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Philosophisches zu COVID-19

Die Neuerfindung des Menschseins?

Ein Gastbeitrag von Florian Maiwald

In seinem Essay Der Existentialismus ist ein Humanismus fand der französische Philosoph Jean-Paul Sartre über die conditio des Menschen folgende Worte:

„Wenn es auch unmöglich ist, in jedem Menschen ein allgemeines Wesen zu finden, das die menschliche Natur wäre, gibt es dennoch eine menschliche Allgemeinheit der conditio. Es ist nicht zufällig, daß die heutigen Denker lieber von der conditio des Menschen als von seiner Natur sprechen. Unter Bedingung- conditio – verstehen sie mehr oder weniger klar die Gesamtheit der Grenzen a priori, die seine grundlegende Situation im Universum umreißen. […] Die Grenzen sind weder subjektiv noch objektiv, oder besser, sie haben eine objektive und eine subjektive Seite. Objektiv, weil man überall auf sie stößt und sie überall zu erkennen sind, subjektiv, weil sie gelebt und nichts sind, wenn der Mensch sie nicht lebt, das heißt, wenn er sich nicht in seiner Existenz frei im Verhältnis zu ihnen bestimmt“ (Sartre 1946, 166).

Hier weist Sartre bereits treffend darauf hin, dass das Menschsein an sich untrennbar mit dem Vorhandensein sowohl objektiver als auch subjektiver Grenzen verbunden ist. Menschsein bedeutet immer zugleich die naturgegebene Limitation. Doch erst durch die subjektive Anerkennung dieser Grenzen konstituiert sich laut Sartre die menschliche Freiheit.

Appliziert man einen derartigen Gedankengang auf die gegenwärtige durch COVID-19 ausgelöste Situation, so wird zunächst deutlich: Wir werden uns das erste Mal der objektiven Grenzen- welche konstitutiv für unsere conditio sind- bewusst. Dennoch fällt die subjektive Anerkennung dieser Grenzen uns nach wie vor schwer. Wir möchten nicht wahrhaben, dass der Mensch- mit allen seinen wissenschaftlichen Errungenschaften, künstlerischen und kulturellen Leistungen- letztendlich durch die Bedrohung eines kleinen Virus in seiner ganzen, auf Freiheit beruhenden, kulturellen Daseinsform eingeschränkt werden soll. Wir müssen uns plötzlich auf subjektiver Ebene mit der Tatsache konfrontiert sehen, dass der Mensch nicht mehr als eine eingebundene Entität inmitten eines größeren Naturkreislaufes ist.

Folglich bestimmen die Grenzen der Natur auch die Grenzen des menschlichen Daseins- und damit auch die Grenzen seiner Möglichkeiten. Dennoch sei an dieser Stelle nicht zu vergessen, dass sich gerade durch die Anerkennung ebendieser Grenzen die menschliche Freiheit konstituiert. All unsere kulturellen Errungenschaften sind ein Produkt unserer freien, kreativen Tätigkeiten. Auch wissenschaftlicher Progress ist ohne die dem Menschen innewohnende Freiheit nicht denkbar. Von daher ist es jetzt wichtiger denn je, dass wir all unsere positiven Freiheiten – zumindest temporär- aufgeben, um unsere negativen Freiheiten vor der realen Gefahr zu schützen.

Das Virus scheint den Menschen dort zu treffen wo er am empfindlichsten ist. An genau der Stelle, die den Menschen von den anderen Spezies dieses Planeten unterscheidet. Paradoxerweise kann der Mensch jedoch gerade jetzt das Virus widerlegen, indem er seine Freiheit nicht als selbstverständlich anerkennt. Damit würde nicht nur seine Überlegenheit bewiesen, sondern auch seine Freiheit auf lange Sicht zurückgewonnen werden.

Die Absurdität dieser Herausforderung tritt umso deutlicher zutage, wenn man sich vergegenwärtigt, was ein Virus eigentlich ist. Laut der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung sind Viren

„[…] relativ einfach aufgebaut. Sie bestehen aus einem oder mehreren Molekülen und sind manchmal von einer Eiweißhülle umgeben. Die Moleküle enthalten das Erbgut – also die DNA oder RNA – mit den Informationen zu ihrer Vermehrung. Anders als Bakterien bestehen Viren weder aus einer eigenen Zelle noch haben sie einen eigenen Stoffwechsel. Sie haben keine eigene Energiegewinnung und keine Möglichkeit zur Proteinsynthese. Deshalb sind sie streng genommen auch keine Lebewesen.
Viren sind winzig, nur rund 20 bis 300 Nanometer groß. Deshalb kann man sie unter einem gewöhnlichen Lichtmikroskop auch nicht erkennen, sondern benötigt ein Elektronenmikroskop. Viren treten in vielen verschiedenen Formen auf. Einige Viren sehen beinahe wie Kaulquappen mit einem langen Schwanz aus, andere sind rund oder auch stäbchenförmig“

Ganz einfach ausgedrückt: Im Gegensatz zum Menschen kann man bei Viren von einer relativ schlichten Form des Daseins sprechen, welche sich durch ein vergleichsweise geringes Maß an Komplexität auszeichnet und nicht einmal wirklich die Bezeichnung eines Lebewesens verdient. Dass diese Form der Simplizität uns nun dazu zwingt all die Komplexitäten unseres Daseins zunichte zu machen, scheint eine der größten kognitiv-emotionalen Herausforderungen vor der wir jetzt stehen.

Dies wird von dem slowenischen Philosophen Slavoj Zizek noch einmal mit Nachdruck hervorgehoben:

„What we should accept, what we should reconcile ourselves with, is that there is a sub-layer of life, the undead, stupidly repetitive, pre-sexual life of viruses, which always was here and which will always be with us as a dark shadow, posing a threat to our very survival, exploding when we least expect it. And at an even more general level, viral epidemics remind us of the ultimate contingency and meaninglessness of our lives: no matter how magnificent spiritual edifices we, humanity, bring out, a stupid natural contingency like a virus or an asteroid can end it all… […]“ (Zizek 2020).

Durch die Bedrohung einer derart simplen Daseinsform wie der eines Virus, wird plötzlich jegliche semantische Bedeutungszuweisung, jegliche Form der Komplexität, welche wir dem menschlichen Dasein bisher zugeordnet haben, auf eine unheimliche Art und Weise relativiert.

Dennoch können sich aus der derzeitigen Situation auch hoffnungsvolle Aussichten für das zukünftige Leben des Menschen ergeben, da wir dazu gezwungen sind ein neues Verhältnis zu uns selbst, unseren Mitmenschen und zur Natur zu gewinnen. Wir haben die Möglichkeit, wieder zu kontemplativeren Daseinsformen zurückzufinden, statt uns vom Hamsterrad des blinden Aktionismus geißeln zu lassen. Auch wenn wir gezwungen sind, grundsätzliche Konzeptionen menschlicher Freiheit neu zu denken, können wir gestärkt aus diesem Reflexionsprozess hervorgehen. Wir haben jetzt die einzigartige Möglichkeit die strukturellen Rahmenbedingungen unserer Daseinsform gezielt in Frage zu stellen und können erkennen, dass eine Abwendung des Katastrophalen nur in Solidarität zu meistern ist. Dies scheint natürlich umso paradoxer, wenn man überlegt, dass der Solidaritätsbegriff gerade ebenfalls eine semantische Transformation durchläuft, da wir im Moment die größte Zuneigung durch sozialen Abstand ausdrücken.

Darüber hinaus scheint es sinnvoll, darüber nachzudenken, ob nicht die temporäre Negation des Sozialen, die temporäre Einschränkung grundlegender positiver Freiheitsrechte zum Schutz der notwendigen Bedingung des Lebens, das ist, was derzeit am Nötigsten ist.

Auch hier sei noch einmal Sartre zu zitieren:

„Wir wollen die Freiheit um der Freiheit willen und unter jedem Umstand. Und die Freiheit wollend, entdecken wir, daß sie ganz von der Freiheit der anderen und daß die der anderen von unserer Freiheit abhängt. Gewiß hängt die Freiheit als Definition des Menschen nicht von anderswem ab, aber sobald ein Engagement vorliegt, bin ich gezwungen, gleichzeitig mit meiner Freiheit die der anderen zu wollen, ich kann meine Freiheit nur zum Ziel machen, indem ich auch die der anderen zum Ziel mache“ (Sartre 1946, 172)

Unsere eigene Freiheit ist untrennbar mit der Freiheit der anderen verbunden. Die radikalste Form der Freiheitsliebe wäre es, die eigene Freiheit zugunsten der Freiheit der anderen zurückzustellen, um dafür zu sorgen, dass das grundlegendste Freiheitsrecht auf Leben gewahrt bleibt. Diese moralische Verantwortung muss dem Einzelnen sofort klar werden. John Stuart Mill, einer der größten liberalen Denker des 19. Jahrhunderts, hat in diesem Kontext bereits treffend angemerkt:

„Aber obwohl diese Behauptung wahrscheinlich theoretisch nicht zu bestreiten ist, so bleibt doch die praktische Frage- wie der passende Ausgleich zwischen individueller Unabhängigkeit und sozialer Kontrolle zu schaffen wäre- ein Problem, das noch gänzlich ungelöst ist. Alles, was das Dasein für jeden von uns lebenswert macht, hängt davon ab, dass man die Beschränkung der Tätigkeit anderer durchsetzt. Gewisse Verhaltensregeln müssen daher auferlegt werden, vor allem durch das Gesetz […]“ (Mill 1859, 21).

Hier macht Mill auf den treffenden Punkt aufmerksam, dass es ein grundlegendes Gebot unseres Vernunftgebrauchs sein sollte, eine Einschränkung unserer Freiheiten vorübergehend in Kauf zu nehmen um auf lange Sicht das zu retten, was uns als Menschen definiert: Leben und damit untrennbar verbunden- die positive Selbstverwirklichung unserer eigenen Anlagen.

Quellen:

  • Sartre, J. (1947). Ist der Existentialismus ein Humanismus? Zürich: Europa-Verl.
  • Mill, J. S. (1860). Über die Freiheit. Frankfurt am Main: Sauerländer.
  • Zizek 2020: MONITOR AND PUNISH? YES, PLEASE

Florian Maiwald (27) studiert Philosophie, Englisch und Bildungswissenschaften im Master an der Universität Bonn und betreibt den Philosophie- Blog „Meta-Ebene“.

Titelbild: Daniel RobertsPixabay


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