Am Beispiel Makedonien – und wieder versagt die EU
In wenigen Wochen sind die BürgerInnen Europas wieder einmal dazu aufgerufen, den aufgeblähten Apparat einer weitgehend kompetenzlosen – dafür aber überaus gut bezahlten – Schar an Europa-Abgeordneten zu wählen. Dabei werden die Brüsseler Apparatschiks nicht müde, Werte wie Demokratie, Mitbestimmung, Gerechtigkeit und Freiheit eitel im Munde zu führen, dabei natürlich schamvoll verschweigend, dass die „europäischen Werte“ in der EU selbst oft gar nichts zählen.
Die EU ist heute weiter denn je davon entfernt, ein politisches Projekt im Dienste seiner Bevölkerung zu sein. Das lässt sich an zahllosen Fehlentscheidungen ablesen, zu denen nicht zuletzt auch jene in punkto (Nord-)Makedonien zählen. Während man nämlich kriegführenden Nationen den Teppich ausrollt, lässt man andere Staaten buchstäblich vor der Tür verhungern. Und das so lange, bis selbige von Europa die Nase voll haben. Jüngstes Beispiel: Makedonien.
Von Andreas Pittler
I.
Makedonien ist eines der Zerfallsprodukte des alten Jugoslawien, das in den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts mutwillig und bösartig von der damaligen EU-Führung zerschlagen wurde, die ein Interesse daran hatte, am Balkan anstatt eines großen und international einflussreichen Landes einen Haufen von Bananenrepubliken vorzufinden, die sich dankbar eignen, trübe Geschäfte zu machen. Makedonien war dabei von Anfang an eines der volatilsten Konstrukte. Ein Jahrhundert lang stritten Serben, Griechen und Bulgaren darüber, ob es „die Makedonier“ überhaupt gibt. Für die Griechen war das Volk am Vardar nichts anderes als ein slawisierter Teil der griechischen Nation, die Bulgaren verwiesen darauf, dass Makedonisch real ein bulgarischer Dialekt sei, und die Serben beharrten darauf, dass sich dieser Dialekt mehr und mehr dem Serbokroatischen annähere. Erst Tito schob dem fruchtlosen Disput einen Riegel vor, indem er eine „makedonische Nationalität“ festschreiben ließ, die dann auch wie die Slowenen, die Kroaten, die Serben und die Muslime eine eigene Republik im sozialistischen Jugoslawien bekam.
Als Jugoslawien aber zerstört war, mussten die Makedonier ihren Platz auf der internationalen Bühne erst einmal finden. Was gar nicht so leicht war. Es sieht nämlich recht schütter aus mit genuiner makedonischer Geschichte. Wenig verwunderlich also, dass die makedonischen Nationalisten, die dieser Tage einen fulminanten Wahlsieg einfuhren, ein historisches Disney-Land propagieren, in dem alles, was irgendwo einmal Spuren in der Geschichte hinterließ, flugs zu „makedonischer Vergangenheit“ erklärt wird. Alexander der Große, Justinian, Konstantin – alles „makedonische Herrscher“. Kirill und Method, die beiden griechischen Mönche, ebenso „makedonische Missionare“ wie die bulgarischen Revolutionäre Georgi Deltschew und Christo Botew. Das beschauliche Städtchen Skopje, einst gerühmt für seine pitoresken Alleen am Vardarufer, ist heute vollgepflastert mit Denkmälern zur Erinnerung an die „makedonische Zivilisation“, wo man freilich einen genuinen Makedonier vergeblich sucht. Kein Wunder also, dass die Nationalisten schäumten, als der Sozialdemokrat Zoran Zaev, von 2017 bis 2021 makedonischer Premier, den Ausgleich mit Bulgarien und Griechenland suchte und dabei im Abkommen von Prespa zustimmte, den Staatsnamen auf „Nordmakedonien“ zu ändern und der bulgarischen Minderheit im Lande dieselben Rechte wie dem albanischen Bevölkerungsteil einzuräumen. Beschlüsse, die von den Nationalisten von Anfang an boykottiert wurden und jetzt umgehend wieder außer Kraft gesetzt werden sollen.
II.
Dabei sah eine Generation von Makedoniern mangels eigener Perspektive durchaus ihre Zukunft im „freien und vereinten Europa“. Schon 1995, also nur drei Jahre nach Erklärung der Unabhängigkeit, suchte der damalige Staatschef Kiro Gligorow die Annäherung an die EU, was in einem formalen EU-Beitritts-Antrag mündete. Doch der wurde – wie im Falle der Türkei – von Brüssel auf die lange Bank geschoben. Zwar erhielt Makedonien 2005 endlich den Status eines Beitrittskandidaten, doch die EU vermochte sich nicht dazu durchzuringen, die entsprechenden Verhandlungen zu beginnen. Als Ausrede für diese Inaktivität seitens Brüssels wurden Formalia wie der Staatsname „Makedonien“, die ursprüngliche Flagge Makedoniens – der sechzehnstrahlige Stern von Vergina auf dem Schrein Philipps II., des Vaters von Alexander dem Großen – und der Umgang mit den nationalen Minderheiten genannt. Vor allem Griechenland, ab seinem eigenen EU-Beitritt auch Bulgarien, torpedierten jeden konkreten Schritt hin zu einer Verhandlungslösung, obwohl Makedonien immer wieder den Forderungen Europas nachgab. So begnügte man sich viele Jahre damit, offiziell „FYROM“ (ehemalige jugoslawische Republik von Makedonien) zu heißen, änderte die Fahne und schrieb die politische Beteiligung der albanischen Minderheit an der Staatsverwaltung in der Verfassung fest. Stets lautete Brüssels Antwort: zu wenig, zu spät. Kein Wunder, dass die europäische Euphorie in der makedonischen Bevölkerung schneller schmolz als Eis in der Sonne.
III.
Erst durch den Wahlsieg der Sozialdemokraten nach über einem Jahrzehnt nationalistischer Herrschaft in Skopje kam wieder Bewegung in die Sache. Zaev ging die Angelegenheit recht engagiert an und einigte sich bei einer multilateralen Begegnung am malerischen Prespa-See mit der griechischen Seite auf den neuen Namen „Nordmakedonien“ (die Frage, ob „k“ oder „z“ spielt dabei keine substantielle Rolle, das „z“ ist die latinisierte Form des slawischen bzw. griechischen Worts für das Land). Das Abkommen wurde auch in einem eigenen Referendum von der makedonischen Bevölkerung am 30. September 2018 gutgeheißen. Allerdings mit einem substantiellen Makel: die Nationalisten hatten zum Boykott der Abstimmung aufgerufen, sodass letztlich nur 37 Prozent der Wahlberechtigten zur Urne schritten, eine Wahlbeteiligung, die in Europa als Erfolg angesehen werden würde, in Makedonien aber zu wenig war, um bindend zu sein. Zaev setzte das Abkommen im Parlament dennoch um – gegen den massiven Widerstand der nationalistischen Opposition. Und er schwang sich auch zu einer bemerkenswerten Rede auf, in der er das Fundament der makedonischen Staatlichkeit in den Beschlüssen des „Antifaschistischen Rats zur Befreiung Makedoniens“ (ASNOM), dem makedonischen Zweig der Befreiungsorganisations Titos anno 1941, verortete. Damit freilich machte sich Zaev nicht nur bei der makedonischen Rechten keine Freunde, sondern auch nicht in Brüssel, für das alles, was nach nationaler Selbstbestimmung (Schottland, Katalonien, Korsika, …) riecht, reiner Hochverrat ist.
Doch Zaev blieb seiner Haltung treu und fuhr bei den Parlamentswahlen 2020 abermals den ersten Platz ein. Doch der rechte Polterer Bojko Borissow als bulgarischer Premier ließ Zaev ebenso auflaufen wie die neue griechische Rechtsregierung um Kyriakos Mitsotakis (das Prespa-Abkommen hatte Zaev noch mit der Syriza-Regierung um Alexis Tsipras ausverhandelt), während sich die EU entspannt zurücklehnte und keinen Versuch unternahm, die tumben Nationalisten am Balkan zurückzupfeifen. So scheiterte Zaev schließlich und musste, nachdem ihn auch die eigene Partei im Stich ließ, im Jänner 2022 zurücktreten. Der neue Parteichef der Sozialdemokraten wurstelte noch ein Weilchen weiter, ehe auch er aufgab. Die Neuwahlen im Frühjahr 2024 sollten die Entscheidung bringen.
Die wurden für die Sozialdemokraten, aber auch für die Pro-Europäer zu einem veritablen Waterloo. Die Regierungspartei verlor 21 Prozent der Stimmen und kam gerade noch auf 15,4 Prozent, während die Nationalisten auf 43 Prozent zulegten. Noch dramatischer der Ausgang der gleichzeitig durchgeführten Präsidentschaftswahlen, wo der sozialdemokratische Amtsinhaber gegen seine nationalistische Widersacherin, auf die 65 Prozent der Stimmen entfielen, förmlich unterging. Makedonien ist seit April 2024 erkennbar auf Krawall gebürstet.
IV.
Die Auswirkungen des Urnengangs wurden dieser Tage in voller Tragweite sichtbar. Die neue Präsidentin legte ihren Amtseid in verfassungswidriger Weise auf den alten Namen „Makedonien“ ab, und die nationalistische Regierungsmannschaft verneint jedwede Initiative zur Befriedung des Konflikts mit Bulgarien. Angesichts der neuen Machtverhältnisse steht zu erwarten, dass alle Maßnahmen, die zwischen 2017 und 2022 gesetzt wurden, um Makedonien eine europäische Perspektive zu geben, von den neuen Machthabern binnen Tagen rückgängig gemacht werden.
Die EU, die es sträflich verabsäumte, Makedoniens Regierung etwas Verwertbares in die Hand zu geben, steht einmal mehr vor den Trümmern ihrer eigenen Unfähigkeit. Wenn man Skopje unter dem willigen und zu jedem Kompromiss bereiten Zoran Zaev die Beitrittsverhandlungen verweigerte, so wird man sie kaum mit einem Haufen ungehobelter Nationalisten beginnen können, die in ihrer ganzen Grundhaltung die absolute Antithese zu einem vereinten Europa darstellen. Die Chance ist wohl für lange Zeit vertan, und die Schuld dafür liegt nicht nur in Sofia und in Athen, sondern zuallererst und hauptsächlich in Brüssel.
V.
Doch das passt gut ins Gesamtbild, dass der Moloch EU seit längerem abgibt. Auch bei Serbien, Albanien, Bosnien, Montenegro gibt es keinerlei Fortschritte, von der Türkei gar nicht erst zu reden. Und statt endlich diese Hausaufgaben zu erledigen, phantasieren Von der Leyen, Scholz und Co. davon, Ruinen wie Moldawien, die Ukraine oder gar Georgien inkorporieren zu wollen, wo die „europäischen Standards“, die Makedonien trotz aller Bemühungen scheinbar nicht erfüllte, plötzlich nicht einmal mehr die allergeringste Rolle spielen.
Die EU wird für ihre Bigotterie, ihre Unfähigkeit und ihre Double Standards die Rechnung präsentiert bekommen. Langfristig ökonomisch und sozial, weil sie durch ihre vollkommen verfehlte Politik einen ganzen Kontinent und dessen Bevölkerung auf lange Sicht ins Out befördert hat, kurzfristig im Juni an den Wahlurnen.
Letzteres freilich kann die EU verschmerzen. Denn es ist seit Jahren vollkommen egal, wie das europäische Volk abstimmt. Für die Kommission und die hinter ihr stehenden Wirtschaftslobbies gelten seit jeher eigene Gesetze. Gesetze, die mit dem Stimmzettel allein nicht außer Kraft zu setzen sind.
Titelbild: Blick über Skopje. Foto: Ervo Rocks auf Unsplash
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