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Die „nützlichen Idioten“ des IS

Ein Kommentar von Valentin Grünn

Die Idee eines eigenen Staates ist für den IS wohl tatsächlich nicht mehr zu verwirklichen. Dazu haben sich offen und verdeckt alle militärischen Kräfte der Region verbündet. Das ändert aber nichts an den Fernzielen der Islamisten. Sie können diese ohne weiteres ohne ein eigenes Staatsgebiet verfolgen.

Der „Islamische Staat“ hat eine schlagkräftige Terrororganisation aufgebaut. Al-Kaida-Kämpfer waren dagegen Waisenknaben. Der IS ist in der Lage, weltweit Terroranschläge zu verüben. Ob in Paris, Brüssel oder in Berlin, im Nahen Osten sowieso. Der IS hat weltweit autonome Terror-Zellen geschaffen, die aus Menschen bestehen, die dort einheimisch sind. Es ist für Terroristen nicht mehr notwendig, Grenzen zu überwinden. Durch die sozialen und gesellschaftlichen Defizite in diesen Ländern finden sich genug enttäuschte, gedemütigte Menschen; dabei handelt es sich sowohl um gebürtige Muslime wie auch um radikalisierte Konvertiten (angemerkt sei: die große Mehrzahl der Konvertiten zähle ich nicht dazu). Gerade bei den radikalisierten Konvertiten ist eine besondere Vehemenz im Auftreten zu vermelden. Diese Einzeltäter können unabhängig von der IS-Struktur zuschlagen. Der IS braucht lediglich eine Videoübermittlung, in der sich der Attentäter zum Anschlag bekennt. Die einzige logistische Bemühung ist dann die Veröffentlichung des Bekennervideos.

Aus Kämpfern, die aus dem fruchtbaren Halbmond um Syrien und Irak vertrieben wurden, lassen sich kampfstarke Truppen bilden, die ebenfalls weltweit für koordinierte Terrorangriffe und für die Destabilisierung ganzer Regionen genutzt werden können. So sind sie in der Lage, binnen Wochen jedes arabische oder nordafrikanische Land zu destabilisieren. Sie brauchen keine Flüchtlingsströme und keine Schleuser. Sie haben alle finanziellen und logistischen Mittel in ein Land ihrer Wahl zu gelangen.

Sehr fruchtbar ist die Bemühung des IS, den Westen in einen endlosen, nicht zu gewinnenden Krieg hineinzuziehen und einen Flächenbrand zu entfachen. Der Afghanistan-Krieg – von Al-Kaida iniziiert – ist jetzt schon der längste, den die USA je geführt haben. Die politische und mediale Überreaktion nagt an unseren westlichen Werten, weil wir sie durch den Krieg gegen den Terror mehr und mehr aushöhlen. Wir geben unsere Werte freiwillig auf. Der Kampf gegen die westlichen Werte ist ein Ziel des IS; er ist sehr erfolgreich. Ein Kampf, der nicht mit Waffen, sondern mit Ängsten geführt wird. Wir gehen dem IS auf den Leim. Die „Verteidiger des Abendlandes“ sind gleichzeitig die Totengräber der westlichen Werte.

Durch islamisch getarnte Anschläge wird die westliche Gesellschaft gespalten. Es wird von den rechten Bewegungen ein Hass geschürt, der sich gegen Muslime richtet und den diese zu spüren bekommen. Egal, ob die Muslime seit Generationen hier leben oder als Flüchtlinge neu hinzugekommen sind: Sie sind die ersten Opfer der Angriffe; sie kriegen den Hass unmittelbar zu spüren und auch sie sind erstrangiges Ziel der Islamisten. Dabei sind gerade viele Flüchtlinge vor den selben Terrorpaten in ihren Heimatländern geflohen. Wir werfen die Flüchtlinge und die einheimischen Muslime mit den terroristischen Islamisten in einen Topf.

In Europa sprießen die antiislamischen Bewegungen wie Pilze aus dem Boden, weil nicht mehr unterschieden wird. Wir unterscheiden nicht mehr zwischen Islam und Islamisten, zwischen Opfern und Tätern; wir tun genau das, was der IS beabsichtigt, wir zerfleischen uns gegenseitig. Wir sind deren nützliche Idioten in ihrer Spaltungsstrategie und viele merken es gar nicht. Sie treiben einen Keil in unsere Gesellschaft und wir klopfen kräftig mit.

Bomben schaffen Legenden, Legenden schaffen Helden; Helden in den Augen der Opfer; Terroristen in unseren Augen.

IS-Kämpfer sind keine dumpfen Zombies. Mag sein, dass manche Kämpfer nicht mit allem Notwendigen gesegnet sind, aber die Köpfe sind ausgefuchste Strategen, die den westlichen Politbloggern haushoch überlegen sind. Der IS ist eine Ideologie. Sie lässt sich nicht mit Waffen bekämpfen. Sie lässt sich nicht einfach erschießen oder wegbomben. Dabei ist der kriegerische Kampf, den der Westen ebenso wie Russland gegen den IS führt, eine der Hauptquellen der Flüchtlingsbewegung. 90 Prozent der westlichen Bombenopfer sind aber Zivilisten. Der Anti-Terror-Krieg ist ein Terroristenzuchtprogramm. 2001 gab es am Hindukusch einige hundert gefährliche Terroristen, heute sind es allein im Mittleren Osten 100.000.

High-Tec-Drohnen sind die Sprengstoffgürtel des Westens.

Dass der IS im Westen zuschlägt, ist nicht dessen Schwäche im Nahen Osten geschuldet, sondern dessen Strategie; daraus hat der IS nie ein Geheimnis gemacht. Der IS will vorrangig nicht Menschen töten, der IS will unsere Gesellschaft zerstören. Fehlen Bomben und Schusswaffen werden eben LKW und Messer verwendet. Die Terrortoten sind nicht nur Opfer, sie sind auch Waffen.

Der Westen hat weder die IS-Strategie noch den Bumerang-Effekt der Reaktion verstanden. Er fällt darauf rein und all die Scharfmacher, die Kritiker des Islam (nicht der Islamisten), die rechten Hassprediger, die Spalter, die Ausgrenzer sind die Werkzeuge des IS. Sie demontieren unsere Werte für die wir diesen Krieg angeblich kämpfen; sie sind die nützlichen Idioten des IS.

Titelbild: Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt – Am Breitscheidplatz Berlin, 20. 12. 2016 (Emilio Esbardo; Lizenz: CC BY-SA 4.0)

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