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Die letzten Christen von Gaza

Die christliche Minderheit in Gaza muss sich seit dem Krieg vielen Herausforderungen stellen. Heute versuchen nur noch knapp über 600 Menschen christlichen Glaubens, hier zu überleben. Das christliche Leben beschränkt sich überwiegend auf das Viertel Al-Zaytoun in der Altstadt, wo zwei der bedeutendsten Kirchen und das christliche Al-Ahli-Krankenhaus stehen.

Von Hassan Al Khalaf (Zeitschrift INTERNATIONAL, Heft III/2025)

Papst Franziskus setzte sich für das Ende des Krieges in Gaza ein, sogar, als sein Gesundheitszustand sich verschlechterte. Über seinen Tod hinaus wollte er den Bedürftigen in Gaza helfen: In seinen letzten Lebensmonaten äußerte er den Wunsch, dass sein berühmtes „Papstmobil“ in eine ambulante Krankenstation für die kranken und verletzten Kinder von Gaza umgebaut wird. Sein letzter Wille sollte die fundamentalen Rechte und die Würde von Kindern bewahren, so die Caritas in einer Pressemitteilung vom 3. Mai. Der Umbau des „Papstmobils“ in eine ambulante Krankenstation mit dem Titel „Fahrzeug der Hoffnung“ wird in Kooperation der Caritas von Jerusalem und Schweden verwirklicht.

Aktuell steht es noch in Bethlehem, wo es zur mobilen Klinik umgebaut wird. Ausgestattet wird es mit Schnelltests, Spritzen, Atemgeräten, Impfstoffen und einem Kühlschrank für Medikamente. Sobald es fahrbereit ist, wird ein Team aus Notärzten bereit sein, den Kindern Gazas lebenswichtige  medizinische Grundversorgung zu bieten. „Mit dem Fahrzeug werden wir Kinder erreichen können, die heute keinen Zugang zu medizinischer Versorgung haben – Kinder, die verletzt und unterernährt sind. Dies ist ein konkreter, lebensrettender Einsatz in einer Zeit, in der das Gesundheitssystem im Gazastreifen nahezu vollständig zusammengebrochen ist“, erklärt Peter Brune, Generalsekretär von Caritas Schweden, die den Umbau des Fahrzeugs finanziert. Knapp eine Million Kinder in Gaza leiden unter diesen Umständen, wie aus der Pressemitteilung hervorgeht. „Es ist nicht nur ein Fahrzeug, es ist eine Botschaft, dass die Welt die Kinder Gazas nicht vergessen hat“, so Brune.

Bis vor seinem Tod hat der Papst jeden Tag persönlich in Gaza angerufen: „Die Kinder wussten, jeden Abend um acht war Papstzeit“, erzählt Pater Gabriel Romanelli, Pfarrer in der Kirche der Heiligen Familie, der einzigen Katholischen Kirche in Gaza, im Gespräch mit INTERNATIONAL. Seit der Krieg ausgebrochen ist, beherbergt die Kirche geflohene Familien, um die sich der Papst besonders sorgte. Immer, wenn der abendliche Anruf aus dem Vatikan kam, versammelten sich die Kinder aufgeregt um Pater Romanellis Handy, schildert er am Telefon. Der Papst habe gern mit den Kindern geredet und sie stets wissen lassen, dass er für sie betet. Er sah sich als Vater aller Kinder in Gaza, nicht nur der Katholiken. Von einigen Kindern kannte der Papst sogar schon Namen, und an seinem letzten Geburtstag sangen die Kinder „Happy Birthday“ auf Arabisch für ihn.

Als die Gemeinde am Ostermontag von seinem Tod erfuhr, habe sie während des Krieges einen Gottesdienst für ihn abgehalten. „Wir haben unseren Papa verloren“, hörte Pater Romanelli von Muslimen und orthodoxen Christen, die in der Kirche Zuflucht gefunden hatten.

Koexistenz vor und während dem Krieg

Obwohl die Kirche katholisch ist, steht sie allen Menschen offen, die Schutz suchen, unabhängig von ihrer Religion. „Kirchen sind Oasen des Friedens für die Vertriebenen“, erklärt Pater Romanelli. Zu Kriegsbeginn lebten in Gaza nur 153 Menschen katholischen Glaubens, trotzdem fanden in der Kirche über 600 Schutzsuchende Asyl. Schon in früheren Konflikten war die Kirche darauf vorbereitet, durch Hilfspakete humanitäre Hilfe zu leisten. Ältere, Verletzte und körperlich Beeinträchtigte waren nicht in der Lage, eine längere Flucht in den Süden Gazas anzutreten, wie es die israelische Armee Ende 2023 gefordert hatte. Besagte Kirche wurde somit der letzte sichere Hafen für diese Menschen.

Auch vor dem Krieg lebten Muslime und Christen in Gaza zusammen, und es gab mehrere Berührungspunkte, betont Pater Romanelli. Sozialdienste der Kirchen wurden für Senioren und Bedürftige aller Religionen angeboten. Christliche Schulen, wie die katholische Schule der Rosenkranzschwestern, zählten viele muslimische Schüler. Auch Gazas älteste Kirche, die griechisch-orthodoxe St.-Porphyrius-Kirche, stand Seite an Seite zur Katib-al-Wilaya-Moschee. Minarett und Glockenturm zeigten für Jahrhunderte gemeinsam in den Himmel, bis auch dort Bomben abgeworfen wurden.

Dieses Symbol jahrhundertelanger Koexistenz wurde von  einem israelischen Luftangriff am 19. Oktober 2023 getroffen, der die Moschee zerstörte und die Kirche beschädigte. Der Angriff kostete 18 Zivilisten, die in der Kirche Zuflucht gesucht hatten, das Leben und verletzte 20 weitere. Darunter auch der Erbe des ersten Fotostudios in Gaza, das 1944 von einem christlichen Armenier, einem Überlebenden der Verfolgungen im Osmanischen Reich, gegründet wurde. Auch der ehemalige US-Abgeordnete Justin Amash bekundete, dass Frauen und Kinder aus seiner Familie beim Beschuss auf die Kirche getötet wurden.

Angriffe wie dieser, die Kirchen und christliche Einrichtungen treffen, stellen keine Einzelfälle dar. Laut Pater Romanelli und anderen Kirchenvertretern wurden mittlerweile fünf Prozent aller Christen in Gaza während des Krieges getötet. Auch die besagte Schule wurde am 4. November 2023 von Bomben getroffen. Niemand wurde verletzt, weil die Schwestern die Schule zu Kriegsbeginn evakuiert und in die Kirche der Heiligen Familie verlegt hatten.

Auch diese Kirche wurde zur Adventszeit angegriffen, wobei die israelische Armee zwei Frauen, Samar Anton und ihre Mutter Nahida, am 16. Dezember 2023 im Hof der Kirche erschoss. Samar war in der Kirche als Köchin tätig und kochte für Kinder mit körperlichen Einschränkungen. Die beiden gehörten zur größten katholischen Familie in Gaza. Mit sieben Kindern und über 20 Enkeln war Nahida Anton stolze Mutter und Großmutter.

Auf dem Weg zum Badezimmer wurde sie mit drei Schüssen von Scharfschützen zusammen mit ihrer Tochter getötet, als diese ihrer Mutter zu Hilfe eilte, um sie in Sicherheit zu tragen. Ihr Bruder, Edward Anton, ist Mitarbeiter bei Ärzte ohne Grenzen und wurde Augenzeuge des Angriffs. Er schilderte, dass der Beschuss ununterbrochen zehn Minuten lang angehalten habe. Er und sieben andere Familienmitglieder, darunter Jugendliche, wurden selbst von den Schüssen verletzt, als sie den beiden Frauen helfen wollten. Erst als das israelische Militär vom Kirchengelände abzog, konnten sie die beiden im Garten der Kirche vergraben.

Der verstorbene Papst verurteilte diese Tat in seiner Ansprache zur Adventszeit als Terrorismus. Er betonte, dass die Menschen in den Kirchen keine Terroristen sind, sondern Familien mit Kindern, Behinderte und Ordensfrauen. „Es wurde keine Warnung gegeben, keine Mitteilung gemacht. Sie wurden kaltblütig erschossen – auf dem Gelände der Pfarrei, wo es keine Kämpfer gibt“, äußerte sich der lateinische Patriarch von Jerusalem. Somit widersprach die Kirchenleitung den israelischen Angaben. Diese begründeten den Angriff damit, dass Granaten der Hamas aus der Kirche geschmissen worden seien – eine Aussage, die sie im Januar wieder zurückzogen. In einem neuen Statement kündigten sie interne Ermittlungen an und behaupteten, dass sie Angriffe auf Kirchen sehr ernst nähmen. Seitdem wurde von offizieller israelischer Seite nichts mehr über den Angriff in der Kirche gemeldet.

Tage später litt die Gemeinde immer noch an den Folgen des Angriffs. Edward Anton und viele seiner Verwandten benötigten rasche medizinische Hilfe, aber die Kämpfe im Al-Zaytoun-Viertel hielten bis kurz vor Weihnachten an. Erst, als sich die Lage beruhigte, konnten die Verletzten ins Al-Ahli-Krankenhaus gebracht werden, ein Krankenhaus, das trotz regelmäßigem Beschuss noch aktiv ist. Als Edward endlich untersucht wurde, stellten die Ärzte per Ultraschall Bleisplitter in seinem Bein fest. Er und seine Verwandten mussten dringend operiert werden, aber die Operationen konnten erst nach Weihnachten durchgeführt werden, da die israelische Armee einen Großteil des Personals am 19. Dezember verhaftet hatte.

Das Al-Ahli-Krankenhaus – dringend benötigt, stark belastet

Nur zwei Ärzte und vier Krankenschwestern blieben noch übrig, um die Verletzten zu versorgen. Laut dem Träger, der Episkopalkirche von Jerusalem, wurde das restliche Personal erst Wochen später aus der Haft entlassen. Das Al-Ahli-Krankenhaus ist eines der ältesten in ganz Gaza und bietet seit 1882 tausenden Familien kostenlose Gesundheitsversorgung an. Seit Ausbruch des Krieges bis zum April 2025 fiel es immer wieder Angriffen zum Opfer. Sogar der medizinische Direktor des Krankenhauses, Dr. Maher Ayyad, starb bei einem dieser Angriffe. „Mich empört, dass in Deutschland viele überhaupt kein Mitgefühl für die zivilen Opfer im Gazastreifen haben“, äußert der lutherische Pastor Mitri Raheb im INTERNATIONAL-Gespräch. Er ist Begründer der Dar Al-Kalima Universität in Bethlehem und fördert deutsch-palästinensische Beziehungen durch Austauschprogramme und Kooperationen mit deutschen Universitäten. Er selbst hat durch israelische Angriffe auch einen Verlust erlitten, findet aber kaum Mitgefühl im deutschsprachigen Raum vor.

Ein freiwilliger Helfer aus seiner Akademie, Mohammed Sami Qraiqeh, wurde 2023 beim Angriff auf das Al-Ahli-Krankenhaus getötet, als er gerade Kinder betreute: „Die internationale Gemeinschaft lässt das palästinensische Volk im Stich. Gelten die Menschenrechte nur für weiße, blonde und blauäugige Menschen?“, kritisiert er die Zurückhaltung der Regierungen, die meistens selbst christlich geprägt sind. Der Pastor setzt sich nicht nur für einen endgültigen Waffenstillstand ein, sondern auch für das Ende der Besatzung im Westjordanland. In seiner Heimatstadt Bethlehem sind sowohl Christen als auch Muslime von der israelischen Siedlungspolitik betroffen. Bestimmte Straßen dürfen Palästinenser nur von 9 bis 14 Uhr nutzen, damit israelische Siedler sie ungestört verwenden können.

„Das ist wohl das letzte Kapitel der Christen in Gaza“, fürchtet der Pfarrer. 30 Prozent der Christen seien aus Gaza geflohen, dabei war Gaza in den ersten Jahrhunderten ein bedeutendes Zentrum des Christentums, wie er betont. Die Religionsgemeinschaft hat in ganz Palästina kulturelle und historische Spuren hinterlassen, insbesondere in Gaza.

Die St.-Porphyrius-Kirche ist nicht nur die älteste Kirche in ganz Gaza, sondern eine der ältesten überhaupt. Sie reicht bis ins 5. Jahrhundert zurück und trägt den Namen von Bischof Porphyrius, der Gaza christianisierte und in der Kirche beigesetzt ist. Die Kirche der Heiligen Familie geht direkt auf Jesus, Maria und Josef zurück, da sie den Küstenstreifen auf ihrer Flucht nach Ägypten passierten.

Dass Trump und Netanjahu Menschen aus Gaza umsiedeln wollen, um eine „Riviera“ zu bauen, zeugt von Ignoranz und Respektlosigkeit gegenüber allen Bewohnern Gazas und ihren vielfältigen Kulturen. Für die verbliebenen Christen, die mit Gaza religiös und kulturell verbunden sind, bedeutet dies einen schweren Verlust. Trotz aller Hindernisse und Gefahren versucht die Minderheit, immer noch im Angesicht des Krieges in ihrer einzigen Heimat zu überleben. Obwohl das Christentum einst in dem palästinensischen Gebiet Bethlehem begann, droht es nun endgültig aus einem der letzten palästinensischen Gebiete zu verschwinden.

Hassan Al Khalaf ist Journalist mit Schwerpunkt Arabischer Raum und lebt in Deutschland.


Der Beitrag erschien zuerst in INTERNATIONAL – Die Zeitschrift für internationale Politik (Heft III/2025)

Titelbild: Schwester Nabila vor der zerstörten Schule der Rosenkranzschwestern in Gaza-Stadt (Quelle: Kirche in Not)

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Ein Gedanke zu „Die letzten Christen von Gaza

  • Dr. Wilhelm Reichmann

    Wir wollen Taten sehen:
    Sofortiger Stop von Waffenlieferungen an Israel, direkt- oder indirekter.
    Handelssanktionen gegen Israel.
    Annulierung des Assoziierungs-Abkommens EU-Israel.
    Unterstützung der Verurteilungen Israels in den Gremien der UN durch unsere Regierungen.
    Machen wir Israel zum Pariah-Staat!

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