Im Unterschied vereint
Neun Monate in Lateinamerika: Brasilien, Uruguay, Argentinien, Chile, Bolivien und Peru. Der erste Teil eines politischen Reiseberichts samt Skizzen von Verbindendem und Trennendem.
Von Michael Wögerer (Zeitschrift INTERNATIONAL, Heft III/2025)
Jetzt auch als Podcast (Audio-Zusammenfassung):
Es war ein langersehnter Traum, der in den vergangenen Monaten endlich in Erfüllung gegangen ist. Nach meinem Auslandssemester in Kuba vor über 18 Jahren, im Zuge meines Studiums der Politikwissenschaft, hat mich der Wunsch nach mehr nicht mehr losgelassen. Mehr erfahren über Nuestra América (José Martí); Land, Kultur und Leute kennenlernen und möglichst hautnah spüren, wie das Leben so ist in der „Neuen Welt“, die von alten Traditionen geprägt ist und zugleich neue, teilweise hoffnungsvolle Perspektiven aufzeigt.
Am 11. September, mit dem Flug von Lissabon nach São Paulo, begann meine Reise mit kleinem Gepäck, aber großer Lust auf Abenteuer. In weiterer Folge schildere ich die zahlreichen Eindrücke von den jeweiligen Ländern in komprimierter Form.
Brasilien
Wenn man als „Bub vom Land“ im kleinen Österreich mit 9,2 Millionen Einwohnern in der mit 12,4 Millionen Einwohnern größten Metropole Brasiliens landet, begegnet man dieser „Monster-Stadt“ São Paulo natürlich mit großem Respekt, zumal die Schlagzeilen über Diebstähle, Gewalt und Morde omnipräsent sind. Insgesamt zeigt sich auch in Brasilien ein starkes Sicherheitsgefälle zwischen Stadt und Land. Die großen Städte, in denen 70 Prozent der brasilianischen Bevölkerung leben, sind soziale Brennpunkte. Die Metropolen sind gespalten in Favelas (Slums) und No-go-Areas auf der einen Seite und Lifestyle- und Gated Communities auf der anderen.
So auch die Situation in Rio de Janeiro, der heimlichen Hauptstadt Brasiliens, in der ich das große Glück hatte, von einer österreichisch-brasilianischen Familie begleitet zu werden. Dies ermöglichte mir Einblicke abseits der touristischen Hotspots wie der Copacabana. So stand auch ein Besuch der berühmt-berüchtigten Favela Vidigal am Programm, die aufgrund von Drogenkriegen und tödlichen Polizeieinsätzen jahrzehntelang als einer der gefährlichsten Orte Rios galt. Mittlerweile haben sich Polizei und das herrschende Drogenkartell arrangiert, die rund 15.000 Einwohner leben in relativer Sicherheit – sofern man sich an die Spielregeln der Drogenbosse hält.
Nach fast einem Monat Brasilien mit weiteren Stationen in kleineren Städten wie Paraty, Curitiba, Blumenau, Florianópolis und Porto Alegre ging es am 10. Oktober 2024 mit dem Bus von Pelotas nach Montevideo, der Hauptstadt von Uruguay, wo ich spannende politische Zeiten hautnah mitverfolgen durfte.
Uruguay
Im mit 3,5 Millionen Einwohnern zweitkleinsten Staat Südamerikas fanden am 27. Oktober vergangenen Jahres Parlaments- und Präsidentschaftswahlen statt – mit ein Grund, rund drei Wochen in der schönen Stadt Montevideo zu verbringen. Zahlreiche Treffen mit Gewerkschaftern und Vertretern der Frente Amplio (FA), einem breiten, linken Parteienbündnis, standen auf dem Programm. Hinzu kamen kleinere und größere Kundgebungen mit bis zu 100.000 Menschen.
Die Stimmung war hoffnungsfroh und siegesbewusst. Die seit März 2020 regierende rechte Koalition aus Partido Nacional und Partido Colorado hatte dem Land durch Privatisierungen und Korruption erheblichen Schaden zugefügt. Insbesondere in der progressiven Hauptstadt Montevideo herrschte Wechselstimmung. Obwohl in der ersten Wahlrunde das Ergebnis der rechten Parteien besser ausfiel als erwartet, setzte sich schließlich bei der Stichwahl am 24. November doch der Linkskandidat Yamandú Orsi (FA) durch und trat am 1. März 2025 sein Amt als neuer Präsident Uruguays an.
Sein Sieg markiert die Rückkehr der Frente Amplio an die Macht, die das Land zwischen 2005 und 2020 regiert hatte. Wie sehr sich die Bevölkerung nach einer Rückkehr einer Politik im Stil von José „Pepe“ Mujica sehnt, war in den vielen Gesprächen, die ich in meiner Zeit in Uruguay führen konnte, deutlich zu spüren. Der am 13. Mai 2025 verstorbene Ex-Präsident gilt über Parteigrenzen hinweg als Volksheld. Ich war tief bewegt, als ich ihn auf einer großen Abschlusskundgebung in Montevideo ein letztes Mal live miterleben durfte.
Argentinien
Ob der aktuelle argentinische Präsident, Javier Milei, jemals zu einem Volkshelden avancieren wird, ist mehr als fraglich. Seit seinem Amtsantritt im Dezember 2023 unterzieht der Anarchokapitalist das Land einer ultraneoliberalen Schocktherapie. Mit Milei wurde die Kettensäge angeworfen – seither können die Argentinier den Kahlschlag ihrer letzten verbliebenen sozialen Errungenschaften hautnah miterleben. Im ersten Halbjahr der radikalliberalen Regierung ist die Zahl der von Armut betroffenen Menschen auf über 53 Prozent der Bevölkerung gestiegen – fast 20 Prozent haben nicht genug Geld, um sich richtig zu ernähren. Auf den Straßen von Buenos Aires ist diese Armut unübersehbar.
Mein neuer Freund Claudio Ottone von der kommunistischen Online-Zeitung Nuestra Propuesta beschreibt die Situation in Argentinien metaphorisch: „Milei schüttelt die Champagnerflasche wie ein Wilder, es ist nur eine Frage der Zeit, bis der Korken knallt.“
In meiner Zeit in Buenos Aires Anfang November war wenig Widerstand gegen die radikale Kürzungspolitik zu spüren. Es hatte den Anschein, als würden sich Gewerkschaften und soziale Bewegungen in einer gewissen Schockstarre befinden. In persönlichen Gesprächen wurden mir aber die täglichen Entbehrungen klar gemacht. „So kann es nicht weitergehen!“, war der weitverbreitete Tenor. Meine Reise durch Argentinien führte mich auch zu touristischen Hotspots wie den Wasserfällen von Iguazú und Moconá, nach Rosario, der Geburtsstadt von Ernesto Che Guevara, und schließlich von Cordoba über Mendoza nach Santiago de Chile.
Chile
Auf meiner Tour durch Chile von Santiago über San Felipe nach Valparaíso und weiter Richtung Norden (La Serena, Copiapó, Antofagasta, Iquique) war ein Thema omnipräsent: Die Schatten der Vergangenheit. Wer das Andenland mit offenen Augen bereist, stößt unweigerlich auf die zahlreichen Orte, wo zu Zeiten Pinochets (1973–1990) fast 17 Jahre lang gefoltert und gemordet wurde. Die Verbrechen fanden in allen Regionen Chiles und in allen größeren Städten statt. Sie wurden vor allem in Konzentrationslagern, Gefängnissen, Kasernen und auf Schiffen begangen.
Auf meiner Reise durch den Norden hatte ich die besondere Ehre, mit Zeitzeugen zusammenzutreffen. Bei einem Treffen in La Serena berichteten José, Hernan, Juvenal, Luis und Franklin über ihr politisches Engagement zu Zeiten Salvador Allendes und die schrecklichen Dinge, die sie nach dem Putsch erleiden mussten. Nach Verhaftung und Folter, die sie überlebt hatten, mussten viele ins Exil gehen, um den Schergen Pinochets zu entkommen.

Wie geht die chilenische Gesellschaft heute mit den Verbrechen der Diktatur um? Welche Lehren wurden daraus gezogen? Ist die Transition zur Demokratie gelungen? Diese Fragen tauchten in meinen Gesprächen immer wieder auf. Abgesehen von den direkt Betroffenen will ein Großteil der Chilenen von der Vergangenheit nicht viel wissen. Sie verschließen die Augen vor den Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die damals auch vor ihren Augen passiert sind. Das Ziel der Diktatur, das Volk durch Repression, Folter und Tod einzuschüchtern, wirkt bis heute – obwohl diese seit über 30 Jahren vorbei ist. Der Schmerz der Vergangenheit sitzt tief.
Bolivien

Vom chilenischen Iquique aus ging es am 25. Dezember mit dem Bus nach Oruro, einer traditionellen Bergbau-Stadt im Hochland des bolivianischen Andenmassivs, und am 27. Dezember weiter in die konstitutionelle Hauptstadt Sucre, wo ich den Jahreswechsel verbrachte. Eine zentrale Frage, die mich und viele lateinamerikanische Freunde, mit denen ich zusammentraf, schon länger in Bezug auf Bolivien begleitet hatte, war, wie man die Spannungen zwischen der aktuellen Regierung unter Präsident Luis Arce (seit November 2020) und dem ehemaligen Präsidenten Evo Morales Ayma (2006–2019) einschätzen soll.
Offen gestanden habe ich auch nach meinem rund dreiwöchigen Bolivien-Aufenthalt (u.a. in Cochabamba und La Paz) keine eindeutige Erklärung für den „inner-linken“ Konflikt. Einiges deutet auf persönliche Eitelkeiten der handelnden Personen hin, andererseits gibt es auch klare Anzeichen dafür, dass Morales’ Kritik an der „neoliberalen Politik“ seines Nachfolgers durchaus Berechtigung hat. Das Leben der Bolivianer ist jedenfalls in den letzten Jahren nicht einfacher geworden, besonders die ländliche Bevölkerung leidet unter Versorgungsmangel, die Gewalt nimmt zu. Welche Auswirkung die sozialen und politischen Spannungen auf die Präsidentschaftswahlen am 17. August haben werden, ist auch wenige Monate davor schwer vorauszusagen.
Peru
Auch Boliviens Nachbarland Peru durchlebt schwere Zeiten. Die Sicherheitslage hat sich unter der sich nach rechts gewendeten Präsidentin Dina Boluarte deutlich verschlechtert. Während meines Aufenthalts im Januar und Februar 2025 lag die Zahl der Morde nach offiziellen Angaben bei 368 und war damit mehr als dreimal so hoch wie im selben Zeitraum 2018.
In den touristischen Hochburgen (Cusco, Machu Picchu) und in den teuren Wohngegenden in Lima ist von der prekären Sicherheitslage im Land jedoch wenig zu bemerken. „In dieser Gegend wird alles mit Kameras überwacht“, erklärte mir eine Hotelangestellte in Miraflores, einem der reichsten Stadtteile Limas. Die Gegend unterscheidet sich auch kaum von europäischen Städten – inklusive Starbucks, McDonald’s & Pizza Hut. Abgesehen davon war Peru landschaftlich und kulturell eines der Highlights meiner Reise. Wer einmal in Raqchi vor den Toren des Inka-Tempel Wiracocha stand oder von oben auf die berühmte Ruinenstadt Machu Picchu blickte, wird mich verstehen.

Vieles ist mir im Zuge meiner Reise durch Süd- und Mittelamerika bewusst geworden, eine Sache sprang mir jedoch besonders ins Auge: Die Länder Lateinamerikas sind unterschiedlicher, als man denkt – den klischeehaften Latino oder die typische Latina gibt es nicht. Aber dennoch: Die Völker des amerikanischen Halbkontinents haben historisch und aktuell viele Gemeinsamkeiten. Umso wichtiger ist es, dass sie ihre Anliegen artikulieren und Kräfte bündeln. Das wurde mir auch auf der weiteren Reise durch Kolumbien, Panama, Costa Rica, Nicaragua, El Salvador, Mexiko und Kuba immer stärker bewusst. Mehr dazu im zweiten Teil dieses politischen Reiseberichts in der kommenden Ausgabe (Heft IV) der Zeitschrift INTERNATIONAL.
Michael Wögerer ist Gewerkschafter und freier Journalist, Gründer und Mitherausgeber des Online-Projekts „Unsere Zeitung – DIE DEMOKRATISCHE.“ sowie stv. Chefredakteur von INTERNATIONAL.
Mehr von ihm auf seinem Reiseblog: alerta.media
Titelbild: Favela neben Hochhäuser in Rio de Janeiro (Brasilien), Foto: Michael Wögerer

