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Politische Kräfteverhältnisse im Lichte der EU-Wahlen 2024

In rund einem Jahr finden die nächsten EU-Parlamentswahlen statt. Höchste Zeit also, einen näheren Blick auf die Entwicklung der politischen Kräfteverhältnisse auf EU-Ebene zu werfen.

Von Frank Ey (A&W-Blog)

In allen drei gesetzgebenden EU-Institutionen, der Europäischen Kommission, dem Europäischen Parlament und dem Rat, dürfte es zu Machtverschiebungen kommen. Sowohl die jüngsten Wahlen in den EU-Mitgliedsstaaten auf nationaler Ebene als auch erste Prognosen zu den Parlamentswahlen geben Aufschlüsse darüber, mit welchen Mehrheiten in nächster Zukunft zu rechnen sein könnte.

EU-Parlament: Prognosen sehen Gewinne für Fraktionen am linken und am rechten Rand

Das Datum ist bereits fixiert: Zwischen 6. und 9. Juni 2024 werden die Wahlen zum Europäischen Parlament stattfinden, 705 Abgeordnetenmandate werden neu verteilt. Erste Umfragen zeigen ein großes Interesse an der Europawahl. Rund 68 Prozent der Österreicher:innen wollen laut dem Eurobarometer wählen gehen. Das Alpenland liegt damit sogar etwas über dem EU-Durchschnitt von 67 Prozent. Das ist äußerst bemerkenswert, weil bei einer gleich gelagerten Umfrage vor fünf Jahren nur 56 Prozent (Österreich) bzw. 58 Prozent der Befragten (EU-weit) angaben, wählen gehen zu wollen.

Eine erste Umfrage zu den EU-Parlamentswahlen, über die das europäische Magazin EURACTIV im Mai berichtete, prognostiziert Zugewinne für die Linke (GUE/NGL) sowie für rechtspopulistische Parteien wie die Europäischen Konservativen (EKR) und die Fraktion Identität und Demokratie (ID). Demnach soll die EKR auf 85 Mandate (plus 19 im Vergleich zum EP heute) und die ID auf 64 Mandate (plus 2) kommen. Die GUE/NGL wiederum könnte auf 51 Sitze kommen (plus 14). Starke Einbußen muss hingegen die Grüne Fraktion befürchten, die nach der Prognose nur auf 49 Mandate kommen soll (minus 23). Etwas moderatere Verluste sieht die Vorhersage für die Liberalen mit 89 Sitzen (minus 12) und die Europäische Volkspartei (EVP) mit 165 Mandaten (minus 12). Die sozialdemokratische Fraktion S&D soll mit 141 Mandaten (minus 2) kaum Verluste verzeichnen. Die restlichen Mandate gehen an fraktionslose Abgeordnete oder können noch nicht zugeordnet werden. Auf ähnliche Ergebnisse kommt auch die Online-Plattform Föderalist.

Umfragen zum jetzigen Zeitpunkt sind aber mit entsprechendem Vorbehalt zu verstehen: Eine im Oktober 2018 veröffentlichte erste Prognose des EU-Magazins „Politico“ für die EU-Parlamentswahlen 2019, die schwere Verluste für Sozialdemokrat:innen und die Europäische Volkspartei und für rechtspopulistische Parteien starke Gewinne vorhersagte, erwies sich letztlich als falsch. Das Ergebnis der EU-Wahlen 2019 brachte eine überraschende Mitte-links-Mehrheit statt dem vorhergesagten Rechtsruck.

Ratsebene mit deutlichen Änderungen

Deutliche Veränderungen auf Ebene des Rats gibt es bereits seit letztem Jahr. Nationale Wahlen haben zu mehreren Wechseln bei den Staats- und Regierungschefs geführt. So steht nun die Neofaschistin Giorgia Meloni in Italien an der Spitze, während in Schweden der Konservative Ulf Kristersson die Sozialdemokratin Magdalena Andersson als Premierminister abgelöst hat. Ähnliches dürfte auch in Finnland bevorstehen, wo die Sozialdemokratin Sanna Marin demnächst von Petteri Orpo von der konservativen nationalen Sammlungspartei abgelöst werden dürfte. In Spanien kündigte der sozialdemokratische Premier Pedro Sanchez nach der Niederlage seiner Partei bei den Regionalwahlen Neuwahlen an. Sanchez hofft auf einen Sieg mit einem neu geschaffenen linken Bündnis. Bereits vor den spanischen Wahlen dominieren die Vertreter:innen der EVP mit zehn Staats- und Regierungschefs jedenfalls deutlich, gefolgt von den Sozialdemokrat:innen (sechs), den Liberalen (fünf), den Rechtsextremen bzw. -konservativen (3) und zwei parteilosen Regierungschefs.

Wesentlich zu wissen ist jedoch auch, von welchen Parteien die Minister:innen kommen, die in den Ministerräten aktiv sind. Ein näherer Blick zeigt, welche Parteien in den EU-Mitgliedsländern in den jeweiligen Regierungen vertreten sind und wie sich die Zusammensetzung in den nationalen Regierungen in den letzten rund zehn Jahren entwickelt hat: Die Europäische Volkspartei hat in den letzten Jahren deutlich an Einfluss eingebüßt, den sie nun langsam zurückgewinnt. Die Sozialdemokrat:innen konnten ihre Beteiligung in den nationalen Regierungen in diesem Zeitraum minimal erhöhen. Liberale und Grüne konnten ihre Position deutlich ausbauen. Auffallend ist, dass Rechtspopulist:innen und Rechtskonservative ihre Beteiligung in den EU-Regierungen zwischen 2012 und 2023 verdoppeln konnten.

Parteizugehörigkeit der Staats- und Regierungschefs der EU
Grafik: A&W-Blog

Zusammensetzung der nationalen Regierungen
Grafik: A&W-Blog

Zusammensetzung der Europäischen Kommission noch ungewiss

Wer EU-Kommissionspräsident:in werden könnte, entscheidet sich grundsätzlich nach den EU-Wahlen. Die stärkste Fraktion hat die besten Karten, auch den Vorsitz in der Kommission zu stellen. Nach den Wahlen beraten sich die Präsident:innen des Europäischen Rats und des Europäischen Parlaments über eine mögliche Kandidatin oder Kandidaten. Diese bzw. dieser wird dann im Europäischen Rat mit qualifizierter Mehrheit und im Europäischen Parlament mit einfacher Mehrheit gewählt. Die aktuelle EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen will laut den letzten Informationen auch für die nächste Amtszeit 2024 bis 2029 wieder als Kandidatin antreten. Informelle Gespräche zwischen mehreren Staats- und Regierungschefs dürfte es schon gegeben haben. Trotzdem ist es noch lange nicht sicher, ob von der Leyen auch wirklich noch eine zweite Amtszeit antreten wird können. Die Zusammensetzung im Rat hat sich erheblich verändert und auch im Europäischen Parlament ist mit Änderungen bei der Stärke der einzelnen Fraktionen zu rechnen.

Die übrigen Mitglieder der EU-Kommission werden von den nationalen Regierungen der jeweiligen EU-Mitgliedsländer vorgeschlagen. In den meisten Fällen werden die Kommissionskandidat:innen aus der Parteifamilie des jeweiligen Staats- und Regierungschefs kommen. In Ausnahmefällen können sie aber auch von einem Koalitionspartner aus der Regierung oder aber, noch seltener, von einer oppositionellen Partei kommen. Das beste Beispiel dafür ist EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die der CDU zuzurechnen ist, dem Vernehmen nach aber vom deutschen Bundeskanzler Scholz unterstützt wird.

Wer von der österreichischen Bundesregierung vorgeschlagen wird, ist noch offen. Johannes Hahn, der drei Legislaturperioden lang „Österreichs“ EU-Kommissar war, wird für eine vierte Amtsperiode jedenfalls nicht mehr zur Verfügung stehen. Es ist zu vermuten, dass der oder die nächste Kommissar:in erneut, wie schon seit dem Beitritt Österreichs zur EU, von der ÖVP kommen wird, außer die Grünen würden sich überraschend mit einer anderen Kandidatin oder einem anderen Kandidaten durchsetzen.

Die Aussichten für die Jahre nach den EU-Wahlen

Aus heutiger Sicht ist davon auszugehen, dass die Parteizugehörigkeit der künftigen EU-Kommissar:innen ähnlich aussehen wird wie die der Staats- und Regierungschefs. Damit zeichnet sich schon heute ab, dass die EU-Institutionen im Herbst 2024 verstärkt aus wirtschaftspolitisch orientierten und auch rechtspopulistischen Vertreter:innen bestehen werden. Gesellschaftspolitisch wichtige Themen wie im Bereich der Beschäftigungs-, Sozial- oder Umweltpolitik könnten damit in den nächsten Jahren in den Hintergrund gedrängt werden.


Dieser Beitrag wurde am 14.06.2023 auf dem Blog Arbeit & Wirtschaft unter der Creative-Commons-Lizenz CC BY-SA 4.0 veröffentlicht. Diese Lizenz ermöglicht den NutzerInnen eine freie Bearbeitung, Weiterverwendung, Vervielfältigung und Verbreitung der textlichen Inhalte unter Namensnennung der Urheberin/des Urhebers sowie unter gleichen Bedingungen.

Titelbild: Europäisches Parlament in Straßburg. Foto: DAVID ILIFF, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons

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