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Österreich braucht eine wirksamere Strategie gegen Armut

Die schwarz-grüne Regierung hat sich zum Ziel gesetzt, den Anteil an armutsgefährdeten Menschen zu halbieren. Dieses Ziel wurde verfehlt. In Österreich – einem der reichsten Länder der Welt – kommt es sogar zu einem Anstieg der absoluten Armut. Die Gleichzeitigkeit von enormem Überreichtum und Armut bedeutet, dass die Politik ihre Hausaufgaben nicht gemacht hat. Österreich braucht dringend eine wirksame Armutsstrategie. Hier schlagen wir eine Reformskizze vor. Der Sozialstaat ist dabei nach wie vor das beste Rezept gegen Armut, muss aber weiterentwickelt und angepasst werden.

Von Dennis Tamesberger und Iris Woltran, AK Oberösterreich (A&W-Blog)

Der österreichische Sozialstaat ist ein internationales Vorbild, wirkt in hohem Maße armutsvermeidend und reduziert Ungleichheit in der Gesellschaft. Der Sozialstaat nimmt den Menschen einen Teil der Furcht vor den großen Risiken im Leben. Durch soziale Transfers, wie z. B. Arbeitslosengeld, Pensionen, Sozialhilfe, wird die Armut in Österreich deutlich reduziert. Ohne Pensionen und Sozialleistungen wären rund 3,9 Millionen Menschen bzw. 44 Prozent der Bevölkerung armutsgefährdet. Durch das soziale Sicherungssystem sinkt die Anzahl der Armutsgefährdeten auf rund 1,3 Millionen Menschen. Dies ist eine beachtliche Leistung unseres Sozialstaates, für den wir Sozialversicherungsbeiträge und Steuern – also Sozialstaatsbeiträge – zahlen. Rückschritte im sozialen Netz und die jüngsten Krisen zeigen aber, wo die sozialen Sicherungssysteme nicht ausreichend vor Armut und Lebensstandardverlusten schützen.

Die Ruine Sozialhilfe

Marterbauer/Schütz schreiben in ihrem Buch: „… an der Mindestsicherung entscheidet sich die ideelle Ausrichtung des Gemeinwesens.“ Mit der Abschaffung der bedarfsorientierten Mindestsicherung und Wiedereinführung der Sozialhilfe betrieb die türkis-blaue Regierung ein armenfeindliches Projekt, das Druck und Angst verbreitet. Statt eines Mindestbetrags im letzten sozialen Netz gibt es nun Höchstgrenzen – Sozialhilfe-Richtsätze unter der Armutsschwelle – und eine extreme Uneinheitlichkeit der Regelungen zwischen den Bundesländern:

Grafik: Unterschiedliche Sozialhilfe in den Bundesländern
Grafik: A&W-Blog

Versorgungsquote sehr unterschiedlich und viel zu niedrig

Die Versorgungsquote (Anzahl der Armutsgefährdeten in Relation zu den Sozialhilfe- bzw. Mindestsicherungsbeziehenden) ist am besten in Wien (Jahresbericht der Wiener Mindestsicherung für 2022), wo vier von zehn armutsgefährdeten Menschen durch die Mindestsicherung abgesichert sind. Am geringsten ist sie in Oberösterreich und Kärnten mit nur jeweils sieben Prozent Versorgungsgrad. Mindestsicherung und Sozialhilfe sind von einer tatsächlichen Armutsbekämpfung – mit einer Versorgungsquote von 100 Prozent – weit entfernt.

Grafik: Versorgungsquote 2022
Grafik: A&W-Blog

Die Rückkehr der absoluten Armut

Die massive Ausgabenbelastung aufgrund der hohen Teuerung belastet vor allem Familien mit einem geringen Einkommen. Dies spiegelt sich im starken Anstieg der absoluten Armut wider, die sich von 2021 auf 2022 um rund 40.000 auf 200.000 Personen bzw. 2,3 Prozent (2021: 1,8 Prozent) der Bevölkerung erhöhte. Diese Menschen sind erheblich materiell und sozial benachteiligt und können sich aufgrund der gestiegenen Preise und des zu geringen Einkommens wichtige gesellschaftliche Grundbedürfnisse nicht mehr leisten.

Grafik: Finanziell bedingte Einschränkungen bei Grundbedürfnissen
Grafik: A&W-Blog

Entwicklung der Armuts- oder Ausgrenzungsgefährdeten in Österreich

Auch die Zahl der Armuts- oder Ausgrenzungsgefährdeten hat sich von 2021 auf 2022 erhöht. Gab es 2021 noch rund 1,519 Millionen Armuts- oder Ausgrenzungsgefährdete, so waren es 2022 rund 1,555 Millionen Menschen (18 Prozent der Bevölkerung). Lediglich bei den Haushalten mit Erwerbslosigkeit konnte aufgrund der besseren Arbeitsmarktlage seit Eindämmung der Covid-19-Pandemie ein Rückgang von rund 100.000 Personen verzeichnet werden.

Armut ist demokratiepolitisch ein Problem

Armut ist vor allem auch für die Demokratie an sich ein Problem. Mit der ökonomischen Ungleichheit sinken das Vertrauen in die Politik und die politische Partizipation von Bevölkerungsgruppen mit geringem Einkommen (Zandonella). Nur etwa die Hälfte des ökonomisch ärmsten Drittels geht wählen, aber 80 Prozent des reichsten Drittels. Ähnlich in Deutschland, wo bei Armutsbetroffenen das Vertrauen in Parteien, in die Politik und in das Rechtssystem verloren ging (Verteilungsbericht des WSI). Die Beseitigung von Armut ist somit eine Politik zur Stärkung der Demokratie.

Eine wirksame Armutsstrategie sollte bei jenen Bevölkerungsgruppen ansetzen, die eine hohe Betroffenheit haben.

Reformansatz Ausgleichszulage

Ein großer Hebel ist die Ausgleichszulage. Sie ist ein steuerfinanziertes Instrument zur Bekämpfung von Altersarmut im Rahmen der Pensionsversicherung. Zentrales Problem dabei ist, dass z. B. der Ausgleichszulagenrichtsatz unter der Armutsschwelle liegt. Eine Erhöhung der Ausgleichszulage in Richtung Armutsschwelle würde Mehrkosten von rund einer Milliarde Euro verursachen (0,7 Mrd. im Bereich der Pensionsversicherung und 0,3 Mrd. in der Sozialhilfe/Mindestsicherung). Das käme rund 500.000 Haushalten mit mehr als 900.000 Menschen zugute. 48 Prozent davon sind Frauen, 36 Prozent Männer und 16 Prozent Kinder. Durch diese Maßnahme sinkt die Armutsgefährdungsquote um rund zwei Prozentpunkte, jene der Personen über 60 Jahren sogar um fünf Prozentpunkte (Fuchs/Wohlgemuth).

Reformansatz Arbeitslosengeld

Eine Gruppe mit sehr hohem Armutsrisiko sind arbeitslose Menschen, insbesondere wenn die Arbeitslosigkeit länger andauert. Ursache hierfür ist, dass die Nettoersatzrate in der Arbeitslosenversicherung mit 55 Prozent nicht ausreichend vor Armut schützt. Eine Erhöhung der Nettoersatzrate beim Arbeitslosengeld auf 70 Prozent würde rund 80 Prozent der arbeitslosen Menschen helfen. Die Anzahl an arbeitslosen armutsgefährdeten Menschen würde um rund 37.300 gesenkt und das Armutsrisiko unter den Arbeitslosen würde um drei Prozentpunkte reduziert werden (Studie Premrov/Geyer/Prinz). Die Bruttokosten würden inflationsbereinigt aktuell rund 970 Millionen Euro betragen.

Reformansatz Unterhaltsvorschuss

Zur Verbesserung der Lebenslagen von – insbesondere armutsbetroffenen – Kindern sollte der Unterhaltsvorschuss erhöht werden, um die tatsächlichen Unterhalts- bzw. Kinderkosten besser abzudecken. Die Erhöhung würde rund 81 Millionen Euro kosten.

Reformansatz warmes und gesundes Mittagessen

Ein kostenloses warmes und gesundes Mittagessen für Kinder in Kindergärten, Volksschulen und in der Unterstufe wäre eine wichtige Maßnahme der Gesundheitsförderung und Inklusion. Eine Sachleistung ohne Stigma für Familien mit geringem Einkommen und zur Aufwertung der Institution Schule. Dies würde je nach Ausgestaltung rund 980 Millionen Euro kosten.

Diese Reformansätze stellen eine wichtige Weiterentwicklung des Sozialstaates dar und würden in Summe insgesamt rund drei Milliarden Euro pro Jahr bzw., da sich die Maßnahmen zum Teil überschneiden, per Saldo rund 2,6 Milliarden Euro an Gesamtkosten bedeuten.

Fazit: Die Beseitigung von Armut ist eine Frage des politischen Willens

Die schwarz-grüne Regierung hat ihr Ziel, den Anteil an armutsgefährdeten Menschen zu halbieren, verfehlt. Das Nicht-Erreichen dieses Zieles ist eingebettet in äußerst schwierige Rahmenbedingungen, geprägt von Corona-Pandemie, Energie- und Inflationskrise sowie sozial-ökologischen Herausforderungen. Dennoch war der Fokus ihrer Krisenpolitik zu sehr auf Einmalzahlungen ausgerichtet. Ein nachhaltiger, struktureller Ausbau des Sozialstaates ist ausgeblieben. Eine wirksame Strategie gegen Armut sollte genau dies tun. Wichtige Ansatzpunkte wären die Anhebung der Sozialhilfe/Mindestsicherung, des Arbeitslosengeldes, der Ausgleichszulage, des Unterhaltsvorschusses und die Einführung eines kostenlosen warmen und gesunden Mittagessens für Kinder. Je nach Ausgestaltung dieser Reformansätze werden hierfür rund 2,6 Milliarden Euro pro Jahr zusätzlich in Österreich benötigt. Angesichts des enormen privaten Vermögens in Österreich von über einer Billion Euro erscheinen die Kosten für eine Reduktion der Armut in Österreich mehr als überschaubar. Es wäre weniger als das Aufkommen einer Vermögenssteuer für Millionärshaushalte. Die Beseitigung von Armut ist somit primär eine Frage des politischen Willens zur Umverteilung. Dieser Mut zu mehr Gleichheit ist wichtig für die Menschen, die aus der Armut befreit werden und für die Gesellschaft als Ganzes, vor allem auch aus demokratiepolitischen Aspekten.


Der Beitrag wurde am 14.11.2023 auf dem Blog Arbeit & Wirtschaft unter der Creative-Commons-Lizenz CC BY-SA 4.0 veröffentlicht. Diese Lizenz ermöglicht den NutzerInnen eine freie Bearbeitung, Weiterverwendung, Vervielfältigung und Verbreitung der textlichen Inhalte unter Namensnennung der Urheberin/des Urhebers sowie unter gleichen Bedingungen.

Titelbild: Emil Kalibradov auf Unsplash

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