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Konsum-Ideologie: Marx, Engels und Nespresso

Solange sich Umweltschutz nicht am Schutz der Umwelt ausrichtet, sondern an der Aufrechterhaltung unserer Konsumgewohnheiten, wird sich die ökologische Krise nicht bekämpfen lassen.

Ein Essay von Johannes Greß 

Einer der bekanntesten Definitionen von „Ideologie“ stammt von Karl Marx und Friedrich Engels. Demnach liege die arbeitende Klasse aufgrund ihres „verkehrten Bewusstseins“ nach wie vor in Ketten, unfähig die „wahren“ Verhältnisse zu durchschauen und für ihre „echten“ Interessen einzutreten. Eine Art kollektive Vernebelungsaktion der Herrschenden zur Unterdrückung des sozialen Wandels. Die Behauptung der Marketingstrateg_innen des Kaffeeproduzenten Nespresso, man könne mit jeder Tasse ihres Heißgetränks „eine positive Veränderung“ bewirken, macht deutlich: Die Ideologie-Theorie von Marx und Engels bedarf einer grundlegenden Überarbeitung. 

Die Nespresso-Marketingabteilung fährt seit Mitte September eine Kampagne, wonach ihr eigens entwickeltes Recycling-Konzept ein „positiver Beitrag“ zur Nachhaltigkeit und zum Umweltschutz sei. Nachdem ihr Kaffee von Kolumbien oder Äthiopien nach Europa importiert und dort in Kaffeekapseln verpackt wird, soll das Aluminium Letzterer nicht auf dem Müll landen, sondern recycelt und anschließend der Aluminiumproduktion zugeführt werden. Der darin enthaltene Sud wird zur Produktion von Biogas verwendet. Im Hinterkopf hatte die Chefetage von Nespresso wohl jene koffeinaffinen Konsument_innen, denen sich beim Schlagwort „Kaffeekapseln“ die Zehennägel aufbiegen. 

Die Kaffeebranche und das Gute in der Welt

Also: warum nicht beides haben? Den leckeren Nespresso-Kaffee fein portioniert genießen und dabei auch noch Gutes tun. Mit ihrem Engagement zum Erhalt des Planeten hat Nespresso laut eigenen Angaben bereits knapp 200 Tonnen CO2 eingespart, 91 Prozent der Kapseln werden wieder in den Produktionszyklus zurückgeführt. Insgesamt wurde der CO2-Fußabdruck einer jeden Tasse Kaffee laut Hersteller seit 2009 um 20 Prozent reduziert. „Ich glaube fest daran, dass sowohl unser Unternehmen als auch die Kaffeebranche zum Guten in der Welt beitragen können, indem wir uns dieser wichtigen Sache annehmen“, schrieb Guillaume Le Cunff, CEO von Nespresso, in einer Presseaussendung. 

Es ist eine innovative Auffassung von ökologischer Nachhaltigkeit, Konsument_innen zu suggerieren, etwas zum Umweltschutz beitragen zu können, indem sie eine ursprünglich umweltschädliche Handlung im Nachhinein wieder wettmachen. Durch Recycling, einer CO2-Kompensationszahlung, im größeren Stil in Form von Zertifikathandel. De facto werden in solchen Fällen Ursache und Wirkung verkehrt: Niemand leistet einen „positiven Beitrag“, indem er den Schaden, den er zuvor verursacht hatte, wieder repariert. So wie es kein „positiver Beitrag“ ist, wenn ich das Auto meines Nachbarn kaputtfahre und ihm anschließend die Reparatur bezahle, wird mit dem Recycling von Nespresso-Kapseln auch kein CO2 eingespart. Ein positiver Beitrag wäre es, weniger oder keinen Kaffee aus Kapseln zu trinken, vulgo Verzicht (ein an Blasphemie grenzender Ausdruck in einer Gesellschaft, die sich als Summe individueller Konsumsubjekte begreift). 

What else?

Dieser Beitrag ist nicht Resultat einer persönlichen Aversion gegenüber der Firma Nespresso. Derselbe Beitrag ließe sich über Tausende andere Marketingkampagnen schreiben, aber Nespresso zelebriert ihren Goodwill einfach besonders anschaulich (und hatte das Pech, dass ich beim Warten auf die Bim das Kleingedruckte ihres Plakats gelesen hatte). Das Unternehmen ist insofern zu verteidigen, als aus ihrer Sicht ein berechtigter Einwand lauten würde: what else? „Um die Umwelt zu schützen, kaufen Sie bitte möglichst wenige unserer Produkte“ wäre zwar ein gewissermaßen innovativer, aber wohl wenig erfolgversprechender Slogan. Zumindest innerhalb einer auf Wachstum basierenden Wirtschaftsordnung, einer Ordnung, in welcher der Tauschwert den Gebrauchswert dominiert.   

Wirft man einen genauen Blick auf eine Vielzahl von Werbebotschaften, fällt auf: diese drehen sich selten um das Produkt selbst, um das Produkt in seiner konkreten Materialität, sondern um ein Narrativ, das diese Materialität umgibt. Kein Wort davon, dass das Waschmittel der Marke Lenor einfach nur dafür sorgt, Wäsche von Schmutz und unangenehmen Düften zu befreien (man möchte meinen: der ursprüngliche Sinn eines Waschvorgangs) – nein, Lenor sorgt für „himmlisches Wohlgefühl“. Kein Automobilkonzern bewirbt seine Produkte mit dem Slogan „Kaufen Sie unseren PKW und Sie können damit von A nach B fahren“. Wer ein Auto kauft, erwirbt Freiheit, Abenteuer, Luxus, Komfort, Männlichkeit und so weiter. Zu verkaufen versucht wird stets mehr als das Produkt selbst, ein narrativer Zusatz, ein Mythos, ein Waschmittel + Wohlgefühl, ein Auto + Abenteuer, eine Tasse Kaffee + Umweltschutz.  

Denn sie wissen nicht, was sie tun? Doch. 

Ein Werbe-Narrativ entsteht nicht zufällig, sondern funktioniert dann am besten, wenn es eine – reale oder konstruierte – Sehnsucht bedient. Die nach Umweltschutz zum Beispiel – als moralische Rechtfertigung für Konsument_innen, es trotzdem tun zu dürfen. Inlandsflüge, SUVs, Kaffee in Kapseln; jede_r ahnt, dass das kein positiver Beitrag zum Umweltschutz sein kann. Aber den meisten wäre wohler dabei, wenn es doch so wäre. Dann fällt auf individueller Ebene der moralische Ballast weg und auf Struktureller bleibt die Wachstumsmaschinerie in Gang. 

Was haben Marx und Engels nun damit zu tun? Es gilt deren Vorstellung von Ideologie als „verkehrtes Bewusstsein“ auf den Kopf zu stellen. Die Ideologie einer CO2-neutralen Kaffeekapsel besteht nicht darin, dass die vernebelten, unterdrückten Massen nicht durchschauen, dass der Beitrag so positiv auch wieder nicht ist. Es ist im Grunde egal, ob Konsument_innen glauben, ob so eine recycelte Kapsel ein „positiver Beitrag“ zum Umweltschutz ist. Entscheidend ist, wie sie handeln. Das heißt, die Ideologie ist keine Frage des „verkehrten Bewusstseins“, sondern des „verkehrten Handelns“; die Motivation hinter einem Kauf – ob aus bloßer ökologischer Wurschtigkeit oder Sorge um die Umwelt – ist belanglos, solange das Resultat dasselbe ist. Ideologie, schreibt der slowenische Philosoph Slavoj Žižek in The Sublime Object of Ideology (1989), besteht heutzutage weniger darin, dass wir nicht wissen was wir tun, sondern sehr wohl wissen, was wir tun – und es trotzdem tun

Die Angebote, es trotzdem zu tun, sind zahlreich: ein ganzes Regime an Zertifikaten, Labels und unternehmenseigenen Kodizes sollen die ökologische, moralische, ethische, etc. Reinheit eines Produkts belegen.

Das BIP und die Existenz

Dasselbe funktioniert eine Ebene darüber: mittlerweile ist ziemlich detailliert und facettenreich erfasst – zuvorderst in den Berichten des International Panel on Climate Change (IPCC) – welche Ausmaße die ökologische Krise bereits hat und zukünftig haben wird. Unser Handeln bewegt sich dennoch konträr zum Wissen: ein mit Müh und Not verabschiedeter Minimalkonsens der Staatengemeinschaft von einer Begrenzung des globalen Temperaturanstiegs um mindestens zwei Grad Celsius im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter; ein Konsens, den der US-amerikanische King Ubu zügig wieder aufkündigte und der Rest der Welt eher als lästige Wachstumsbremse behandelt.

Die eigentliche Ideologie ist unsichtbar. Sie leitet das Handeln von Konsument_innen, Unternehmen und Staaten, ohne als solche in Erscheinung zu treten. Nach wie vor orientiert sich Umweltschutz am wirtschaftlichen Wachstumsimperativ, die wahrlich existentielle Bedrohung scheint der potentielle Schrumpfkurs der magischen Zahl Bruttoinlandsprodukt (BIP) zu sein – nicht die Tatsache, dass langfristig der Fortbestand der Menschheit auf dem Spiel steht. (Was ist existentiell, wenn nicht Letzteres?) Solange sich Umweltschutz nicht am Schutz der Umwelt ausrichtet, sondern an der Wettbewerbsfähigkeit einzelner Staaten, an der Aufrechterhaltung der Konsumgewohnheiten wird sich die ökologische Krise nicht in ausreichendem Maße bearbeiten lassen. Die Ideologie zu durchbrechen hieße in diesem Fall, sie überhaupt erst als solche zu benennen; zu akzeptieren, dass Umweltschutz nicht darin bestehen kann, das Narrativ zu wechseln und trotzdem das Immerselbe zu tun; dass Umweltschutz nicht im Bewusstsein, sondern im Handel wirksam wird. Keine guten Nachrichten für Nespresso


Titelbild: Phillip Thiedmann

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