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Auf Augenhöhe

Ein Buch des Fotografen Tom Krausz zeigt so sensible wie eindrucksvolle Vogelporträts im Dialog mit Texten von Elke Heidenreich und Urs Heinz Aerni

Ein Gastbeitrag von Katja Hachenberg

Vögel begleiten uns zeitlebens, vom Klapperstorch als Symbol für die Geburt eines Kindes bis zum Waldkauz als Totenvogel, der, gemäß Volksglauben, auffallend oft zur Stelle ist, wenn ein Mensch im Sterben liegt. Vögel markieren mit ihrem Gesang den Tagesbeginn und das Ende des Tages. Der archaische Flug der Wildgänse markiert Jahr für Jahr das Ende des Sommers und des Winters. Jedesmal wieder ist es ein bewegendes Ereignis, die Rufe der Zugvögel zu vernehmen und ihre V-Formation am Himmel zu sehen. Vögel sind Sehnsuchtsbild und Projektionsfläche des Menschen, Gegenstand zahlreicher Texte, Mythen, Bilder und Lieder. Sie sind allgegenwärtig mit ihren Stimmen und Rufen, dem Rauschen ihres Gefieders — und ihrer Schönheit, die uns staunen lässt. Die österreichische Autorin Marlen Haushofer verfasste am 26. Februar des Jahres 1970, wenige Wochen vor ihrem Tod, einen letzten Text, der als so etwas wie ihr „literarisches Testament“ gilt, und in dem die Vögel eine besondere Erwähnung finden:

„Und was ist die Seele? Wahrscheinlich hast Du nie eine gehabt, nur Verstand, und der war nicht bedenkend der Gefühle. Oder war da manchmal noch etwas anderes? Für Augenblicke? Beim Anblick von Glockenblumen oder Katzenaugen und des Kummers um einen Menschen, oder gewisse Steine, Bäume und Statuen; der Schwalben über der großen Stadt Rom.“

Im Kinderbuch-Klassiker „Der geheime Garten“ von Frances Hodgson Burnett wird ein Rotkehlchen zum wichtigsten Begleiter der einsamen Protagonistin, führt sie zu einem verrosteten Schlüssel und zum geheimen Garten. Die Spatzen von Paris — „Tschibedi-Tschip, Tschibedi-Tschip-Tschip-Tschip“ — schauen in alle Fenster der Stadt und erzählen sich am Eiffelturm, „was man gesehen hat“. In der eigenen Erinnerung zeigen sich Orte eng mit der Anwesenheit von Vögeln verknüpft.

Der in Hamburg geborene Fotograf und Filmemacher Tom Krausz spürt in seinem Buch „Aves Vögel Charakterköpfe“, 2020 im Dölling und Galitz Verlag erschienen, im Dialog mit Texten von Elke Heidenreich und Urs Heinz Aerni jener spezifischen Gruppe der Wirbeltiere nach, deren Vertreter als gemeinsame Merkmale unter anderem Flügel, eine aus Federn bestehende Körperbedeckung und einen Schnabel aufweisen. Seine so bemerkenswerten wie berührenden Fotoporträts in Schwarz-Weiß zeigen in subjektiver Auswahl 65 Vogelarten: würdevoll und skeptisch, kämpferisch und verletzlich erscheinende Gesichter. Das Buch, das einen Essay des Literaturwissenschaftlers Dietmar Schmidt zur Physiognomie sowie des Weiteren biologische Zusatzinformationen zu den gezeigten Vogelarten enthält, führt Bild und Text zu einem Gesamtkunstwerk zusammen.

„Sie sehen uns an“

Bartkauz von Tom Krausz

Noch nie, schreibt Elke Heidenreich in ihrem einleitenden Text, habe sie in so viele faszinierende Vogelgesichter geblickt wie in diesem Buch: Wir sehen „sprechende Gesichter, Charakterköpfe: Rechtsanwälte, Mafiosi, Hausfrauen, Charmeure, Betrüger und Naive — wie im richtigen (Menschen-)Leben —, wir sehen den Punk und den strengen Gelehrten“. Die fotografischen Arbeiten von Tom Krausz lassen uns, so Heidenreich, die Individualität jedes einzelnen dieser Tiere begreifen: „Sie sehen uns an“. „Auge in Auge“, betitelt denn auch Krausz seine einführenden Worte: Ein Mensch und ein Vogel stehen sich gegenüber. Die Faszination für Vogelgesichter sei der ausschlaggebende Impuls für den Beginn dieses Buchprojekts gewesen, bemerkt der Fotograf. Schon des Öfteren hatte er Vögel in freier Wildbahn fotografiert und wusste, dass es dabei um „Geduld, Ruhe und immer wieder auch um Glück“ bei den Aufnahmen geht. Jedoch die Konzentration auf klassische Schwarz-Weiß-Porträts als Profil, Halbprofil, Frontalaufnahme oder Brustbild sei zunächst ungewohnt für ihn gewesen. Nach anfänglichen mittelmäßigen Erfolgen habe er sich für ein neues Objektiv entschieden, ein längeres Teleobjektiv, was wiederum neue Probleme mit sich gebracht habe: Man müsse die Vögel im richtigen Licht antreffen, um sehr kurze Belichtungszeiten zu ermöglichen. Mit dem neuen Objektiv konnte Krausz den Vögeln „endlich in die Augen schauen. Plötzlich und begeistert erkannte ich unruhige Blicke, die müden Augen eines Watvogels, die hellwache Jägeriris, ich sah Neugierde, Stolz, aber auch Misstrauen.“ Für die meisten Vögel, die ja mithilfe ihrer außerordentlichen Sehkraft leben und überleben, sei er genauso im Fokus gewesen wie sie für ihn: Eine interessante Umkehr der Perspektive, die den Schauenden selbst zum Angeschauten, den Beobachter zum Beobachteten macht, und zu Empathie führt. Manche Vögel hätten ihre Mätzchen gemacht, berichtet Krausz, wenn die Kamera auf sie gerichtet war, wie zum Beispiel der Kea oder „die immer zu Späßen aufgelegten Tukane und Papageien“. Einige der Aufnahmen entstanden auf Reisen in Neuseeland, Galapagos und Schottland, die meisten jedoch im Weltvogelpark Walsrode und im Vogelpark Niendorf an der Ostsee. Im eigenen Garten fotografierte Krausz Elster, Sperling, Meise und Co. Seine Absicht sei es, mit seinen „Charakterköpfen“ zu vermitteln, welche erstaunliche Vielfalt die Vogelwelt — die artenreichste Klasse der Landwirbeltiere — aufweise. Viele der abgebildeten Vögel sind als eigene Art vom Aussterben bedroht. Im Buch wird in den Informationen zu jedem Vogel angegeben, welchen Status die IUCN (International Union for Conservation of Nature) der jeweiligen Vogelart zuordnet. Darüber hinaus unterliegen viele Arten Gefährdungen, die oft nur in regionalen „Roten Listen“ verzeichnet sind.

„Grauwerte von Farben“

Dietmar Schmidt geht in seinem Kurzessay „Der erste und der letzte Blick“ auf Begriff und Geschichte der Physiognomik ein und stellt die Frage, inwiefern ein physiognomischer Blick noch zeitgemäß, ob eine Wahrnehmung, die von einem reduzierten, aus Zusammenhängen herausgelösten Bild ausgehe, dem heute geforderten (ganzheitlichen) ökologischen Denken angemessen sei. Die Fotografien von Tom Krausz würden von einer eindrucksvollen ästhetischen Entscheidung geprägt: „Sie sind in Schwarz-Weiß. Sie zeigen die Grauwerte von Farben, nicht ihre Buntheit“. Zusätzlich zur besonderen Fokussierung der Porträtfotografie (ihrer Ausblendung von Umgebungen, ja, von Teilen des Körpers) führe dies zu einer weiteren spürbaren Konzentration: „Wenn wir ehrlich sind, bleibt uns nichts als die Physiognomie. Unsere Tierliebe gilt heute den Individuen“.

Die porträtierten Vögel werden nach Luft-, Wasser-, Lauf- sowie Ansitz- und Lauerjägern kategorisiert, des Weiteren nach Aasfressern, Wassersuchern, Baumsammlern und/oder Bodensammlern.

Fakten mit Humor

Die Texte von Heidenreich und Aerni — des Schweizer Journalisten, Autors und Kulturvermittlers, der zudem bei „BirdLife“ ausgebildeter Feldornithologe ist und über sich sagt: „Immer schon spürte ich in mir eine ornithologische Affinität, keinen blassen Schimmer, woher. Als Bub schlich ich fernglasbewehrt über Wiesen und durch Felder, während meine Kumpels die Mopeds frisierten“ — treten in Dialog mit den jeweiligen Vogelgesichtern, greifen auf literarische Bezüge bis hin zu Mittelalter und Minnesang zurück und zeigen die durchgängige und vielgestaltige Präsenz der Vögel im Leben der Menschen auf. Viel Wissenswertes ist zu erfahren, beispielsweise, warum der Tukan es schafft, mit seinem Riesenschnabel, der doch immerhin mehr als ein Drittel seiner gesamten Körperlänge beträgt, nicht nach vorne zu kippen: Der Grund hierfür ist, dass der Schnabel fast nichts wiegt, er ist „federleicht, leichter als Kork, äußerst stabil, und Flugzeugbauer denken über so ein Wundermaterial bereits nach für ihre Konstruktionen“. Die Texte verbinden Fakten mit Humor und nachdenklicheren Tönen, sind getragen von Sympathie, ja Liebe zu ihrem Gegenstand, nähern sich ihm mal strategisch, mal assoziativ ihrem Thema an.

„Die stille Größe der Schleiereule“

Andenkondor von Tom Krausz

In der Betrachtung der Tierporträts kann man sich verlieren: Man taucht tief ein in diese Gesichter und in das, was sie erzählen mögen, schlüpft imaginär in das gefiederte Gegenüber, führt ein Zwiegespräch mit diesem: Was gibt es zu berichten? Was wurde erlebt? Wovon erzählen diese Augen, dieser Kopf, dieser Schnabel? Tom Krausz lässt uns ganz nah herankommen an diese Tiere, die doch so flüchtig sind und sich einfach in die Lüfte erheben können. Zu jedem Vogel findet sich ein ganzseitiges Porträt in Form eines großformatigen Fotos, immer auf der rechten Buchseite. Links die Fakten: Spezifische Merkmale, Vorkommen, Lebensweise, Rote-Liste-Status (IUCN). Herrlich der wache und klare, aufmerksame Kopf des Turmfalken; der schräggelegte Kopf und das clowneske Gebaren des Krauskopfarassari; die Erhabenheit des Lannerfalken sowie seine unfassbar schöne Gefiederzeichnung; der kritisch-eindringliche, so weise wie fesselnde Blick des Weißkopfseeadlers; die stille Größe der Schleiereule und ihr herzförmiges, helles Gesicht. Imposant das gestrenge Antlitz des Sunda-Fischuhus; die Gefieder-Fülle des Rosaflamingos, aus der ein Auge aufblitzt und uns direkt ansieht; der nonchalante Gesichtsausdruck des Schuhschnabels. Fantastisch der entzückende Federkragen des gefährdeten Kea, um dessen Muster, wie Heidenreich bemerkt, „ihn selbst Coco Chanel beneiden würde“;  äußerst attraktiv der Kopfschmuck von Blauem Pfau (nur seine Federn, nur die Pfauenfedern, erfahren wir im Begleittext, dürfen als Lesezeichen in den Koran gelegt werden), Fächertaube (potenziell gefährdet) und Kronenkranich (gefährdet).

„Balanceakt zwischen Information und Genuss“

„Aves Vögel Charakterköpfe“ ist ein so schönes wie beeindruckendes, so unterhaltsames wie informatives, so kurzweiliges wie nachdenklich stimmendes Buch. Es wurde nominiert für den „Black & White Spider Award 2020“, stand auf der Shortlist beim „Deutschen Fotobuchpreis 2021“ sowie auf der Hotlist von Bayerns „Beste Independent Bücher“ (2020). In sich ausgewogen, meistert es bravourös den schwierigen Balanceakt von Information-Genießen-Schauen-Verweilen-Aufmerksamkeit und Bewusstsein schaffen. Nie kommt es belehrend daher, immer aber persönlich und nahbar. 

Wer nun auf den Geschmack gekommen ist, den Spuren jener so faszinierenden wie flatterhaften gefiederten Wesen weiter zu folgen, dem sei die aktuelle Ausstellung „Für die Vögel“ des MGKSiegen ans Herz gelegt, die sich — noch bis zum 9.11.2025 — der kulturellen Relevanz von Vögeln in künstlerischen Erzählräumen der Gegenwart widmet und die Bedeutung der Vögel in verschiedenen Kontexten thematisiert; zudem der Bildband „Vögel“ des Londoner Fotografen Tim Flach, erschienen im Knesebeck Verlag; schließlich ein Vogelspaziergang „mit Geschichten drum herum“ in Begleitung von Urs Heinz Aerni.


Tom Krausz: Aves Vögel Charakterköpfe.
Texte Elke Heidenreich & Urs Heinz Aerni
Dölling und Galitz Verlag München, Hamburg, 2020
ISBN 978-3-86218-133-9

Katja Hachenberg wurde in Rheinland-Pfalz geboren, studierte Germanistik, Philosophie und Sozialwissenschaften an der Universität Siegen, wirkte u. a. als Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Kassel und promovierte im Fachgebiet „Literatur und Medien“. Nach beruflichen Stationen in Kassel und Karlsruhe, lebt sie heute in der Region Westerwald-Siegen in Rheinland-Pfalz. Sie veröffentlichte mehrere Bücher u. a. „Welt ohne Inventar“ zusammen mit Reinhard Voss (2017), „Yellow room“ (2014), „Der Berg der Vergessenheit“ (2013).


Titelbild: Coverausschnitt von Tom Krausz: Aves Vögel Charakterköpfe (Dölling und Galitz Verlag)

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