Handelsabkommen per se abzulehnen. Aber er bedeutet, die Stimmen derjenigen zu hören, die die Rechnung zahlen werden: Kleinbauern in Österreich und Lateinamerika, indigene Gemeinschaften im Amazonas, Arbeiter in Fabriken mit prekären Bedingungen, künftige Generationen, die mit den Klimafolgen leben müssen.

Das EU-Mercosur-Abkommen steht für eine überholte Vision von Globalisierung – eine, die im 20. Jahrhundert entstanden ist und im 21. Jahrhundert scheitern wird. Österreichs Veto mag ökonomisch kostspielig sein. Doch manchmal ist der größere Fehler, den falschen Weg mitzugehen, nur weil alle anderen ihn einschlagen.


Titelbild: Einseitige Berichterstattung zum EU-Mercosur-Abkommen, Collage: Attac (Newsletter)

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