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Sehen, zeigen, authentisch sein?

In »Das glückliche Geheimnis« eröffnet Arno Geiger dem Leser eine Beichte, die manchen schnell zu viel werden kann

“Sonntag ist Büchertag” von Christian Kaserer

Arno Geiger macht es sich leicht. Der aus Vorarlberg stammende Autor gilt spätestens seit dem Erscheinen seines vielbeachteten sowie prämierten Buches Es geht uns gut, als ein firmer Kundschafter der menschlichen Seele. Dabei interessieren ihn jedoch nicht nur, wie manch andere, die negativen Seiten. Geiger versucht sich daran, in seiner Literatur die gesamte Klaviatur menschlichen Innenlebens, mit all den Disharmonien, welche dabei zutage treten können, zu beleuchten. Während Es geht uns gut noch die Geschichte dreier Generationen schilderte, widmete sich Geiger in Der alte König in seinem Exil dem sukzessiven durch Alzheimer bedingten Zerfall seines Vaters. Es sind keine leichten Themen, die er dabei anpackt und vieles schmerzt den empathischen Leser hier und dort. Eine Hinwendung zum eigenen Leben, zum autobiographisch inspirierten Schreiben, war bereits seit einiger Zeit erkennbar und so nimmt es nicht Wunder, dass Geiger mit seinem neuesten Wurf, genannt Das glückliche Geheimnis, ein Buch vorlegt, welches die Geschichte seiner selbst sowie seines Schreibens erzählt. Vordergründig jedenfalls.

Die Geschichte setzt bei einem viel jüngeren, ja spürbar naiveren Geiger ein, dessen größter Wunsch es ist, möglichst bald Schriftsteller zu werden. Gefangen in einer unglücklichen Beziehung und in einem nicht erfüllenden Studium in der Hauptstadt Wien, plagen den jungen Geiger Existenzängste und so beginnt er, eigentlich aus der Not heraus, im Altpapiermüll nach Büchern, Kunst, Postkarten und allerlei weiteren Druckerzeugnissen zu suchen, um jene mal mehr, mal weniger gewinnbringend am Flohmarkt und in Antiquariaten an Liebhaber und Ahnungslose veräußern zu können. Eine durchaus einträgliche Strategie mit einem besonderen Nebeneffekt, findet Geiger im Müll doch nicht nur Gedrucktes, sondern überdies allerlei Selbstzeugnisse, wie etwa Tagebücher und Briefe. Sukzessive werden diese eigentlich ja der Vernichtung übergebenen, hochpersönlichen Hinterlassenschaften zum Hauptinteresse Geigers bei den regelmäßigen Mülltouren und zu einer wichtigen Quelle für seine Literatur. Nebst des erzählten Aufstiegs zum Pandämonium der Österreichischen Gegenwartsliteratur, finden wir auch altbekannte Motive aus Geigers früheren Romanen. Beziehungsdramen hier, der Vater dort und dazwischen das mit der Lebensgefährtin K. gefundene, nicht immer leichte Lebensglück. Ein großer oder zumindest überraschender Wurf ist Das glückliche Geheimnis also nicht, vielmehr ist man geneigt zu sagen: Glückwunsch, es ist ein Geiger!

Auffällig daran sind allerdings zwei Aspekte: Einerseits der eher seltene Versuch, nicht nur die Praxis des eigenen Schreibens, sondern überdies eine implizite Poetik eben dieser Texte in das Buch einzubauen. Andererseits die radikale Offenheit.

Germanisten dürften über den erstgenannten Aspekt erfreut wie schockiert sein. Endlich ein Autor, der ihnen Einblick in die Praxis seines Schreibens gewährt, ja geradezu in der Schreibstube herumführt. Das ist selten, gilt doch der Schaffensprozess vielen als ein Allerheiligstes, das man nicht einmal selbst erkunden mag, könnte es doch so fragil sein, dass nach einer Visite der Fluss des Schreibens zu einer Blockade werden könnte. Editionsphilologen indes dürfte der Gedanke, das Geigersche Œuvre bestünde zu nicht unwesentlichen Teilen aus intertextuellen Entlehnungen völlig unbekannter, für immer verlorener Selbstzeugnisse, dem vielzitierten Versuch der Quadratur des Kreises gleichkommen. Diese unbekannten Quellen sogenannter einfacher Menschen allerdings sind das Kernelement der impliziten Poetik Arno Geigers. Immer wieder betont er dabei mit unterschiedlicher Deutlichkeit, dass jene völlig zufällig an ihn gekommenen Texte eine unermesslich reiche Inspirationsquelle waren, wenn es darum geht, die Menschlichkeit, ja die verzweifelte Menschlichkeit mit ihren Leidenschaften und Freuden authentisch darzustellen. Hier allerdings wird der Text, um dieses geradezu inflationär gebrauchte Wort zu nutzen, problematisch. Geiger sucht sich vom Gros der Gegenwartsliteratur durch eben jene Authentizität abzuheben. Er würde, empathisch wie er ist, einen tiefen und vor allem ehrlichen wie unverstellten Blick in die menschliche Seele wagen, während andere in ihren Untiefen eine dunkelblau-schwarze Tiefe wie inmitten des Pazifiks vermuteten, sich aber doch nur im Neusiedlersee fänden. Das mag überspitzt klingen, trifft allerdings den Kern der impliziten Poetik Geigers und als könne er es selbst nicht glauben, tritt er an, uns es im Buch praktisch zu belegen. Geiger zieht sich vor unseren Augen sprichwörtlich aus. Beziehungsdilemmata, Affären, Konflikte, ja gar das nächtliche in Faulheit begründete Pinkeln ins Waschbecken werden thematisiert. Was einige Rezensenten zum Wunsch bringt, mit Geiger befreundet zu sein, lässt sich auch konträr lesen: Es ist, als setze sich in der Schule ein fremdes Kind neben uns, berichte, dass es gestern Nacht ins Waschbecken gepinkelt habe und harrt unserer Reaktion. Einige werden es mögen, andere wiederum versuchen wohl ein verwundertes »Jö« hervorzupressen und hoffen, von weiteren Ausführungen dieser Art in Ruhe gelassen zu werden. Freilich – auch das ist überspitzt, verdeutlich aber einen ganz besonderen Aspekt dieses Buches. Es ist die geradezu spürbare Lust am Zeigen, wenn Geiger all diese Dinge schildert, sowie die Lust am Sehen, wenn er fremde Texte nimmt und liest. Man spürt die im Freudschen Sinne möglichst weit verstandene sexuelle Aufladung dieser Momente geradezu. Geiger als Voyeur und Exhibitionist, wenn man so will.

Nebst all diesen Kritikpunkten bezüglich der Problematik vermeintlicher Authentizität kommt die auffallend apolitisch Art des Buches hinzu. Andere hätten an Geiger statt diese Gelegenheit beim Schopfe gepackt und dazu genutzt, nebst des eigenen Lebens etwa auch die Österreichische Innenpolitik kritisch abzulichten, sowie gesellschaftliche Verhältnisse, besser Missstände zu beleuchten. Allein, solche Momente sind eine Seltenheit. Gewiss, an einer Stelle etwa nutzt Geiger eine stark komprimierte Darstellung dessen, was er über die Jahre hinweg im Müll fand, um eine degenerierende Konsumgesellschaft und die Folgen des technischen Wandelns kritisch darzustellen. Über eine Seite hinweg erwehrt man sich also kaum des Eindrucks, Geiger gehöre zur Gruppe der Kulturpessimisten. Über weite Strecken allerdings bleibt Geiger bei sich, beim nicht mehr nur autonomen, sondern autark gewordenen postmodernen Individuum. Es ist, als würde der Kartograph der menschlichen Seele, den Kontinent nicht mehr vom Meer aus in seinen Umrissen zeichnen, sondern versuchen, dies von einem Binnengewässer, von einem See aus zu tun. Arno Geiger hat es sich leicht gemacht.

Arno Geiger
Das glückliche Geheimnis
Carl Hanser Verlag, München 2023
ISBN 9783446276178
Gebunden, 240 Seiten


Titelbild: Carl Hanser Verlag; Hintergrund: Image by Michaela, at home in Germany • Thank you very much for a like from Pixabay

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