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Das Wiener Todesurteil oder: Die Karriere des Kriegsrichters Erich Schwinge

NS-Täter konnten in der frühen Bundesrepublik mit viel Rücksicht rechnen. Nur selten wurden sie verfolgt und verurteilt. Viele machten Karriere. Wie Prof. Dr. Erich Schwinge. Eine Parabel.

Eine Spurensuche von Helmut Ortner

An einem schwülen Sommertag im August 1984 betritt ein alter, korrekt gekleideter Herr mit randloser Brille das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes in der Wiener Wipplingerstraße. Er stellt sich dem Archivleiter als der emeritierte Rechtsprofessor Erich Schwinge aus Marburg an der Lahn vor und ersucht um Einsicht in die Akte »Reschny, Anton«. Der alte Herr wird in den Benutzerraum geführt, wo er zwei bis drei Stunden Akten studiert und sich Notizen macht.

Anton Reschny, ein Wiener Vulkanisierungslehrling, hatte am 23. August 1944 – gerade eine Woche Soldat und noch nicht über seine militärischen Pflichten belehrt – nach einem Bombenangriff freiwillig bei Räumungsarbeiten mitgeholfen und dabei aus der Wohnung eines Staatsanwalts einen Ring, zwei Uhren, eine Geldbörse und eine leere Brieftasche entwendet. Eine der Uhren schenkte der Siebzehnjährige einem Mädchen, das sie stolz herumzeigte. Sechs Tage nach dem Diebstahl wurde Reschny verhaftet.  Am 14. September 1944 verurteilte das Divisionsgericht 177 unter Vorsitz des Kriegsrichters Schwinges den jungen Anton Reschny wegen Plünderung zum Tode.

Aus Schwinges Urteilsbegründung: „Der Angeklagte … behauptet, sich der Tragweite seines Tuns nicht bewusst gewesen zu sein. Bei der Festsetzung der Strafe musste unter Annahme eines besonders schweren Falles im Sinne des Abs. 2 und des § 129 Militärstrafgesetzbuches auf Todesstrafe erkannte werden.“ Der Angeklagte habe „im Felde (d. h. im Kriege) unter Ausnützung der Kriegsverhältnisse Sachen, die deutschen Volksgenossen gehören … an sich genommen, in der Absicht, sie sich rechtswidrig anzueignen“. Und weiter: „Kriminelle Elemente, die Lust in sich verspüren, sich am Eigentum vom Bombengeschädigten zu bereichern, müssen wissen, dass sie ihren Kopf riskieren, falls sie dieser Neigung nachgehen; anders können derartige Elemente nicht in Schach gehalten werden.“

Dass Schwinge fast auf den Monat genau vierzig Jahre, nachdem er den Lehrling zu Tode verurteilte, im Wiener Archiv seine eigenen Spuren rekonstruiert, hat seinen Grund.

Buchcover von "Volk im Wahn" vor weißem Hintergrund
Dieser Beitrag ist ein gekürzter und aktualisierter Auszug aus dem neuen Buch „Volk im Wahn“ von Helmut Ortner.

Was Schwinge offensichtlich zur Recherche treibt, sind Veröffentlichungen über sein Wirken in der NS-Zeit als führender Kommentator des Militärstrafrechts und vor allem als Kriegsrichter in Wien. Zahlreiche Unterlagen und Dokumente darüber hatte der Privatforscher Fritz Wüllner, ein pensionierter Wirtschaftsmanager, entdeckt, als er sich um die Aufklärung des Schicksals eines angeblich „auf der Flucht“ erschossenen Bruders bemühte und dabei ein bislang wenig erforschtes schlimmes Kapitel der NS-Zeit stieß: die Militärjustiz. Wüllner, der in- und ausländische Archive durchforschte, fand so gut wie nichts über seinen Bruder. Dafür entdeckte er zahlreiche Ungereimtheiten in der Geschichtsschreibung der NS-Militärjustiz. Das erzürnte Wüllner. Fortan war er entschlossen, Schwinges Buch zu widerlegen. „Also begann ich mich für die Militärjustiz zu interessieren … Wen auch immer ich bei meinen Erkundigungen befragte: Immer wieder wurde ich auf das 1977 erschienene Standardwerk von Schweling und Schwinge, »Die deutsche Militärjustiz in der Zeit des Nationalsozialismus« verwiesen. Das habe ich mir dann gekauft und gelesen. Und war entsetzt!“

Erich Schwinge – emeritierter Professor und Kriegsrichter a.D., war schon 1936 als besonders scharfer Kommentator des NS-Militärstrafgesetzbuches hervorgetreten, und er hielt sich deshalb für kompetent, auch das Nachkriegsbuch über die deutsche Militärjustiz herauszugeben – ein Werk, von dem sich der anfängliche Auftraggeber, das renommierte Institut für Zeitgeschichte in München, später distanziert hat. Der ursprüngliche Autor des Werkes war Otto Peter Schweling, Oberstaatsanwalt bei der Bundesanwaltschaft und ebenfalls früherer Kriegsrichter. Nach dessen Tod erwarb Schwinge die Rechte und fungierte als Herausgeber des umstrittenen Werkes, das einige Rezensenten eine „Lobeshymne“ auf die Militärjustiz und „eindeutig tendenziös“ nannten. Auch Fritz Wüllner erkennt rasch die vielen Widersprüche im Schwinge-Buch. Wie berechtigt dieser Eindruck ist, erfährt Wüllner bei seinen Besuchen im Bundesarchiv Koblenz. Zu der Behauptung, während des Krieges habe es rund 700 000 Verfahren vor deutschen Militärgerichten gegeben, sagt der Privatforscher nach intensiven Recherchen nur einen Satz: „Das ist noch nicht einmal die Hälfte der Wahrheit.“ Die grausame Bilanz: Bei der deutschen Militärjustiz fielen insgesamt etwa 2,5 Millionen Strafverfahren an. Mehr als 30.000 endeten mit einem Todesurteil. Aber nicht nur in Koblenz wird Wüllner fündig: Durch Zufall erfährt er, dass er nicht allein in Potsdam, sondern auch in Wien Akten der Militärjustiz lagern. Die Recherchen zu den verstaubten Zeugen einer verdrängten Vergangenheit führen ihn dabei immer wieder in die Aktenberge des Kriegsgerichts der Division 177. Von 1941 bis zum bitteren Ende fällt Schwinge hier Urteile oder klagt an. Allein zwischen Januar 1944 und Februar 1945 unterzeichnet er sieben Todesurteile. Neun weitere hat Schwinge in diesem Zeitraum als Ankläger beantragt, zuletzt am 9. Februar 1945. Der Angeklagte hatte sich in seiner Verzweiflung Petroleum gespritzt, er wollte auf diese Weise seinen Einsatz als Soldat verhindern. Wegen „Zersetzung der Wehrkraft“ wird dem jungen Soldaten der Prozess gemacht. In der Urteilsbegründung schreibt Schwinge: „Der Angeklagte hat sich in höchst kritischer Situation dem Abgang an die Front entzogen, und er hat damit seinen Kameraden ein sehr gefährliches Beispiel gegeben. Einer solchen Pflichtwidrigkeit kann im Interesse der Manneszucht nur mit dem schärfsten Strafmittel – der Todesstrafe – begegnet werden.“

„Für Minderwertige“, „Schwächlinge“ und „Versager“ ist kein Platz innerhalb der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft“

Nicht nur als prominenter Richter oder Ankläger, sondern auch als Ermittlungsrichter und Untersuchungsführer konnte ein Mann vom Range Schwinges ein Verfahren selbstverständlich beeinflussen. Dies tut er auch, freilich allein im Sinne der NS-Wehrmachtsjustiz. In der letzten Kriegsphase nehmen – wie überall im untergehenden Reich – auch beim Gericht der Division Nr. 177 die Todesurteile in erschreckendem Maße zu. Schwinge ist einer der fanatischen NS-Kriegsrichter. „Ein ungewöhnlich diensteifriger und arbeitsamer Richter von sehr guten Kenntnissen, guter Verhandlungstechnik und sicherem Urteil …“. So lautet die Dienstbeurteilung des Kriegsrichters Schwinge damals, der neben seiner Richtertätigkeit noch als ordentlicher Professor an der Wiener Universität jungen Studenten die rechte Gesinnung beibringt. Dass es sich hier um einen extrem strammen Vertreter nationalsozialistischen Ideenguts handele, bezeugen zahlreiche Aufsätze aus dieser Zeit. In „Die Behandlung der Psychopathen im Militärstrafrecht „(1939/40) ist die Rede von „Minustypen“, von „Minderwertigen“ und ihrer „intensiven Zersetzungsarbeit“. Ernst Toller, 1919 Mitglied der Münchner Räteregierung, zuvor Freiwilliger im Ersten Weltkrieg und an der Front zum Pazifisten geworden, wird als „haltloser Anormaler“, als „ethisch defekter und fanatischer Psychopath“ bezeichnet. Den Schriftsteller und sozialistischen Politiker Erich Mühsam, bereits 1934 im KZ Oranienburg von den Nazis ermordet, schildert Schwinge als „noch gefährlicheren Psychopathen-Typ“. 

Originalton Schwinge: „Nichts vermag besser als diese beiden Namen zu verdeutlichen, was derartige Minderwertige in Zeiten völkischer Bedrängnis an Schaden anrichten können, wenn die Gesellschaft nicht vor ihnen geschützt wird!“ Dafür sorgt auch Schwinge. Für „Minderwertige“, „Schwächlinge“ und „Versager“ ist kein Platz innerhalb der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft. Besonders Militärjuristen sehen in jungen Männern, die das Trommelfeuer des mörderischen Krieges psychisch nicht verkraften, allenfalls Drückeberger, denen nicht das geringste Entgegenkommen gezeigt werden darf. Nein, nicht an der Heimatfront sollten sie eingesetzt werden, Schwinge plädiert stattdessen für die Zusammenfassung in spezielle „Psychopathen-Kompanien“. 

Schon 1933 Zellenleiter im „Bund nationalsozialistischer deutscher Juristen“ und ab 1935 häufig freiwilliger Teilnehmer an militärischen Übungen, ist Schwinge ein Richter, wie ihn die Nazis brauchen. Seine Diensteifrigkeit wird ihm nach Kriegsende keineswegs zum Verhängnis. Im Gegenteil, wie so viele Ex-Nazirichter macht auch er Karriere: Rechtsprofessor an der Universität Marburg, Dekan, zeitweise gar Rektor. In einer Festschrift (Titel: »Persönlichkeit in der Demokratie«), die 1973 von Kollegen zum 70. Geburtstag Schwinges herausgegeben wurde, ist über den Jubilar denn auch nur Löbliches zu lesen. Seine vielen Veröffentlichungen, heißt es, „haben die Lehren des Verfassers von der Freiheit des Menschen, die Wahrung seiner Würde, der Gedankenfreiheit und der überragenden Bedeutung eines Rechtsweges in weite Kreise getragen“. Beispielsweise mit Rechtfertigungsschriften wie »Bilanz der Kriegsgeneration«, ein Buch, das 1979 erschien, und das es auf mehr als zehn Auflagen brachte, oder mit seinem Buch „Verfälschung und Wahrheit“, das 1988 herauskam und in dem Schwinge Hitlers Militärjustiz beinahe als Gegner des Nationalsozialismus darstellt. 

Der Tübinger Hohenrain Verlag nennt in seinem Verlagsprospekt seinen Autor Schwinge den „letzten noch lebenden deutschen Experten des Militärstrafrechts“ und einen der „schriftstellerisch erfolgreichsten deutschen Juristen der Gegenwart“. Zum Ruhme des Mannes mit Vergangenheit erfährt der Leser auch, dass ein Buch von ihm 1940 verboten worden sei. Schwinge gar als Widerstandskämpfer? Als heimlicher Oppositioneller in NS-Robe? Im Vorwort zu seinem 1983 erschienenen Buch »Der Staatsmann – Anspruch und Wirklichkeit« gibt sich der Kriegsrichter a.D. ganz als aufrechter Humanist: „Es ist hoch an der Zeit, dass hier einmal zur Besinnung aufgerufen wird. Das ist schon deshalb notwendig, weil dem in unserem Jahrhundert eingetretenen erschreckenden Niedergang der Staatskunst Einhalt geboten werden muss. Dieser Niedergang äußert sich besonders in der Art und Weise, wie heutzutage mit Menschenleben umgesprungen wird. Die große Wendung zur Inhumanität, die Millionen von Menschen den Tod brachte, wurde nicht erst von Lenin vollzogen und dann – in gigantischem Ausmaß – von Stalin und Hitler fortgesetzt, sie begann schon vorher im Lager der westlichen Demokratien.“ 

Erich Schwinge
„Ein Richter, wie ihn die Nazis brauchen“: Erich Schwinge

Dank der hartnäckigen und umfassenden Spurensuche des Privatforschers Fritz Wüllner können die Erinnerungslücken des Kriegsrichters Schwinge mit Wahrheit gefüllt werden.  In Wüllners 1991 erschienenem Buch »„Die NS-Militärjustiz und das Elend der Geschichtsschreibung« werden auszugsweise zehn Todesurteile des Gerichts der Division Nr. 177 in Wien dokumentiert. Bis zur Gefangennahme im Mai 1945 hat Schwinge hier als Kriegsgerichtsrat mit dazu beigetragen, Menschen in den Tod zu schicken – als Richter, Ankläger, Ermittlungsrichter. „Abschreckung“ als Begründung für ein Todesurteil war längst zur Farce geworden, doch Schwinge und seine Kumpanen richteten bis zuletzt gnadenlos. 

„Der Verurteilte starb gefasst und soldatisch…“

Der Kanonier Heinz Sorbe, geboren am 22. Juni 1918 in Frankfurt am Main, wurde am 15. Februar 1944 vom Gericht der Division Nr. 177 unter Vorsitz von Schwinge wegen Fahnenflucht und fortgesetztem Rückfalldiebstahl zum Tode verurteilt (Str. L. Nr. II/1193/ 1943).

Das Urteil war am 9. März 1944 bestätigt worden. Das Gnadengesuch wird abgelehnt, das Urteil am 24. Mai 1944 vollstreckt, ganz im Sinne des Kriegsrichters Schwinge, der im letzten Satz des Todesurteils ausgeführt hatte: „Ein derartig pflichtvergessenes Verhalten kann im Interesse der öffentlichen Sicherheit und der militärischen Manneszucht nur durch Hergabe des Lebens gesühnt werden.“

Auch der Grenadier Bela Tesch, geboren am 20. August 1904 in Oedenburg wird vom Gericht der Division Nr. 177 am 13. Januar 1945 wegen Fahnenflucht zum Tode verurteilt (Str. L. Nr. H/1252/44). Das Todesurteil ist wiederum vom Vertreter der Anklage, Oberstabsrichter Dr. Schwinge, beantragt worden. 

Im letzten Absatz des Urteil zeigt Schwinge sich wieder ganz als Herr über Leben und Tod: „Der Angeklagte hat die Fahnenflucht ins Ausland begangen und hat sich während derselben schwer gegen das Deutsche Reich vergangen. Er war als deutschfeindlicher Hetzer tätig, hörte selbst feindliche Rundfunksender und hat seine Arbeitskameraden zu gleichen Straftaten aufgefordert. Er konnte sich über ein Jahr von seiner Truppe unerlaubt fernhalten. Dass er auch als Kommunistenführer tätig war, konnte in diesem Zusammenhang nicht festgestellt werden. Der Angeklagte hat sich aber durch die geschilderte Weise in erheblichem Maße während seiner Fahnenflucht verbrecherisch betätigt. Im 6. Kriegsjahr, zu einer Zeit höchster Anspannung aller Kräfte des deutschen Volkes im Endkampf um sein Bestehen, findet diese Fahnenflucht aus Gründen der Aufrechterhaltung der Manneszucht und der Notwendigkeit der Abschreckung nur in der Todesstrafe, die notwendige und gerechte Sühne.“ Am 3. April 1945, wenige Tage nur, bevor russische Truppen Wien einnehmen, wird – nachdem ein Gnadenersuch abgelehnt worden war – der junge Bela Tesch erschossen. Eine Niederschrift hält nüchtern fest: „Das Vollzugskommando von sechs Mann war fünf Schritte vor dem Verurteilten aufgestellt. Das Kommando ‚Feuer‘ erfolgte um 18 Uhr und 49 Minuten. Der Verurteilte starb gefasst und soldatisch.“

Der Fall Anton Reschny. Ein Jüngling aufs Schafott…

Urteilsbegründungen wie diese haben Schwinge im Nachkriegsdeutschland nicht geschadet. Bereits 1946 ist er Rechtslehrer, ebenfalls ständiger Mitarbeiter der Neuen Zeitschrift für Wehrrecht, für die er bereits in der NS-Zeit Beiträge schrieb, als sie noch Zeitschrift für Wehrrecht hieß. Aber in dieser Zeit reicht ein Wort wie “neu“ für eine “neue Karriere“, und diese durchläuft Schwinge als Wissenschaftler, Professor und Publizist in rasantem Tempo.

Anton Reschny, Gestapo-Foto
Foto der Gestapo von Anton Reschny (1927-1997), Wien 1944. (Bild: Sammlung Wüllner, Stiftung Gedenkstätten Sachsen-Anhalt)

In den frühen fünfziger Jahren kann es ein Mann mit seiner Vergangenheit sogar zum stellvertretenden FDP-Vorsitzenden von Hessen bringen. In seinem Heimatort Marburg an der Lahn gehört er zur Stadtprominenz. Bis Mitte der achtziger Jahre lebt Prof. Dr. Schwinge ein ruhiges, gut dotiertes Pensionärs-Leben, schreibt zahlreiche Bücher, in denen er seine bewährten Geschichtsinterpretationen ausbreitet und reinwaschende Vergangenheitsbewältigung betreibt. Nicht ohne Erfolg. Dankbare Leser findet er hierzulande allemal. Ein ebenso geehrter wie geachteter Mann also – wäre da nicht Fritz Wüllner, der wie kein anderer zuvor die verdeckten Strukturen der Militärjustiz in der NS-Zeit erforscht und der Karriere des Kriegsrichters a.D. Schwinge nachspürt. In den Akten des Staatsarchivs in Wien findet Fritz Wüllner die Akte des von Schwinge 1944 verkündete Todesurteils gegen Anton Reschny. Ein Jüngling aufs Schafott, weil er einige kleine Gegenstände einsteckte?

Der Fall Reschny – eine ungewöhnliche Geschichte. Denn: Der von Schwinge verurteilte Junge hat – anders als die beiden jungen Soldaten Sorge und Tesch – sein Todesurteil überlebt. Trotz Schwinge. Angeklagt war der Lehrling damals, ganz korrekt, wegen Verstoßes gegen die so genannten “Volksschädlingsverordnung“. Dabei wäre das Jugendgerichtsgesetz anzuwenden gewesen, das derart drakonische Strafen nicht erlaubte. Stattdessen griff Kriegsrichter Schwinge zum Militärstrafgesetzbuch, das für Jugendliche den Schutz vor Todesstrafe ausschloss. Für Plünderungen in einfachen Fällen war “Gefängnis oder Festungshaft“ vorgesehen, nur in “besonders schweren Fällen“ Zuchthaus oder Todesstrafe. Schwinge indessen begründet sein Reschny-Urteil damit, dass “jeder Fall von Plünderung“ in den großen Städten “ausnahmelos zur Todesstrafe“ führen müsse. Denn Kriminelle sollen nun einmal wissen, “dass sie ihren Kopf riskieren“. Ausgerechnet Heinrich Himmler ist es, der Anton Reschny begnadigte. Der berüchtigte SS-Führer ist in diesem Fall einsichtiger als der fanatische NS-Richter Schwinge und wandelt das Urteil in eine 15-jährige Freiheitsstrafe um.

„Der Angeklagte hat sich in höchst kritischer Situation dem Abgang an die Front entzogen, und er hat damit seinen Kameraden ein sehr gefährliches Beispiel gegeben. Einer solchen Pflichtwidrigkeit kann im Interesse der Manneszucht nur mit dem schärfsten Strafmittel – der Todesstrafe – begegnet werden.“ – Aus der Urteilsbegründung des Kriegsrichters Erich Schwinge 

Ein Mann, der sich nicht dem Zeitgeist und der »antideutschen Gräuelhetze «beugen will

Marburg an der Lahn. Hoch über der Stadt, im gediegenen Wohnviertel Ortenberg, lebt Kriegsrat a. D. Prof. Dr. Erich Schwinge als emeritierter Professor und ehemaliger Rektor. Mit Aufsätzen, Vorträgen und Buchpublikationen versorgt er nach wie vor patriotische Ewiggestrige und unbelehrbar Heutige. Beispielsweise mit seinem Buch »Bundeswehr und Wehrmacht – Zum Problem der Traditionswürdigkeit« (1991), in dem er auf die großen Leistungen des „deutschen Soldaten“ verweist und deren „Wiederherstellung der Ehre“ fordert. Unter der Kapitelüberschrift „Die militärische Leistung der Wehrmacht und ihrer Soldaten“ geht Schwinge in bewährtem Richterton mit allen Gegnern der Wehrmacht ins Gericht. Das Bild, das der deutsche Soldat und die Deutsche Wehrmacht in den besetzten Ostgebieten hinterlassen hätten, reiche – so Schwinge – allein aus, einseitige Historiker „mit ihrem Verdammungsurteil zu widerlegen“. Schwinges Bild der Hitler-Armee: „Als Ganzes betrachtet, ist es ehrenhaft und wegen seiner Vorbildeigenschaft geeignet, als traditionswürdig anerkannt und behandelt zu werden“.

Dem Zeitgeist will sich Kriegsrichter a. D. Schwinge ebenfalls nicht beugen. Eine Diskussion darüber, ob Wehrmachtsdeserteure »Vaterlandsverräter« und diesen Männern auch ein Denkmal gesetzt werden soll, muss auf ihn, der die „soldatische Manneszucht“ immer verteidigte – notfalls auch mit einem Todesurteil – als Akt staatsfeindlichen Aufruhrs wirken. Im Sommer 1988 brachte die Fraktion der Grünen im Marburger Stadtparlament den Vorschlag ein, Pazifisten und Deserteuren ein Denkmal zu setzen – und löste damit in der Provinzstadt eine hitzige Debatte aus. Doch zur Affäre geriet die Debatte erst, als sich der Kommandant der Marburger Garnison, ein Oberstleutnant Leyherr, zum Thema äußerte. Ein Denkmal für solche Gesetzesbrecher, so der Befehlshaber über 3000 Bundeswehrsoldaten, sei eine „Schande und ein Angriff auf diesen Rechtsstaat“. An Marburgs Stadtväter appellierte der Herr Kommandant, sich nicht „entwürdigen zu lassen“ und einem solchen Anliegen zuzustimmen. Er konnte beruhigt sein. Mit Stimmenmehrheit von CDU und der Mehrzahl der SPD-Fraktion lehnte das Parlament das Denkmal ab. 

Die Marburger Provinzwelt war wieder in Ordnung. Und auch Herr Kriegsrat a. D. Schwinge konnte erleichtert zur Kenntnis nehmen, dass in seiner Heimatstadt auf das Parlament noch Verlass ist. Nicht nur was die Traditionswürdigkeit deutscher Vergangenheit betrifft, auch was seine eigene Vergangenheit angeht, war er unbelehrbar geblieben. Kriegsrichter a. D. Schwinge hat zu keinem Zeitpunkt zu erkennen gegeben, dass ihn wenigstens in der Rückschau der Ereignisse sein damaliges Wirken nachdenklich stimmt. Wer versucht, seine braune Vergangenheit zu beleuchten, der hat mit „entschiedener Abwehr zu rechnen“. 

Erich Schwinge – ein deutsche Täter-Biographie. Am 30. April 1994 stirbt  der »ehrenwerte Professor« in Marburg. Die Universität, die Stadt, die Bürgerschaft – sie alle nehmen Abschied. Er war einer der ihren.


Das aktuelle Buch des Autors:
Helmut Ortner – Volk im Wahn
Verlag: edition faust – 2022, 200 Seiten
ISBN: 978-3-949774-04-1

Titelbild: Uniform von Erich Schwinge, public domain

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