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Was Squid Game uns (nicht) sagen möchte

Auf den ersten Blick könnte man die Serie Squid Game für äußerst kapitalismuskritisch halten. Auf den zweiten Blick scheint sie das Paradigma des neoliberalen Kapitalismus jedoch unweigerlich zu reproduzieren. Achtung: Spoiler!

Von Florian Maiwald

Der weltweite Erfolg der südkoreanischen Netflix-Serie Squid Game ist kaum zu übersehen. Vorab eine kurze Zusammenfassung der Serienhandlung: Zu Beginn der Serie wird uns Seong Gi-Hun vorgestellt, der dem, was man in unseren kapitalistisch geprägten Gesellschaften als Versager bezeichnet, sehr nahe kommt. Gi-Hun ist spielsüchtig, lebt bei seiner Mutter und ist so arm, dass er für seine Tochter kaum finanziell sorgen kann.

Sein Leben erfährt eine radikale Veränderung, als er einem Unbekannten in der U-Bahn Station begegnet. Dieser lockt Gi-Hun mit 455 anderen Teilnehmer*innen, dessen Leben ebenfalls von grenzenloser Armut und Hoffnungslosigkeit geprägt ist, auf eine Insel, auf welcher alle Teilnehmer*innen an 6 verschiedenen Wettkämpfen teilnehmen müssen, welche an Kinderspiele angelehnt sind. Die Spiele sind so angelegt, dass am Ende aller Wettkämpfe nur noch ein*e Teilnehmer*in übrig bleibt, welche*r das entsprechende Preisgeld in Höhe von 45,6 Milliarden Won (33 Millionen Euro/ 37.534.200 USD) gewinnt.

Dementsprechend sterben bis auf den oder die Gewinner*in alle Menschen während der vielen äußerst brutalen Wettkämpfe. Diejenigen, die während der Spiele verlieren, gelten als “disqualifiziert“. Oder anders formuliert: Sie werden getötet. Während der Serie werden wir als Zuschauer*innen immer wieder mit dem Umstand konfrontiert, dass die Spieler*innen auch untereinander nahezu sozialdarwinistische Verhaltensweisen an den Tag legen und sich sogar gegenseitig austricksen (und sogar töten) wollen – in voller Verzweiflung das große Geld zu machen. Die Wettkämpfe dürfen nur abgebrochen werden, wenn eine Mehrheit der Teilnehmer*innen dafür stimmt.

Der Umstand, dass im weiteren Verlauf der Serie alle Teilnehmer*innen – trotz der vielen Tode und ihrer sehr wahrscheinlichen eigenen Tötung – trotzdem weiter machen wollen, suggeriert die ganz klare Botschaft: immerhin besser sein Leben für die Chance auf ein besseres Leben zu riskieren als in der Welt da draußen ein Leben in grenzenloser Armut zu führen. Überhaupt wird immer wieder das Gefühl vermittelt, dass es während der tödlichen Wettkämpfe – zumindest im Gegensatz zu der Welt da draußen – fair läuft, da die Teilnehmer*innen in einem fairen Wettbewerb untereinander antreten.

Die Wettkämpfe: eine andere Welt oder unmittelbarer Bestandteil von ihr?

Man mag dies jetzt als eine radikale und fundierte Kritik am gegenwärtigen globalen Kapitalismus und den durch diesen verursachten sozialen Ungerechtigkeiten deuten. Dennoch greift diese Kritik zu kurz. Dies lässt sich vor allem dadurch begründen, dass sowohl die Wettkämpfe auf der Insel als auch die von Armut geprägte Realität der Welt da draußen, welche die Teilnehmer*innen erst dazu veranlasst, sich den brutalen Wettkämpfen zu unterwerfen, beide nach den Grundprinzipien des kapitalistischen Systems funktionieren.

Immer wieder betonen die Organisatoren der Wettkämpfe, dass die Spiele – im Gegensatz zu der Welt da draußen – den Spieler*innen eine faire Chance geben, da sie hier zumindest die Möglichkeit bekommen, das große Geld zu gewinnen. Aber handelt es sich hiermit nicht um dasselbe meritokratische Prinzip, welches für  unsere neoliberal geprägten kapitalistischen Gesellschaften charakteristisch scheint? Michael J. Sandel hat nicht zuletzt in seinem großartigen Buch Vom Ende des Gemeinwohls treffend darauf hingewiesen, dass das Prinzip des Wettbewerbs zwar oftmals als die Lösung für gesellschaftliche Ungleichheiten dargestellt wird, aber letztendlich in Wirklichkeit nur als Justifikationsgrundlage für ebendiese dient.

Angewendet auf die Logik von Squid Game: „Okay, ihr mögt vielleicht der Gefahr ausgesetzt werden, brutal ermordet zu werden. Aber immerhin geht es fair zu. Ihr tretet in einem fairen Wettbewerb gegeneinander an und wenn ihr disqualifiziert werdet (also getötet), dann liegt es daran, dass ihr einfach nicht dieselbe Leistung wie euer Mitspieler erbracht habt“. Es wird im weiteren Verlauf der Serie relativ schnell deutlich, dass die Spiele nach einer gnadenlosen, raubtierkapitalistischen Logik funktionieren. Dieser Eindruck wird gegen Ende der Sendung noch verstärkt, wenn herauskommt, dass die Spiele lediglich veranstaltet werden, um einige dekadente Superreiche zu belustigen, welche – ähnlich wie bei einem Pferderennen –  Unsummen an Geld auf einzelne Spieler*innen verwetten.

Diese grenzenlose Perversion soll uns als Zuschauer*innen gegen Ende der Sendung vor Augen führen, dass die Logik der Wettkämpfe auf der Insel nach einer viel brutaleren Logik als die Welt da draußen funktioniert. Der Umstand, dass Gi-Hun als Gewinner, und damit einziger Überlebender des Spiels, gegen Ende der Serie zunächst ein ähnlich heruntergekommenes Dasein wie zu Beginn der Serie führt und zunächst nicht dazu in der Lage ist, das Geld auszugeben, das er bei den Wettkämpfen gewonnen hat wirkt geradezu moralisierend, ganz nach dem Motto: „Auch wenn die Welt hier draußen nicht immer gerecht ist, man sollte dennoch versuchen ein rechtschaffendes Leben zu führen und all die Missstände in dieser Welt sind nichts gegen die Traumata, die man in den Wettkämpfen erleben muss“.

Dies wird zudem dadurch deutlich, dass Gi-Hun entdecken muss, dass seine kranke Mutter gestorben ist, als er als Gewinner von den Spielen zurückgekehrt ist – obwohl ihr desolater Gesundheitszustand und ihre prekäre Existenz einer der Hauptgründe für Gi-Hun war, an den Spielen teilzunehmen (um seiner Mutter ein gutes Dasein zu ermöglichen). Diese Logik wird auf die Spitze getrieben, wenn Gi-Hun gegen Ende einen Mann in der U-Bahn Station sieht, der, ähnlich wie Gi-Hun zu Beginn, überzeugt wird, an den Spielen auf der Insel teilzunehmen und Gi-Hun nun versucht, diesen davon abzuhalten. Diese moralisierende Logik, welche immer wieder die Grausamkeit der Spiele in den Vordergrund rücken möchte, sorgt dafür, dass die eigentlich emanzipatorische Botschaft, welche die Sendung eigentlich bereitstellen könnte, nahezu verschwindet.

Vor allem sollte an dieser Stelle mit Nachdruck hervorgehoben werden, dass es eine Fehlannahme scheint, zu glauben, dass die Grausamkeit der Spiele auf der Insel als eine von der normalen Welt getrennte Sphäre zu betrachten ist, welche nach anderen (faireren, aber grausameren) Gesetzen funktioniert: Vielmehr ist diese als ein immanenter Bestandteil der Welt da draußen zu betrachten und die konsequente Fortsetzung der neoliberal-kapitalistischen Logik. Die Spieler*innen nehmen nicht freiwillig an den Spielen teil, sondern werden durch ihre von Armut geprägten Verhältnisse dazu gezwungen. Die dekadenten reichen Menschen, welche ihr Geld auf sie verwetten, stammen genau aus derselben Welt, dessen Armut die Spieler*innen dazu bewogen hat, sich den Grausamkeiten der Spiele zu unterwerfen.

Diese Einheit von der “realen Welt“ und der Welt der Spiele auf der Insel möchte die Serie uns scheinbar nicht vermitteln. Vielmehr scheint die Serie uns sagen zu wollen, dass beide Welten als voneinander getrennte Sphären zu betrachten sind. Die Welt da draußen mag zwar hart sein, aber sie stellt dennoch das geringere Übel dar. In der letzten Sequenz, kurz vor dem Abflug zu seiner Tochter in die USA, sehen wir, wie Gi-Hun die Organisatoren des Spiels anruft, um diese zu stellen. 

Eine systemische Veränderung? Von innen heraus möglich?

Gi-Hun wirkt nun gut gekleidet und scheint seine Depression überwunden zu haben und wir sehen, auch anhand einiger vorheriger Szenen, dass er sein Geld und seine Macht nun zu nutzen versucht. Hier tritt jedoch eine klare Paradoxie zutage: Gi-Hun scheint nun zu versuchen, mit der Macht, die ihm dieses System verliehen hat, dasselbe System zu Fall zu bringen. Es wird die Illusion vermittelt, dass die Probleme des neoliberalen Kapitalismus sich durch dasselbe System beheben lassen.

Was hier jedoch außer Acht gelassen wird, ist, dass eine Überwindung der Diskrepanz zwischen der neoliberalen Realität und wirtschaftspolitischen Utopien einer sozial gerechteren Welt zur Voraussetzung hat, dass wir als Individuen – ganz nach neoliberaler Fasson – uns in Eigenverantwortung von der Illusion befreien, dass die zur Krisenhaftigkeit neigende Fragilität des kapitalistischen Wirtschaftssystems sich durch das gleiche Wirtschaftssystem beheben lässt.

Die Befreiung von Illusionen 

Marx hat einst – im Kontext seiner Religionskritik – treffend darauf hingewiesen, was eine Befreiung von derartigen Illusionen für den Menschen bedeutet:

Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks. Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf.

Was würde es bedeuten, sich von der Illusion des neoliberalen Kapitalismus – welcher sich bei mit polemischer Zuspitzung vielleicht selbst schon als eine Art Ersatzreligion für den Menschen betrachten lässt – zu befreien?

Vielleicht würde ein wirkliches Erwachen des Menschen mit der Erkenntnis einhergehen, dass das Funktionieren bzw. die Reproduzierbarkeit des neoliberal-kapitalistischen Wirtschaftssystems ebenfalls auf unsere Illusionen angewiesen ist. Darüber hinaus lohnt es sich an dieser Stelle vielleicht sogar weiter als Marx selbst zu gehen: Die Aufhebung des neoliberal-kapitalistischen Wirtschaftssystems als des illusorischen Glücks der Menschen hat vielleicht nicht einmal zwangsläufig zur Folge, dass die Menschen ihr wirkliches Glück erreichen.

Ist nicht das Konzept des Glücks selbst als ein immanenter Bestandteil der kapitalistischen Ideologie zu betrachten? Dies wird nicht zuletzt anhand der Kernidee des American Way of Life deutlich, welche davon ausgeht, dass ein Jeder im kapitalistischen Wirtschaftssystem die Möglichkeit hat, nach dem eigenen Glück zu streben und dieses auch zu erreichen – wenn man nur hart genug dafür arbeitet. Einer der häufigsten – und berechtigten –  Kritikpunkte an dieser Idee ist, dass ein Scheitern im persönlichen Vorwärtskommen immer auf ein individuelles und nicht auf ein systemisches Versagen zurückzuführen ist.

Durch die Macht die Gi-Hun sich erkämpft hat, scheint Gi-Hun gegen Ende die Missstände desselben Systems beseitigen zu wollen, das ihn diese Macht verschafft hat. Was uns Squid Game nicht sagen möchte, ist, dass wir eigentlich den Rahmen des gesamten Systems ändern müssten, um jene Missstände zu beseitigen. Dass wir uns von der Illusion befreien müssen, dass sich jene Probleme, wie im Fall Gi-Huns, von innen heraus lösen lassen.


Titelbild: Chetraruc auf Pixabay 

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