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Vom Suchen & Finden: Im großen braunen Kerker

Das erste Braunbuch entstand in den fünf Monaten nach dem Reichstagsbrand 1933. Antifaschist*innen in und außerhalb Deutschlands wollten beweisen, dass die Nazis selbst den Reichstag in Brand gesetzt hatten.

Eine Gastkolumne von Andreea Zelinka (Rotes Antiquariat Wien)

Ein fast verbranntes Buch in der Vitrine weckt Erinnerungen. Der Buchdeckel liegt lose oben auf, die Rändern sind verformt, die gebräunten Kanten erinnern an die drohende Gefahr. „Dieses Braunbuch da hat wohl einiges mitgemacht“, sagt der Kunde. Ein melancholisches Lächeln. Angesichts dem Wissen, das in seinen Worten schwingt, fehlen mir die Worte. Vom 21. September bis 23. Dezember 1933 fand vor dem 4. Strafsenat des Reichsgerichts in Leipzig der „Reichstagsbrandprozess“ oder der Prozess gegen „van der Lubbe und Genossen“ statt. Damals hatte noch niemand geglaubt, nicht einmal die Kommunist*innen selbst, dass ein kleiner Junge 12 Jahre später in einem Schrebergarten nahe einer norddeutschen Stadt auf das Ende des Krieges warten würde, während die Alliierten in ihren Flugzeugen den Himmel durchqueren.

Der Reichstagsbrand ist ein wichtiges Datum der faschistischen Machterrichtung. Hitler erreichte durch von Hindenburg zum Reichskanzler ernannt zu werden. Um aber die absolute Macht zu erlangen, wird das Parlament aufgelöst. Für den 5. März 1933 werden Neuwahlen anberaumt. Eine Woche vorher, die KPD-Parteizentrale ist bereits von der Berliner Polizei besetzt, steht der Reichstag in Flammen, die den gesamten Plenarraum des Parlaments verwüsten. Doch dieses Ereignis ist mehr als ein Symbol einer untergehenden Demokratie. Marinus van der Lubbe wird festgenommen und mit ihm tausende Kommunist*innen, Sozialdemokrat*innen und Hitlergegner*innen in derselben Nacht. Bereits am nächsten Tag ordnet Hitler eine Notverordnung zum Schutz von Volk und Staat an, verbietet SPD und KPD Presseräte, kriminalisiert die gesamte politische Linke und zerschlägt so die Arbeiter*innenbewegung, um die nationale Revolution auf den Weg zu bringen.

Das erste Braunbuch entstand in den fünf Monaten nach der Nacht vom 27. zum 28. Februar 1933. Antifaschist*innen in und außerhalb Deutschlands arbeiteten gemeinsam an dem Ziel zu beweisen, dass die Nazis selbst den Reichstag in Brand gesetzt hatten. Herangeschafft wurden Berichte von Journalist*innen, Ärzt*innen, Anwält*innen und Überlebenden der Folter und war somit die erste umfassende Dokumentation der in Deutschland stattfindenden Gewalt. Die Hitler-Hölle wurde international bekannt gemacht und das Braunbuch als getarnte Reclam-Ausgaben von Schiller und Goethe nach Deutschland geschafft.

Herausgeber war das „Weltkomitee für die Opfer des Hitler-Faschismus“, dem Louis Gibarti, Lord Marley, Henri Barbusse und Albert Einstein angehörten. Mitbegründer war Willi Münzenberg, KPD-Propagandaspezialist und langjähriger Leiter der Internationalen Arbeiterhilfe (IAH), der unmittelbar nach dem Reichstagsbrand nach Paris flüchtete und etwas später zum Chef der westeuropäischen Agitprop-Abteilung der Komintern ernannt wurde. Unter den anonymen Verfasser der Texte finden sich Arthur Koestler, Egon Erwin Kisch und Ernst Toller. Das Braunbuch erschien in der Édition du Carrefour mit einem Umschlag von John Heartfield. Auf dem Cover ächzt Hermann Göring entgegen, in blutiger Schlachthausmontur und Beil in der Hand, hinter ihm der Reichstagsbrand. Auf der Umschlagrückseite liegt ein toter Kommunist auf dem von seinem Blut verschmierten Hakenkreuz. Dieser Schutzumschlag, der die Pariser Ausgabe zierte, hat vermutlich die vielen Reisen und Hände, die er durchwandert ist, selten überlebt. Im Laden ist die Fotomontage nur auf dem 1983 im Rödeberg-Verlag erschienen Reprint zu sehen.

Im September 1933 begann also der Prozess gegen die vermeintlichen Brandstifter. Neben van der Lubbe saßen die Kommunisten Georgi Dimitroff, Blagoj Popoff, Vasil Taneff und Ernst Torgler auf der Anklagebank. Van der Lubbe wurde zum Tode verurteilt, die Kommunisten wurden mangels Beweise freigesprochen, nicht zuletzt wegen des Braunbuchs. Nach seiner Veröffentlichung wurde es in 17 Sprachen übersetzt und erschien bis 1935 in einer Auflage von 600.000 Stück. Vom 14. bis 18. September 1933 fand ein Gegenprozess in London statt, bei dem eine internationale Untersuchungskommission dem im Braunbuch versammelten Material weitestgehend zustimmte. Als der Leipziger Prozess zwei Tage später begann, war das Londoner Urteil durch die internationale Presse bereits in aller Munde. Das Nazi-Gericht fand sich genötigt teils stundenlang die Vorwürfe zu widerlegen und bat sogar Göring und Goebbels in den Zeugenstand.

Wenig überraschend wird am Braunbuch kritisiert, seinem Inhalt nach sei es unhaltbares Propagandawerk. Eine andere Kritik ist, dass es nicht genug Namen nenne. Es stimmt, das Braunbuch ist nicht fehlerfrei (schließlich wurde unter Lebensgefahr Information ins Ausland geschafft und die Zeit drängte). Stellenweise werden homophobe Äußerungen getätigt und das ist zu verurteilen. Doch laut Götz Aly liege die Irrtumsquote deutlich unter einem Prozent. Im Buch wird überdies darauf hingewiesen, dass „kein einziger hier gebrachter Fall ein Ausnahmefall (ist). Alle sind typisch für viele andere“. Insofern ist das Braunbuch eine Bestandsaufnahme des ganz normalen Terrors im großen braunen Kerker namens Deutschland der 1930er Jahre.

„Unser Buch soll die Erinnerung an den verbrecherischen Weg der Nazi-Regierung ständig wach halten“, schrieb Lord Marley im Vorwort. 87 Jahre später stürmten Nazis am 29. August 2020 den Reichstag auf einer Demo gegen die Corona-Maßnahmen. Anti-Demokrat*innen griffen das Herz der deutschen parlamentarischen Demokratie an, genauso wie die Nazis dieses anzündeten, um es zu zerstören. Wir sollen erinnern, um das zu schützen, was uns lieb ist. Wir sollen aber erinnern, indem wir die Geschehnisse reflektieren, uns fragen, warum es möglich war eine Nazidemo in Berlin zu erlauben und eine Demo zum Gedenken an die Opfer des rassistischen Anschlags in Hanau abzusagen. Es darf kein Nebeneinander mit faschistischen Ideologien geben, auch nicht in einem liberalen Staat. Das klingt für manche wie ein Widerspruch, allerdings ist ein antifaschistischer Grundkonsens notwendig, um überhaupt erst eine liberale Staatlichkeit aufrecht erhalten zu können. Die Pflicht des Staates ist es, den Gefallenen zu ehren und jenen zu gedenken, die durch die Hand jener Menschenhasser gestorben sind, die anti-demokratische faschistische Ideologie in diesem Land vertreten.

Die Geschichte nahm 1933 ihren Lauf, trotz der Braunbücher und Widerstandskämpfer*innen, die ihr Leben für ein freies Deutschland gaben. Sie haben die Flugzeuge der Alliierten über den Wolken nicht verhindern können. Doch sie haben dort zum antifaschistischen Kampf beigetragen, wo es ihnen möglich war. Und sie werden erinnert.


Titelbild: Andreea Zelinka

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