Warum die Klimakrise keine technische Herausforderung ist
„Die Wirklichkeit ist immer das schönste Zeugnis für die Möglichkeit“ – das schrieb schon Johann Nestroy im „Talisman“. Unsere Wirklichkeit muss sich allerdings drastisch verändern, um uns eine lebenswerte Zukunft zu sichern.
Von Michael Soder (A&W-Blog)
Dafür brauchen wir nicht nur technische oder ökonomische Veränderung, sondern wir müssen die Komplexität der sozialen Realität mitdenken. Wir müssen vielfältige Perspektiven berücksichtigen, über alte Denkschablonen hinausgehen und ein wirtschaftspolitisches Programm des Umbaus zimmern. Die immer häufiger werdenden Dürren, Brände, Fluten und Hitzetoten symbolisieren das Ausrufezeichen zu dieser Aufforderung zu handeln.
Never change a running system, oder etwa doch?
In der politischen und medialen Debatte zur Klimakrise geht es meist um eine technologische Modernisierung, also das Lösen klima- und gesellschaftspolitischer Herausforderungen mittels Technologie. Ihr Versprechen: ein einfacher Kampf gegen die Klimakrise durch möglichst wenig Veränderung. Der Hintergrund ist, dass viele denken, CO2-Ausstoß sei ein ausschließlich technologisch bedingtes Problem, für das es auch eine technologische Lösung geben muss. Sie hoffen, dass Digitalisierung und grüne Technologien Hand in Hand gehen werden und das Wachstum vom materiellen Ressourcendurchfluss entkoppeln. Mit einer einfachen Kosten-Nutzen-Rechnung könnte der Staat dann die notwendigen technologischen Entwicklungen fördern. Das ist jedoch ein sehr einseitig technisch-ökonomischer Blick auf die Klimakrise. Er versperrt die Sicht auf die soziale Basis wirtschaftlicher Aktivitäten und die komplexen Zusammenhänge zwischen Umwelt, Gesellschaft und Wirtschaft. Aus einer solch verengten Perspektive abgeleitete wirtschaftspolitische Strategien und Maßnahmen greifen daher zwangsläufig zu kurz.
Die Transformation umfassender verstehen
Produktion, Konsum, Mobilität und unsere Freizeitgestaltung von ihrer fossilen Basis zu befreien und auf nachhaltige Beine zu stellen ist also keine rein technologische Herausforderung, sondern eine sozioökonomische. Anstelle eines reinen Technologieoptimismus müssen wir den Menschen als zentralen Kristallisationspunkt der Veränderung in den Mittelpunkt des Umbaus stellen.
So spielen soziale Beziehungen und Normen, aber auch innere Konflikte und Motivationslagen eine wichtige Rolle. Ebenso beeinflussen die Einkommens- und Eigentumssituation, Geschlechterrollen, Alter, Gesundheitszustand und Bildungsgrad, wie Menschen mit Veränderung umgehen können und wie sie den Auswirkungen von Veränderung begegnen.
Der sozial-ökologische Umbau der Wirtschaft kann nur gelingen, wenn dieses Zusammenspiel aus sozialen, ökologischen und ökonomischen Perspektiven verstanden wird. Die Perspektive der von Veränderungen betroffenen Personen muss in den Fokus der Maßnahmenplanung rücken. Außerdem kann eine ambitionierte Klima- und Energiepolitik nur dann gelingen, wenn die politische Akzeptanz für die Maßnahmen vorhanden ist. Die Gelbwestenproteste in Frankreich können als mahnendes Beispiel in dieser Hinsicht verstanden werden. Deshalb müssen wir verstehen, dass soziale Dynamiken höchst relevant im Prozess der Transformation sind und dass sie bremsend oder verstärkend wirken. Moore et al. (2022) unterscheiden hierbei acht relevante Feedback-Mechanismen:
- Feedback durch soziale Konformität: Verändert eine kritische Masse an Individuen ihr Verhalten, so kann das auch generell soziale Normen verschieben. Dadurch entsteht Konformitätsdruck, der wiederum den Umstieg auf umweltfreundliche Politik und nachhaltiges individuellen Verhalten beschleunigen kann. Ein gutes Beispiel dafür sind sich verändernde Mobilitätsnormen wie die kontinuierlich steigende Akzeptanz von E-Mobilität.
- Feedback durch Wahrnehmung: Veränderte lokale Wetterbedingungen und Extremwetterereignissen können dazu führen, dass die Klima- und Biodiversitätskrise stärker wahrgenommen wird – und damit Klimaschutzmaßnahmen leichter durchgesetzt werden können. Das kann etwa bei der Akzeptanz von Windkraftanlagen der Fall sein. Die Bewegungsrichtung einer verstärkten Wahrnehmung ist jedoch nicht immer gleich. Denn Ereignisse werden politisch unterschiedlich interpretiert, und es kann auch Gewöhnung eintreten.
- Feedback durch politische Interessen: Die Klimaziele und die Stabilisierung der Ökosysteme können nicht durch individuelles Handeln allein erreicht werden. Dies bedeutet, dass die Frage, wie die individuelle Unterstützung oder Ablehnung der Klimapolitik durch das politische System in kollektives Handeln umgesetzt wird, entscheidend ist. Selbst kleine politische Veränderungen sind dazu imstande, Dynamiken für oder gegen die Umsetzung klimapolitischer Maßnahmen zu entwickeln. Diese Dynamiken wirken nicht geradlinig und unterliegen politisch-ökonomischen Zwängen, die durch komplexe politische und staatliche Institutionen wirken und eigenen Logiken folgen.
- Feedback durch Glaubwürdigkeit: Obwohl individuelle Verhaltensänderungen die Treibhausgasemissionen nur wenig senken, kann eine positive Einstellung zu umweltfreundlichem Verhalten über soziale Beziehungen verstärkt werden. Glaubwürdigkeit und Vorbildfunktion wirken damit weit über individuelles Verhalten hinaus. Ist die Glaubwürdigkeit jedoch beschädigt, tritt eine negative Verstärkung auf. Das tritt etwa auf, wenn Politiker:innen mit dem Flugzeug zu Klimaschutzkonferenzen anreisen.
- Feedback durch die Ausdruckskraft des Rechts: Recht und Rechtsprechung drücken gesellschaftlich erwünschtes Verhalten und geteilte Werte aus. Die Signale, die vom Recht ausgehen, beeinflussen damit soziale Normen. Die Möglichkeit von Klimaklagen kann dadurch Signalwirkung entfalten und normbildend wirken.
- Feedback durch endogene Kostenreduktion: Bei neuen Technologien sinken durch Skalenvorteile und zunehmende Effizienz kontinuierlich die Kosten. Dadurch verschieben sich mittelfristig die relativen Preise zwischen fossilen und umweltfreundlicheren Technologien, sodass Letztere billiger werden. Werden Pilotprojekte und kleine Serien öffentlich gefördert und die Schaffung von Absatzmärkten unterstützt, kann das mittelfristig die Technologieausrollung beschleunigen.
- Feedback durch Effekte der Temperatur und Emission: Hohe Temperaturen und andauernde Hitzebelastung führen zu Negativeffekten auf die (Arbeits-)Produktivität. Arbeitsunfälle, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und das Aggressionsniveau nehmen durch Hitzebelastung zu, während die Konzentrationsfähigkeit und Stresstoleranz abnehmen. Ökonomisch führt dies zu einem sinkenden Output und potenziell sogar zu einer Reduktion zukünftiger Emissionen.
Möglichkeiten groß denken und Wirklichkeit gestalten!
Ja, die technokratische Ausgestaltung der ökonomischen Rahmenbedingungen und die finanzielle Förderung neuer Technologien spielen eine wichtige Rolle im Umbau. Aber sie sind allein nicht genug. Eine Politik des Wandels kann nur erfolgreich sein, wenn sie die unterschiedlichen sozialen Dynamiken, die im Wandel wirken, begreift und mit ihren Strategien und Maßnahmen anspricht. Es braucht dazu eine Politik für einen gerechten Übergang, eine „Just Transition“, und eine aktive politische Gestaltung des Umbaus. Wird die soziale Ebene in der Umsetzung vernachlässigt, droht der Umbau am Widerstand der Bevölkerung zu scheitern. Wir müssen die sozialen Zusammenhänge ernst nehmen und in die Konzeption von Lösungswegen einbeziehen. Schädlich sind hingegen grundsätzliche Zieldebatten, die die Notwendigkeit des Umbaus infrage stellen. Sie suggerieren, dass der Pfadwechsel bereits voll im Gange wäre, obwohl noch zu wenig oder zu wenig umfangreiche Handlungen gesetzt wurden. Damit können sie negativ im Sinne des „Wahrnehmungsfeedbacks“ in die Gesellschaft wirken.
Um den Umbau gerecht zu gestalten, müssen wir die Aufmerksamkeit verstärkt auf die Umsetzung lenken. Konkrete Schritte dürfen nicht nur im technisch-ökonomischen Lösungsraum stecken bleiben, sondern müssen den notwendigen sozialen Kern des Wandels ins Zentrum stellen. „Silver-Bullet“-Lösungen, also technische Einzelmaßnahmen, können den notwendigen Wandel nicht in der Breite umsetzen. Im Gegenteil, unter der „Mission“ der Dekarbonisierung und eines gerechten Übergangs braucht es immer einen breiten Strategie- und Maßnahmenmix. Dazu gehört ein entsprechender Diskursraum und Platz für Mitbestimmung, die Berücksichtigung der sozialen Frage und ein Mehr an Sozialstaat und Demokratie, von den Betrieben über die Gemeinden bis hin zur nationalen und internationalen Ebene. Oder in Anlehnung an Nestroy: die Möglichkeiten neu und groß denken, um die Wirklichkeit daran zu messen.
Titelbild: Parsing Eye auf Unsplash