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Umkämpfte EU-Handelspolitik: Von offenem Handel zu Strafzöllen, Rohstoffsicherung und Lieferkettengesetz

Die jüngsten geopolitischen Spannungen haben zu einer Neuausrichtung der EU-Handelspolitik geführt. Statt von offenem Handel ist neuerdings in der EU immer öfter vom Schutz der europäischen Wirtschaft die Rede – vor China, Russland und anderen Rivalen. Unter dem Deckmantel des freien Handels versucht die EU sich in neokolonialer Manier über Handelsabkommen Zugang zu Rohstoffen in Ländern des Globalen Südens zu sichern. Gleichzeitig zeigt das EU-Lieferkettengesetz, dass auch Verbesserungen möglich sind.

Von Julia Eder, Julia Wegerer und Elena Ellmeier, AK Wien (A&W-Blog)

Spätestens mit Trumps Präsidentschaft 2016 hat sich der geopolitische Wettstreit massiv verschärft. Auch in der Europäischen Union lautet die Devise: sich unabhängig machen – zumindest von selbstdefinierten Gegnern im globalen Wettbewerb. Insbesondere China steht im Kreuzfeuer der Kritik. Die EU will beispielsweise chinesische PhotovoltaikanlagenWindräder und E-Autos mithilfe von Strafzöllen oder strengen Kontrollen bei öffentlichen Vergabeverfahren aus dem europäischen Markt drängen. Aufträge für grundlegende Infrastruktur gehen vorzugsweise an europäische Unternehmen, auch Verbote stehen im Raum. Mit Russland wurde der Handel wenig überraschend massiv eingeschränkt. Die Globalisierung scheint in der Krise zu sein.

Konzerngewinne statt Entwicklung

Strategische Abhängigkeiten sind für die EU allerdings nur ein Problem, wenn sie und ihre Mitgliedsstaaten selbst negativ davon betroffen sind. Bei den ehemaligen Kolonialländern der europäischen Großmächte im Globalen Süden werden sie weniger kritisch gesehen. Viele dieser Länder sind bis heute vorrangig Rohstofflieferanten, weil der Aufbau einer eigenständigen industriellen Verarbeitung von Rohstoffen in der Kolonialzeit durch die Kolonialmächte gezielt behindert wurde, zum Beispiel, indem Großbritannien im 18. Jahrhundert seiner Kolonie Indien die Weiterverarbeitung von Baumwolle zu Tuch sowie andere industrielle Tätigkeiten verbot. Bis heute sind gerade rohstoffreiche Länder besonders arm. Große transnationale Bergbaukonzerne auf der anderen Seite konnten durch das Rohstoffvorkommen hohe Profite einfahren, wie etwa der Schweizer Konzern Glencore im Tschad.

In den letzten Jahren setzte die EU vermehrt darauf, Energie- und Rohstoffkapitel in neue oder aktualisierte Handelsverträge, z. B. mit Chile und Mexiko, zu integrieren bzw. integrieren zu wollen. Diese Rohstoffkapitel verbieten es den Partnerländern, Ausfuhrsteuern auf Rohstoffe einzuheben. Dadurch können Länder im Globalen Süden nicht ausreichend Schritte setzen, um selbst von ihren Rohstoffvorkommen zu profitieren. Chile soll beispielsweise Lithium und Kupfer zur Herstellung von E-Autos liefern, die dort unter verheerenden Arbeitsbedingungen abgebaut werden, während es im Gegenzug Autos und Chemikalien aus der EU importieren soll. Anstatt die Länder des Globalen Südens in ihrer Entwicklung zu unterstützen, trägt die EU-Handelspolitik ihren Teil dazu bei, deren Status als Rohstofflieferanten auf Kosten von Umwelt und Beschäftigten einzuzementieren.

Ein Blick auf bestehende und neu auszuhandelnde Handelsabkommen zeigt: In der EU-Handels- und Investitionspolitik werden vorrangig Wirtschafts- und Konzerninteressen bedient. Während Konzernen Sonderklagerechte vor sogenannten Schiedsgerichten eingeräumt werden, sind für den Schutz von Arbeitenden und Umwelt kaum verbindliche Pflichten vorgesehen. Zwar sieht die EU inzwischen sanktionierbare Nachhaltigkeitskapitel vor, nur finden sich diese bisher nur in wenigen Abkommen wieder. Um den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gerecht zu werden, braucht es ein Umdenken – Unternehmen müssen endlich in die Pflicht genommen werden.

Nach zähem Ringen: Das EU-Lieferkettengesetz kommt!

Mit der jüngsten Annahme des EU-Lieferkettengesetzes ist das zumindest teilweise gelungen. Nach einem aufreibenden Verhandlungsprozess mit mehreren Rückschlägen wurde die sogenannte „Richtlinie über die Sorgfaltspflicht von Unternehmen im Hinblick auf Nachhaltigkeit“ am 11. Jahrestag von Rana Plaza, dem 24. April 2024, im EU-Parlament angenommen. Wiewohl der Anwendungsbereich der Richtlinie im Rahmen des Verhandlungskrimis der letzten Wochen stark eingeschränkt wurde und lediglich Unternehmen mit mehr als 1.000 Beschäftigten und mehr als 450 Millionen Euro Nettoumsatz jährlich erfasst sind, kommt es mit dieser Richtlinie zu einem Paradigmenwechsel. Gestaffelt nach Unternehmensgröße müssen Unternehmen ab 2027 Sorgfaltspflichten für ihre Tätigkeit und die Tätigkeit ihrer Tochterunternehmen und Geschäftspartner in ihren globalen Lieferketten einhalten. Damit wird endlich die Rolle von Unternehmen bei der Einhaltung der Menschenrechte verbindlich festgeschrieben. Diese Rolle haben die UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte bereits 2011 unmissverständlich dargelegt: Staaten sind völkerrechtlich dazu verpflichtet, Menschenrechte zu schützen. Unternehmen haben ihrerseits die Verantwortung, Menschenrechte zu respektieren. Dieser komplementären Rollenverteilung trägt das EU-Lieferkettengesetz Rechnung und ist damit als Erfolg zu werten. Als nächsten Schritt muss die EU endlich eine aktive Rolle bei den seit 2014 laufenden Verhandlungen über ein verbindliches Abkommen zu Unternehmensverantwortung einnehmen, das weltweit für ein „Level Playing Field“ sorgen soll.

Ausblick

Eine sozial und ökologisch gerechte Handelspolitik muss andere Schwerpunkte setzen (siehe Grafik). Das Europäische Parlament, dessen Abgeordnete wir am 9. Juni 2024 alle wählen, kann hier entscheidende Schritte setzen. In der EU-Handelspolitik braucht es unbedingt eine Abkehr von der neoliberalen Doktrin der EU, die vorrangig die Interessen der Konzerne bedient. Gerade jetzt müssen multinationale Unternehmen umfassend und wirksam in die Pflicht genommen werden, um den aktuellen Herausforderungen gerecht zu werden. Das Lieferkettengesetz ist dabei ein erster wichtiger Ansatz. Das neu zu wählende EU-Parlament und die neue EU-Kommission müssen endlich Mensch und Umwelt ins Zentrum ihrer Politik stellen und nicht weiterhin vorrangig Konzerninteressen bedienen. Nur so sind Fortschritte für breite Teile der Bevölkerung weltweit möglich.


Dieser Beitrag wurde am 16.05.2024 auf dem Blog Arbeit & Wirtschaft unter der Creative-Commons-Lizenz CC BY-SA 4.0 veröffentlicht. Diese Lizenz ermöglicht den NutzerInnen eine freie Bearbeitung, Weiterverwendung, Vervielfältigung und Verbreitung der textlichen Inhalte unter Namensnennung der Urheberin/des Urhebers sowie unter gleichen Bedingungen.

Titelbild: Christian Lue auf Unsplash

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