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Trümmer und Träume

Acht Jahre nach der Befreiung der irakischen Stadt Mossul aus den Fängen der dschihadistischen Terrormiliz Daesh/Islamischer Staat liegen weite Teile der historischen Altstadt noch immer in Trümmern. Unser Autor ist mit dem Fahrrad in die geschichtsträchtige Stadt am Tigris gereist, um einen Einblick in den Wiederaufbau und die aktuelle Lage vor Ort zu gewinnen.

Von Jan Ritter, Mossul (Zeitschrift INTERNATIONAL, Heft IV/2025)

Die irakische Metropole mit knapp drei Millionen Einwohnern findet in der westlichen Medienlandschaft nur noch selten Erwähnung. Der Krieg und die Besatzung der Stadt scheinen weit in die Vergangenheit gerückt. Nur noch Interessierte können sich daran erinnern, als Abu Bakr al-Baghdadi im Juli 2014 in der historischen Al-Nuri-Moschee bei seinem einzigen öffentlichen Auftritt das Kalifat des Islamischen Staates proklamierte. Was folgte, waren drei Jahre Schreckensherrschaft, systematische Unterdrückung Andersdenkender und die weitgehende Zerstörung des kulturellen Erbes der Stadt.

Es ist Donnerstag, die Außentemperatur beträgt 43 Grad, und die glühende Hitze auf dem Asphalt, zwischen Abgasen und Staub, macht mir das Atmen schwer. In der Früh bin ich mit meinem Fahrrad aus Erbil, der Hauptstadt der Autonomen Region Irak-Kurdistan, aufgebrochen, um mich die 85 Kilometer lange Strecke nach Mossul voranzukämpfen. Auf der größtenteils eintönigen und kerzengeraden Schnellstraße geht es für mich nur langsam voran. Kolonnen an LKWs rauschen an mir vorbei, und immer wieder muss ich Pausen einlegen, um meinen enormen Flüssigkeitsverlust zu kompensieren. Zwar sind die Formalitäten an der Grenze zwischen Kurdistan und Zentralirak schnell erledigt und es wird mir eine gute Zeit im Irak gewünscht, so recht genießen kann ich meine ersten Stunden noch nicht. Ich bin überglücklich, als mich am frühen Nachmittag der Stadtverkehr verschluckt und ich über den Tigris auf das Westufer der Stadt gelange. In einer belebten Einkaufsstraße erwartet mich ein vierstöckiger, in die Jahre gekommener Hotelbau. Von dem jungen Herrn an der Rezeption werde ich herzlich begrüßt, bei dem Anblick meines Fahrrads fällt er fast aus allen Wolken und fragt, wie es möglich sei, sich jeden Tag stundenlang durch den irakischen Sommer zu quälen. Ich lächle ein wenig, bin mental aber schon in meinem Zimmer und nicht in der Lage, eine adäquate Antwort zu geben. Völlig entkräftet verbringe ich den ersten Abend in meinem Hotelzimmer und verfolge von meinem Fenster aus, wie langsam die tieforange Sonne hinter den sandsteinfarbenen Häusern der Stadt verschwindet.

Trockener Frühling und die fortschreitende Klimaerwärmung

Der Autor unterwegs mit Moomen, © Jan Ritter

Am nächsten Morgen bin ich wieder einigermaßen bei Kräften. Auch dank der Klimaanlage, die mir bei Temperaturen von über 30 Grad in der Nacht einige Stunden Schlaf ermöglichte. Während ich in dem kleinen Laden ums Eck frühstücke, muss ich feststellen, dass meine kurdische SIM-Karte hier nicht funktioniert. Für den Moment bin ich daher auf WLAN in meinem Hotel angewiesen, in der Hoffnung, am folgenden Tag eine funktionierende irakische SIM-Karte zu erwerben. Über die Mittagszeit klettert die Temperatur wieder weit über die 40-Grad-Marke, nur wenige Menschen sind auf den Straßen anzutreffen, und die meisten Geschäfte sind geschlossen. Am Nachmittag treffe ich Moomen, einen jungen Studenten der Anglistik und Geschichte, der als Fremdenführer arbeitet und die Jahre zwischen 2014 und 2017 aus nächster Nähe miterlebt hat. Unser Rundgang durch die Altstadt beginnt an der Old Bridge, jener Brücke, die seit den 1930er-Jahren als Lebensader beide Stadthälften miteinander verbindet. „Während des Krieges wurden alle Brücken über den Tigris zerstört, monatelang war es kaum möglich, auf die andere Seite zu gelangen. Erst 2018 konnte die Brücke wieder eröffnet werden“, erzählt Moomen, während wir auf der gewaltigen Stahlkonstruktion stehen und unser Blick über den Tigris streift. Die Brücke führt uns direkt zurück in den historischen Kern Mossuls. Beidseits der Straße preisen Obsthändler ihre Ware an, während sie unter bunten Sonnenschirmen Schutz vor der sengenden Sonne suchen. Je tiefer die Sonne über der mesopotamischen Ebene steht, desto lebendiger und bunter wird das Treiben in den Gassen. Wir biegen nach rechts in den Basar ein. Weite Teile des historischen Marktareals sind inzwischen wieder aufgebaut, jeder verfügbare Meter dient als Verkaufsfläche, und Menschen aus allen Teilen der Stadt kommen hierher, um ihre täglichen Geschäfte zu erledigen. Wir unterhalten uns mit einigen Fischhändlern, die neben frischem Fisch auch gegrillten Masgouf zum Verkauf anbieten. Viele beklagen sich über starke Rückgänge in den Fangnetzen, auch der besonders trockene Frühling und die fortschreitende Klimaerwärmung könnten das Land, welches elementar auf die Wassermassen von Euphrat und Tigris angewiesen ist, in Zukunft vor existenzielle Probleme stellen. Der Tigris führt in diesem Sommer weniger Wasser als in allen Jahren zuvor, keine Aussicht auf Besserung.

Wiederaufbau der Nuri-Moschee gibt Identität zurück

Unser nächster Stopp ist die jahrhundertealte Al-Nuri-Moschee mit ihrer charakteristischen grünen Kuppel und dem leicht gekrümmten, über 40 Meter hohen Al-Hadba-Minarett. In den letzten Kriegstagen wurde sie mutmaßlich von Anhängern des Islamischen Staates (Daesh) als „Eingeständnis ihrer Niederlage“ im Kampf um Mossul in die Luft gesprengt. „Der Wiederaufbau der großen Nuri-Moschee gab der Stadt ein Stück Identität zurück. Jahrhunderte trotzte die Moschee mit dem Schiefen Turm von Mossul allen Widrigkeiten. Erst die Extremisten von Daesh vollbrachten es, die Moschee dem Erdboden gleichzumachen“, erzählt mir Moomen, als wir das liebevoll restaurierte Minarett bestaunen. Gelder aus den Emiraten und der EU machten den Wiederaufbau der so bedeutenden Moschee erst möglich. Unter dem Motto „Revive the Spirit“ startete die UNESCO 2018 ein Projekt mit dem Ziel, wichtige Wahrzeichen und Kulturstätten wieder aufzubauen. Zum Abschluss der Arbeiten besuchte die UNESCO-Generaldirektorin Audrey Azoulay die Stadt und sprach von einem „wichtigen Symbol für die ganze Region im Kampf gegen Terrorismus und Ausgrenzung.“

Nach dem Sieg über die Terrormiliz und nach Jahren des Wiederaufbaus strahle die Stadt wieder in vollem Glanz, war in vielen westlichen Zeitungen zu lesen, sofern es eine Meldung wert war. Dabei braucht man nur wenige Meter von der Moschee entfernt in das Gassengewirr der historischen Altstadt einzutauchen, um ein völlig anderes Bild zu erhalten.

Von Glanz wenig Spur. Vieles liegt nach wie vor unter Trümmern, die Umgebung erinnert eher an ein apokalyptisches Videospiel als eine in Glanz erstrahlende Altstadt.

Die zerbombte Altstadt von Mossul, © Jan Ritter

Immer wieder offenbart uns die Ruinenlandschaft den einen oder anderen Blick in einst so prächtige Wohnzimmer. Der Schmerz der Stadt ist hier überall zu spüren. Ein wunderschöner Torbogen zieht meinen Blick auf sich, der eine blau bemalte Säule zum Vorschein bringt. Der Eingang ist zur Hälfte verschüttet, ein zurückgelassenes Kuscheltier fristet sein Dasein, und hunderte Einschusslöcher zieren die Wände. Decken und Wände haben Brandspuren oder sind eingestürzt. Allein die Aufschrift „SAFE“ signalisiert, dass ein Betreten problemlos möglich ist, alle Sprengstoffe entfernt wurden und das Gebäude auf Einsturzgefahr geprüft wurde. Häuser wie dieses existieren hier zu Tausenden. Ich spüre förmlich, wie viele Träume und Hoffnungen unter den Trümmern begraben wurden. „Hier tobten die schwersten Gefechte im Kampf um Mossul. Bei der Befreiung durch irakische Militärverbände kam es zu blutigsten Häuserkämpfen, kein Haus hielt den Kämpfen stand, und ganze Familien wurden ausradiert“, sagt Moomen, ohne seinen traurig-melancholischen Unterton verbergen zu können.

Ich lasse die einzigartige Atmosphäre auf mich wirken, während wir still durch unzählige Gassen zurück auf die Hauptstraße spazieren, die sich wie eine pulsierende Lebensader durch die völlig zerstörten Altstadtviertel zieht. Inzwischen ist es halb acht abends, ich verabschiede mich von Moomen und kehre zum Hotel zurück. Mittlerweile hat sich die Stadt komplett gewandelt und es herrscht reger Betrieb in den Straßen. Überraschend hoch ist auch das Aufgebot an Sicherheitskräften im Straßenbild. Immer wieder drängeln sich Patrouillenfahrzeuge der irakischen Armee durch den Verkehr, und an größeren Kreuzungen und Gebäuden von besonderer Relevanz kontrollieren schwer bewaffnete Militärs die Umgebung. Die Bewohner scheinen sich damit abgefunden zu haben. Für mich bleibt es noch ein wenig ungewohnt, einsatzbereite Maschinengewehre auf Pick-ups an mir vorbeifahren zu sehen. Kurz vor meinem Hotel werde ich von Ahmad abgefangen, der hervorragendes Englisch spricht und mich zum Tee einlädt. Ahmad ist Arzt, arbeitet in einem Krankenhaus der Stadt. Viele seiner Familienmitglieder sind während der Daesh-Herrschaft ins Ausland gegangen. Darunter auch sein Bruder, der in den Wirren des Krieges nach Manchester floh und dort sein Studium beendete. Ahmad ist geblieben und versucht, ein Teil des Wiederaufbaus zu sein.

Umgeben von Wasserpfeifen frage ich ihn, was sich seit der Rückeroberung verändert habe. „Nichts ist mehr wie vor dem Krieg“, antwortet er. „Jede Familie hat Verlusterfahrungen durchmachen müssen. Auch die wirtschaftliche Situation ist alles andere leicht, aber ich kann mich nicht beklagen. Mein Arztgehalt reicht immerhin aus, um meine kleine Familie über die Runden zu bringen.“ In der Stadt sei wieder einigermaßen Ruhe und Sicherheit eingekehrt und er könne sich wieder frei bewegen. Er hoffe auf eine positive Entwicklung für seine Stadt und dass wieder mehr internationale Touristen die reiche Geschichte seiner Stadt entdecken.

Der alte und neue Basar von Mossul

Die Sonne erhebt sich gerade über die Stadt, als der Ruf des Muezzins mich sanft weckt und der nächste Tag beginnt. Nach einem ausgiebigen Frühstück versuche ich, der Hitze ein wenig zu entkommen, und mache mich direkt auf den Weg zum Basar. Der nach dem Krieg errichtete, sterile Neubau in traditionellem Stil steht nach wie vor fast komplett leer. Nur wenige Händler sind bislang hierher übergesiedelt, der Großteil bevorzugt nach wie vor das Gassengewirr des alten Basars, der direkt dahinter beginnt. Früh am Morgen ist es noch etwas ruhiger, erste Händler bauen ihre Stände auf, der Geruch von Tee und Gewürzen liegt aber schon in der Luft, und ich kaufe mir Datteln für die kommenden Tage auf dem Fahrrad. Vom Basar führt mich die Ninevehstraße Richtung Westen bis zur imposanten Al-Tahira-Kirche. Die syrisch-katholische Kirche wurde von Daesh bis auf ihre Grundmauern zerstört und 2025 für die christliche Gemeinde wiedereröffnet. Direkt dahinter im traditionellen Wohnviertel schauen die Bauten ganz anders aus: Viele Häuser sind immer noch nicht bewohnbar, umso beeindruckender, mit welcher Herzlichkeit ich begrüßt werde. „How are you? What’s your name?“, höre ich aus allen Richtungen von Kindern, die mir beinahe um den Hals fallen und ihr gelerntes Englisch mit mir üben wollen. Der Großteil von ihnen hat den Krieg als Kleinkind oder überhaupt nicht miterlebt. Die Spuren des Krieges sind dennoch in allen Gassen gegenwärtig. Schweren Herzens verabschiede ich mich und spaziere zurück zur Kirche. Direkt neben ihrem Haupteingang treffe ich Hussein. In einem kleinen, ebenerdigen Gebäude bäckt Hussein seit Jahren frisches Gebäck. Brot, das seine ganze Familie ernährt und irgendwann den Wiederaufbau des Wohnhauses finanzieren soll: „Unser Haus wurde bei den Kämpfen zerstört. Kaum etwas ist übrig geblieben. Der Wiederaufbau geht nur langsam vonstatten, niemand weiß, wann wir zurückkehren können“, erzählt er mir, während er das Brot an die Seitenwände seines Holzofens klebt. Auch wenn es noch weitere Jahre dauern wird, macht Hussein deutlich, dass Aufgeben für ihn nicht in Frage kommt und er auch in Zukunft täglich frisches Brot backen wird.

Hussein (links) mit zwei seiner Familienmitglieder in der kleinen Bäckerei, © Jan Ritter

Acht Jahre nach der Befreiung ist in Mossul vieles offen:

Während die UNESCO von großen Fortschritten beim Wiederaufbau spricht, bleiben provisorische Unterkünfte für viele Bewohner Mossuls weiterhin die bittere Realität.

Der Wiederaufbau geht oft nur schleppend voran, und es wird wohl noch Generationen dauern, bis alle Wunden verheilt sind. Dennoch beeindrucken die Solidarität und mit welcher Hingabe die Bevölkerung zusammensteht. Man ist dankbar, dass die Kämpfe der Vergangenheit angehören, auch wenn die erhöhte Militärpräsenz spürbar ist.

Welchen Weg Mossul in Zukunft einschlagen wird, bleibt ungewiss. Die angespannte geopolitische Weltlage, Kürzungen humanitärer Hilfsgelder und die Auswirkungen des Klimawandels sind nur einige Herausforderungen. Die Hitze ist an diesem Tag mittlerweile unerträglich geworden. Während ich in Gedanken versunken zu meinem Hotel zurückgehe, mache ich einen letzten Stopp bei der Al-Sa’aa-Kirche. Die römisch-katholische Kirche ist wieder komplett aufgebaut und strahlt in altem Glanz. Auf dem sandigen Vorplatz trotzen einige Jugendliche der glühenden Sonne und jagen einem Fußball hinterher. Als sie meine Kamera sehen, kommen sie neugierig auf mich zugelaufen und jubeln begeistert vor meiner Linse. Eine Leichtigkeit und Lebensfreude, die mir und der Stadt guttut.

Jan Ritter studierte Global Studies mit dem Schwerpunkt „Friedens- und Konfliktforschung im Nahen und Mittleren Osten“ an der Universität Graz.


Titelbild: Blick über Mossul mit dem Al-Hadba-Minarett, © Jan Ritter

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Ein Gedanke zu „Trümmer und Träume

  • Helga

    Vielen Dank für diesen höchst interessanten Beitrag! Ich frage mich, ob in 7 Jahren jemand von einem Besuch in Gaza berichten wird können…

    Ich finde, die Zusammenarbeit von UZ mit der Zeitschrift International ist eine sehr gute Sache!

    Antworten

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