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„85 Prozent der Menschheit – und wir schauen weg“

Trotz dramatischer Krisen, wachsender politischer Bedeutung und 85 Prozent der Weltbevölkerung: Der Globale Süden kommt in deutschsprachigen Medien nur in etwa zehn Prozent der Berichterstattung vor. Ein breites Bündnis aus Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Hilfsorganisationen fordert ein radikales Umdenken.

„In einer sich zunehmend globalisierenden Welt kann es sich der Globale Norden nicht leisten, eine Mauer des medialen Desinteresses aufrecht zu erhalten und über die politischen Zustände und Entwicklungen im Globalen Süden uninformiert zu bleiben“, heißt es in dem veröffentlichten Positionspapier. Unterzeichnet wurde es von über 1.300 Personen, darunter rund 750 Professorinnen und Professoren, sowie von über 150 wissenschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Institutionen. Zu den prominenten Namen zählen Aleida Assmann (Friedenspreisträgerin des Deutschen Buchhandels), Roger Blum (ehem. Präsident Schweizer Presserat), Klimaforscherin Sabine Gabrysch, Ex-Münchner-Sicherheitskonferenz-Chef Christoph Heusgen, Philosoph Thomas Pogge und Wissenschaftsjournalist Ranga Yogeshwar. Unterstützerorganisationen wie MISEREOR, World Future Council, Academics Stand Against Poverty, VENRO oder das Global South Studies Center Köln verstärken die Forderungen.

Ein strukturelles Problem

Die Analyse ist eindeutig: Eine umfassende Langzeitstudie von Kulturwissenschaftler Ladislaus Ludescher zeigt, dass führende Nachrichtensendungen in Deutschland, Österreich und der Schweiz rund 90 Prozent ihrer Berichterstattung dem Globalen Norden widmen. Über den Globalen Süden – von Somalia bis Peru – berichten sie nur, wenn direkte Interessen des Nordens betroffen sind. „Der Globale Süden taucht in der Berichterstattung erst auf, wenn Menschen oder Interessen des Globalen Nordens betroffen sind“, heißt es im Positionspapier. „Das ist zu spät. Vor dem Hintergrund der menschlichen Dimensionen der vergessenen Krisen ist das erschreckend. Vor dem Hintergrund der globalen sicherheitspolitischen Dimensionen ist es unklug und kurzsichtig.“

Vergessene Katastrophen

Als Beispiel nennt das Papier die Hungersnot in Somalia 2011, bei der mehr als eine Viertelmillion Menschen starben, die Hälfte davon Kinder unter fünf Jahren. Währenddessen dominierten in den Hauptnachrichten Themen wie die Tsunami-Katastrophe in Japan, die europäische Schuldenkrise oder der NATO-Einsatz in Libyen. „Die Hungersnot in Somalia ist in der Öffentlichkeit praktisch nicht präsent gewesen“, so die Autorinnen und Autoren.

Öffentlich-rechtliche Defizite

Die Kritik richtet sich auch an die öffentlich-rechtlichen Anstalten. Trotz eines gesetzlichen Auftrags zur internationalen Berichterstattung würden nur rund vier bis fünf Prozent der Einnahmen in Informationsangebote fließen – für Sportberichterstattung dagegen fast das Doppelte. „Für die Lebensumstände von 85 Prozent der Weltbevölkerung im Globalen Süden werden nur einige Promille des Budgets aufgewendet.“

Forderung nach Kurswechsel

Das Netzwerk „Globaler Süden in den Medien“ will Redaktionen, Medienpolitik und Öffentlichkeit sensibilisieren, Budgets umschichten und ein dauerhaftes Forum für Debatten schaffen. Ziel sei eine „quantitativ umfangreichere und vor allem konsequente Berichterstattung“ – nicht nur über Krisen, sondern auch über positive Entwicklungen, Innovationen und kulturelle Vielfalt im Globalen Süden.

Ein Weckruf

„Es geht nicht um Moral, sondern um die Tatsache, dass der Norden längst am Geschehen im Süden beteiligt ist – auch wenn er das ignoriert“, kritisiert das Positionspapier. Und weiter: „Erst zu handeln, wenn Probleme den Westen erreichen, ist zu spät.“ Wer die Augen vor 85 Prozent der Menschheit verschließe, gefährde nicht nur humanitäre Prinzipien, sondern auch die eigene sicherheitspolitische Zukunft.

Titelbild: erstellt mit KI (ChatGPT)

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