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Wer will einen neuen Russland-Krieg?

Am 14. März 2025 hat der neue deutsche Bundeskanzler, Friedrich Merz, in seiner ersten Regierungserklärung vor dem Bundestag das Ziel formuliert, die deutsche Bundeswehr solle „konventionell die stärkste Armee Europas werden“. Dafür sollen alle finanziellen Mittel zur Verfügung gestellt werden. Einige Tage später versicherte der neue Außenminister, Johann Wadephul, Deutschland werde fünf Prozent seiner Wirtschaftsleistung für das Militär ausgeben. Das wären heuer 218 Milliarden Euro, fast die Hälfte des gegenwärtigen Haushaltsvolumens.

Von Wendelin Ettmayer (Zeitschrift INTERNATIONAL, Heft III/2025)

Jetzt auch als Podcast (Audio-Zusammenfassung):

Die neue deutsche Bundesregierung ist vollkommen auf der Linie jener, die einen neuen Krieg gegen Russland vorbereiten wollen. Dabei heißt es natürlich, nach dem Motto „si vis pacem, para bellum“, man müsse aufrüsten, um den Frieden zu sichern. Doch dieses Leitmotiv geht, wie wir wissen, auf das antike Sparta zurück, das sich in einem ständigen Kriegszustand befand. Nunmehr befindet sich die neue deutsche Bundesregierung nicht nur im Einklang mit der spartanischen Militärdiktatur, sondern auch mit jenen Eliten der Europäischen Union, die durch kriegerisches Gehabe ihre eigene Position stärken wollen. Dazu gehören die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, der französische Staatspräsident „Napoleon“ Macron und die EU-Außenbeauftragte, Kaja Kallas. Alle drei haben in den letzten Jahren schon den Krieg in der Ukraine dazu benutzt, um sich persönlich zu profilieren. Jetzt rufen Sie zum Kampf gegen Russland auf, um über gravierende Schwächen im eigenen Bereich hinwegzutäuschen.

Obwohl militärische Angelegenheiten in der Kompetenz der Mitgliedstaaten liegen, gebraucht von der Leyen den Ukraine-Krieg, um die EU weiter zu zentralisieren und um ihre Kompetenzen auszubauen. Wie eine Präsidentin der „Vereinigten Staaten von Europa“ reiste sie in maßgeschneiderten Kampfanzügen immer wieder nach Kiew. Dort proklamiert sie die Aufstellung einer Europaarmee, so, als wäre das in kürzester Zeit möglich. Jeder Fachmann weiß, dass der Aufbau einer europäischen Streitmacht, die diesen Namen verdient, mehrere Jahre dauert. Gleichzeitig manövrierte die Kommissionspräsidentin die EU ins Abseits, weil sie jegliche Verhandlung mit Moskau ablehnte. Sie war offensichtlich, wie bei anderen Fragen, mehr an Schlagzeilen interessiert als an einer Problemlösung. Ihre Vorgangsweise erinnert an die seinerzeitige Schrift von François Mitterand, der das monarchische Gehabe von de Gaulle als „Coup d’État permanent“ bezeichnete, einen täglichen Staatsstreich, der letztlich zu einer neuen Interpretation der Verfassung führen sollte.

Macron ruft zum Krieg Europas gegen Russland

Wenn Präsident Macron zum Krieg Europas gegen Russland aufruft, dann will er offensichtlich davon ablenken, in welch katastrophalem politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Zustand sich Frankreich befindet. Außerdem hat Frankreich gerade seine letzten Stützpunkte in Afrika verloren. Die Regierung unter François Bayrou kann jeden Tag gestürzt werden, weil sie im Parlament über keine Mehrheit verfügt. Das Budgetdefizit beträgt das Doppelte dessen, was die Maastricht- Kriterien erlauben, und die Staatsverschuldung hat bereits 114 Prozent des BIP erreicht. Laut einer aktuellen Meinungsumfrage glauben 87 Prozent der Franzosen, die Entindustrialisierung des Landes könne durch Sonntagsreden des Präsidenten nicht aufgehalten werden. Und in allen Übersee-Besitzungen kam es in den letzten Monaten immer wieder zu schweren Unruhen.

Der früher starke Glaube der Franzosen an ihren Staat ist im Schwinden, nicht zuletzt auch deshalb, weil das Sozialmodell nicht mehr funktioniert. Die Einwanderungspolitik spaltet das Land. Kein Wunder, dass man unlängst in der New York Times lesen konnte: „France is in a deep, deep hole“. Aber gleichzeitig will sich Präsident Macron als oberster Kriegsherr im Kampf gegen Russland profilieren.

Russlandhass zur Selbstprofilierung

Die Außenbeauftragte der EU, Kaja Kallas, wiederum hat dazu aufgerufen, Russland zu besiegen, ohne näher auszuführen, wie der Sieg über eine Atommacht aussehen kann. Sie glaubt offensichtlich, Russlandhass allein sei eine geeignete Grundlage für eine europäische Außenpolitik. Auch die grundsätzliche Frage bleibt bestehen, woher jemand, der für die europäische Diplomatie, also für Verhandlungen, zuständig ist, das Mandat für eine Kriegserklärung nimmt. Auch in diesem Fall kann man wohl sagen, Gefahren durch Russland werden dramatisiert, um sich in Szene zu setzen, um persönliche Ziele zu erreichen.

Zweifellos ist es eine Tatsache, dass die jahrzehntelange antirussische Propaganda und die ständige Dämonisierung Wladimir Putins ihre Wirkung nicht verfehlt haben. Viele Menschen in Europa glauben tatsächlich daran, dass die russische Armee umgehend nach Lissabon durchmarschiert, wenn sie von den tapferen Ukrainern nicht aufgehalten wird. Diese antirussische Strategie wurde von langer Hand vorbereitet. Schon im November 2003 brachte die führende britische Wochenzeitung The Economist als Titelgeschichte „Vlad the Impaler“, also Wladimir der Blutsauger, über den gerade gewählten russischen Präsidenten. Unzählige Hassartikel folgten in den US-amerikanischen und europäischen Medien. Vor allem wollte man die westliche Öffentlichkeit davon überzeugen, dass schon ein Gespräch mit dem russischen Präsidenten unzulässig ist und dass Russland auch keine nationalen Interessen haben darf.

In der Wochenendausgabe vom 17. Mai kritisierte die Neue Züricher Zeitung unter der Überschrift „Russland ist kein Partner“ sogar die Aussage deutscher Politiker „reden ist besser als schießen“. Zu begründen versucht man das damit, dass Russland eine Gefahr für Deutschland geworden sei. Aber gerade, wenn das so wäre, wäre es wohl besser, umgehend Verhandlungen einzuleiten, als weiter einen Krieg vorzubereiten. Und dass diese anti-russische Propaganda in allen Bereichen stattfindet, zeigt etwa eine Ausstellung von Nadya Tolokonnikova im Museum of Contemporary Art (MOCA) in Los Angeles: Dort wurde der Gründerin der Aktivisten- und Musikgruppe Pussy Riots die Möglichkeit eingeräumt, Russland als Polizeistaat zu präsentieren.

Völkerrechtsbrüche seit dem Zweiten Weltkrieg

In einem besonderen Ausmaß wurden die Medien bemüht, um die Aufrüstung gegen Russland zu rechtfertigen, etwa die New York Times in der Wochenendausgabe vom 17. Mai. In unzähligen Artikeln kann man lesen, der russische Einmarsch in die Ukraine sei der erste Bruch des Völkerrechts seit dem Zweiten Weltkrieg gewesen, so als hätte es keinen Krieg in Vietnam oder im Irak, keine Bombardierung Serbiens oder Libyens gegeben. Aber was einmal als „unprovozierter Angriffskrieg“ bezeichnet wird, ist ein anderes Mal ein „war of choice“, also ein „Krieg nach Wahl“. Der Krieg in Afghanistan wurde als „stability mission“, eine Mission zur Stabilisierung des Landes, präsentiert, der Einmarsch in den Irak als „Democracy Building“, also zur Errichtung der Demokratie, und das Bombardement Libyens 2011 überhaupt als „responsibility to protect“, übersetzbar als „verantwortungsvolle Bombardierung zum Schutz“, dargestellt. Nicolas Tenzer ist einer unter vielen, der zum Sieg der Ukraine über Russland aufgerufen hat. Gleichzeitig stellt er in einem Beitrag für L´Observatoire fest, dass Russland aufgrund der Abwanderung der Fachkräfte und des Niedergangs der Wirtschaft ohnehin als Großmacht am Ende sei. Diese Darstellung liegt ganz auf der Linie jener europäischen Staats- und Regierungschefs, die bedingungslose Solidarität mit Kiew zeigen und den Kampf bis zum letzten Ukrainer fortsetzen wollen.

Dass es sich beim Krieg in der Ukraine um einen Stellvertreterkrieg handelt, hat selbst der US-amerikanische Außenminister Marco Rubio ausgeführt. Dieser Krieg sei, so sagte er, in Wahrheit ein Krieg zwischen Russland und dem Westen. Dabei lassen sich die US-Interessen bis zu den Studien von Zbigniew Brzeziński zurückverfolgen. Dieser führte in seinem Buch „The Grand Chessboard“ bereits in den 1990er-Jahren aus, dass die USA unbedingt die Oberhoheit über die Ukraine gewinnen müssen, wenn sie Eurasien beherrschen wollen. Gleichzeitig würde Russland damit seinen Status als Großmacht verlieren.

Wer kämpft denn gegen wen in der Ukraine?

Nun hat die New York Times am 2. April unter der Überschrift „US in a tight wartime bond with Ukraine“ im Detail ausgeführt, welche Rolle die USA in diesem Stellvertreterkrieg übernommen haben. Darin wird im Detail dargestellt, dass die USA, weit über die Lieferung von Waffen im Wert von 66,5 Milliarden US-Dollar hinaus, die Kriegsführung in der Ukraine in den Bereichen Strategie, Aufklärung, Technologie bis hin zum Einsatz an der Front übernommen haben. Selbst die Bewegungen der Soldaten im Feld werden von US-amerikanischen Experten gelenkt. Dabei war die Grundidee, dass die US-amerikanische Beteiligung die russische Überlegenheit hinsichtlich der Zahl der Soldaten und der Feuerkraft ausgleichen würde. Die US-Amerikaner haben dafür sogar die „Task Force Dragon“ geschaffen. Die geheime Kommandozentrale dafür ist in Wiesbaden. Dort haben US-amerikanische und ukrainische Offiziere für jeden Tag mithilfe von Satellitenbildern genaue Kampfziele festgelegt. Diesen hat man den Decknamen „Points of interest“ gegeben und gehofft, damit die unmittelbare US-amerikanische Beteiligung verschleiern zu können.

Schon im Frühjahr 2022 hat die Biden-Administration hochentwickelte Waffensysteme, wie etwa High Mobility Artillery Systems (HIMARS), geliefert. Dabei war das Ziel nicht nur, die Ukraine zu unterstützen, es ging vielmehr darum, Russland zu schwächen. Wenn nunmehr Donald Trump den Krieg in der Ukraine beenden will, die Europäer aber weiter kämpfen wollen, um Russland zu besiegen, so ist das eine äußerst gravierende Entscheidung. Dies insbesondere auch deshalb, weil die Ukraine dabei ist zu verbluten. So wird in einem Artikel der ausgesprochen pro-ukrainischen französischen Tageszeitung Le Monde vom 16. Mai der demographische Niedergang des Landes aufgezeigt. Zählte die Ukraine im Jahr der Unabhängigkeit 1991 noch 52 Millionen Einwohner, so waren es nach offiziellen Angaben 2022 nunmehr 41 Millionen. Ende 2024 wurden nur noch 36 Millionen Einwohner, davon fünf Millionen in den besetzten Gebieten, registriert.

Der Krieg hat die Entwicklung des Landes gebrochen. Die Zahl der Toten ist dreimal so hoch wie jene der Neugeborenen. Demnach würde die Bevölkerungszahl des Landes bis zum Jahre 2050 auf 25 Millionen sinken und auf lediglich 15 Millionen eine Generation später. Diese Zahlen stützen sich auf Berechnungen des Think-Tanks „Frontier Institute“.

„As long as it takes“

Wenn also europäische Eliten weiter auf Krieg in der Ukraine setzen – wie lange es auch dauern wird, wie oft von EU-Politikern aus Brüssel zu vernehmen ist – und einen weiteren Krieg gegen Russland vorbereiten, dann laufen sie Gefahr, den Anschluss an die Geschichte zu verlieren. Wenn nunmehr ein 17. Sanktionspaket gegen – trotz Ablehnung der EU-Mitglieder Slowakei und Ungarn – Russland beschlossen wurde, dann steht wohl fest, dass Moskau die bisherigen, sehr harten Strafmaßnahmen nur mit Unterstützung des Globalen Südens, allen voran den BRICS-Ländern, überstehen konnte. Es zeigt, dass die internationale Konstellation immer mehr auf eine Trennung „The West against the Rest“, der Westen gegen den Rest der Welt, hinausläuft. China hat, bei allen Schwierigkeiten, die das Land haben mag, eine weltweite Führungsrolle in wesentlichen Bereichen, von der Künstlichen Intelligenz bis hin zu den erneuerbaren Energien, übernommen. Allein Huawei beschäftigt auf seinem Campus in Shanghai 35.000 Forscher. Die USA unternehmen unter Donald Trump größte Anstrengungen, wieder stärker zu werden, ohne Rücksicht auf Freund und Feind. Gleichzeitig liegt der EU-Fokus darin, einen neuen Krieg gegen Russland vorzubereiten. Die Geschichte wird letztlich jene zur Verantwortung ziehen, die heute für diese Politik verantwortlich sind, und die nächste Generation wird die Rechnung dafür bezahlen müssen.


Wendelin Ettmayer ist österreichischer Botschafter a.D. und Abgeordneter zum Nationalrat a.D.

Titelbild: Photo by Stijn Swinnen on Unsplash

 

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