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Schreiben als „Wundbehandlung“

Wie wandelt sich tief empfundenes Leid in Literatur? Dieser Frage widmet sich Margherita Zander in ihrer tiefgründigen Studie Verwandeltes Leid: Resilienzprozesse in Autobiografien schwieriger Kindheiten. Anhand der Lebenswege von sieben namhaften Autorinnen und Autoren untersucht die Resilienzforscherin, inwiefern das literarische Schaffen selbst zum tragenden Schutzfaktor wurde.

Margherita Zanders Werk ist als qualitative Fallstudie konzipiert und beleuchtet die Biografien von Christine Lavant, Frank McCourt, Thomas Bernhard, Peter Härtling, Natascha Wodin, John Burnside und Angelika Klüssendorf. Die Auswahl der Porträtierten eint die Erfahrung einer „äußerst schwierigen Kindheit“, die von einer Vielzahl bedrohlicher Risikofaktoren geprägt war. Dazu zählen chronische Armut (McCourt, Lavant), der frühe Verlust der Eltern (Härtling), Ablehnung durch die leibliche Mutter (Bernhard), Gewalterfahrungen in der Familie, die Not der Flucht im Gefolge des Zweiten Weltkriegs (Härtling) und das Aufwachsen als „Displaced Person“ (Wodin). Selbst lebensbedrohliche Erkrankungen in Kindheit und Jugend, wie Thomas Bernhards schwere Lungenerkrankung, gehören zu den durchstandenen Widrigkeiten.

Die zentrale Hypothese Zanders ist, dass sich das Schreibtalent als wesentlicher personaler Schutzfaktor bei der Lebensbewältigung erwiesen hat. Die Autorin argumentiert, dass das Verfassen autobiografischer oder autofiktionaler Texte, welches oft das Resultat langwieriger Reflexionsprozesse ist, bereits als ein Resilienzprozess an sich betrachtet werden kann. Es erfordert eine enorme innere Stärke, sich den schwierigsten Seiten der eigenen Herkunft zu stellen, bevor das Ich gestärkt hervorgehen kann.

Zander anerkennt die inhärenten methodischen Schwierigkeiten dieses Genres: Autobiografien sind „Konstrukte der Erinnerung“ und können in ihrer faktischen „Wahrhaftigkeit“ stets angezweifelt werden. Thomas Bernhard thematisierte diese Problematik explizit, indem er die Unmöglichkeit betonte, innere Befindlichkeiten „wahrheitsgemäß und wahrheitsgetreu“ zu kommunizieren. Dennoch liegt der Erkenntnisreichtum dieser Zeugnisse in der „subjektiven Wahrheit“ der Erlebnisberichte. Das Schreiben ermöglichte den Porträtierten, erfahrenes Leid produktiv aufzuarbeiten und in ein tragfähiges Selbstbild zu verwandeln.

Dieser Prozess wird von den Schriftstellern selbst reflektiert. Peter Härtling etwa bezeichnete das Schreiben als eine „Wundbehandlung“. Er beschrieb, wie er versuchte, „Schritt um Schritt“ den Umgang mit dem erlittenen Trauma zu lernen. Auch Thomas Bernhard, der gegen eine unheilbare Lungenkrankheit ankämpfen musste, sah in der Kunst insgesamt nichts anderes als eine „Überlebenskunst, sie ist der alles im allem doch immer wieder auf selbst den Verstand rührende Weise gemachte Versuch, mit dieser Welt und ihren Widerwärtigkeiten fertig zu werden“.

Christine Lavant beschrieb die existenzielle Bedeutung des Schreibens in einem Brief mit eindringlicher Ambivalenz:

„Aber das Schreiben ist halt das Einzige was ich habe. Es ist meine schmerzhafte Stelle u. zugleich die heilende Salbe“

Das Verfassen von Lyrik war ihr Lebensinhalt, Lebenshilfe, Lebensberechtigung und Lebensersatz zugleich.

Die Analysen zeigen jedoch differenziert auf, dass die Resilienzwege höchst unterschiedlich verlaufen und keineswegs alle „gleichermaßen geglückt“ endeten.

  • Christine Lavant ist ein Beispiel für eine „phasenspezifische Resilienz“. Trotz ihrer phänomenalen Produktivität in der Lebensmitte – in einem Jahrzehnt verfasste sie etwa 1.800 Gedichte und 1.800 Seiten Prosa –, erlahmte ihre Widerstandskraft, als sie ihren Geliebten verlor. In ihren späteren Jahren litt sie unter zunehmender körperlicher Schwäche und Depressionen; ihre dichterische Gabe versiegte. „Resilienz ist keine Lebensversicherung“, so das nüchterne Fazit.
  • Natascha Wodin bewältigte eine extreme Konzentration an Risiken, die sie als Kind ehemaliger Zwangsarbeiterin erlebte, nahezu ausschließlich gestützt auf personale Schutzfaktoren. Diese frühe Widerstandskraft forderte im Erwachsenenalter ihren Preis: eine omnipräsente Agoraphobie. Das Schreiben wurde für sie zu einem Rettungsanker und einem Kampf gegen das Schweigen ihrer Umwelt über die traumatische Vergangenheit.
  • Frank McCourt konnte seine Kindheitserinnerungen aus den Slums von Limerick erst im Rentenalter verschriftlichen, als er genügend Abstand vom Zorn auf seine Vergangenheit gewonnen hatte.
  • John Burnside, dessen Jugend von einem brutalen Vater und exzessivem Drogenmissbrauch geprägt war, fand durch das Schreiben zu seiner Bestimmung und nutzte die literarische Arbeit als Weg zur „Selbstfindung und Selbstwerdung“.

Margherita Zanders Buch bietet sowohl der literarisch interessierten Leserschaft als auch dem forschenden Auge der Wissenschaft neue Erkenntnisse, indem es aufzeigt, wie Schriftstellerinnen und Schriftsteller die literarische Kreativität als zentrale Ressource nutzten, um ihre „Altlasten freizuschreiben“.


Prof. Dr. Margherita Zander, Dr. MA in Gesellschaftswissenschaften, Studium in Bonn und Kassel, zuletzt Prof. für Sozialpolitik an der FH Jena (1994–1997) und FH Münster (1997–2012), seit 2012 ist sie emeritiert. Forschungsschwerpunkte: Kinderarmut in Deutschland und Resilienzförderung, dazu diverse Publikationen (margherita-zander.de).

VERWANDELTES LEID
Resilienzprozesse in Autobiografien schwieriger Kindheiten
(Studien zur Resilienzforschung)
Autorin: Margherita Zander
Buchpreis: € 54,99, E-Book € 42,99,
Bei Amazon gibt es auch eine Version für das Kindle-Lesegerät für € 38,49
Electronic ISBN: 978-3-658-48611-2 Print ISBN: 978-3-658-48610-5
Verlag: Springer Fachmedien Wiesbaden

Rezension: Michael Wögerer (mit Unterstützung von NotebookLM)
Titelbild: KI-generiert (GPT-Image-1/Genspark AI, 2025)

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