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EXTREM TREFFSICHER!

So lautet ein Satz im folgenden Interview, der sich auf das erfolgreiche Dezimieren von Mäusen bezieht. „Extrem treffsicher“ gilt aber auch für den gesamten Debütroman der in Waidhofen an der Ybbs (Niederösterreich) geborenen Autorin Annemarie Andre, in dem sich ein minderjähriges Mädchen den Problemen und Herausforderungen der Erwachsenenwelt stellt.

Wolfgang Kühn, Herausgeber des Literaturmagazins DUM, hat Annemarie Andre zum Interview gebeten und sich ein paar Fragen überlegt.

Kühn: Der Roman „Nacktschnecken“ zeichnet ein faszinierendes und zugleich beklemmendes Bild einer Kindheit im nicht großstädtischen Raum. Wie bist Du auf die Idee zu dem Roman gekommen bzw. darauf, ihn aus der Sicht eines minderjährigen Mädchens zu schreiben?

Annemarie Andre: Der Roman hat starke autofiktive Einflüsse. Meine Mutter hatte, als ich noch sehr klein war – jünger als das Mädchen im Buch – eine Gehirnblutung und das hat meine ganze Kindheit beeinflusst. Als Kind hatte ich oft große Angst, dass ihr bald wieder etwas zustößt. Über dieses Erlebnis, das alles komplett verändert und das gesamte Leben auf den Kopf stellt, wollte ich schreiben. Zu Beginn habe ich überlegt, ob ich die Geschichte nicht aus der Perspektive der Mutter schreiben soll, aber mir gefiel die des Kindes besser. Kinder schauen sich die Welt noch viel genauer an und verlieren sich oft in Details. Dieses träumerische Element wollte ich unbedingt im Buch haben.

Beim Lesen des Romans hatte ich oft einen Film vor Augen, eine Art Provinz-Ausgabe vom Kaisermühlen Blues, vielleicht nicht ganz so lustig, aber von der Milieustudie her noch viel intensiver und aussagekräftiger. Wie siehst Du diesen Vergleich? Bzw. könntest Du Dir eine Verfilmung vorstellen?

Ich fände es mehr als großartig, wenn die „Nacktschnecken“ verfilmt werden würde! Ich sehe es als Arthouse-Film vor mir, ähnlich wie „Hoard“ (2023). Dieser britische Film folgt einem Mädchen, dessen Mutter obsessiv Dinge hortet und enthält dazu noch einige surreale, magische Elemente.

In „Nacktschnecken“ geht es mitunter ganz schön brutal zur Sache. Nacktschnecken werden gehäckselt und Mäuse erschlagen – sind da Kindheitserinnerungen aus Deiner Mostviertler Jugend eingeflossen?

Auf jeden Fall, mein Bruder hat als Teenager tatsächlich diesen Gurkenglas-Häcksler aus dem 1. Kapitel erfunden und meine Mutter ist ein Profi, wenn es darum geht, Mäuse zu erschlagen. Extrem treffsicher!

In „Nacktschnecken“ dreht sich auch viel um Armut. Die Familie Leitner, die sich selbst als „Billigsdorfer“ tituliert, spart wo es nur geht. Das mutet mitunter sehr skurril an und doch gibt es in diesem Land mehr Leitners als man vermuten würde. War dieses Hinzeigen auf die Wunde Armut ein Hauptmotiv für Deinen Roman?

Das Thema Armut stand zu Beginn gar nicht so sehr im Vordergrund. Ich wollte mich mehr auf die Familienstruktur konzentrieren und darauf, dass die Mutter als Alleinerzieherin, mit den älteren Kindern aus erster Ehe, gar nicht in diese Kleinstadt passt. Aber weil sie eben alleinerziehend ist und dann auch noch diese Krankheitsgeschichte hat, kommt das Thema Armut automatisch mit rein. Mir war es aber wichtig, das Ganze nicht leidend zu erzählen. Die Familie nährt eigentlich ihren Selbstwert aus dem „Billigsdorfer“-Dasein. Das Sparen wird zur Tugend und somit dreht die Familie die Scham um, was für den Selbstwert ja gar nicht schlecht ist.

Du hast aus Deinem Roman u. a. in Waidhofen/Ybbs gelesen, wo die Handlung angesiedelt zu sein scheint. Nachdem der Roman mit der in der Tourismuswerbung gerne transportierten „Mostviertler Idylle“ nicht ganz einhergeht, die neugierige Frage: Wie war das Feedback?

Vor dieser Lesung hatte ich tatsächlich ein wenig Angst, aber ich finde es generell unangenehmer vor Menschen zu lesen, die ich kenne, als vor komplett Unbekannten – vermutlich, weil es sich noch eine Spur intimer anfühlt. Es waren natürlich viele Besucher:innen da, die ich kannte, darunter einige ehemalige Lehrerinnen, die wirklich tolle Unterstützerinnen sind und mir zum Buch gratuliert haben. Ein paar Leute waren auch da, weil sie „wissen wollten, was sich in Waidhofen/Ybbs“ so tut. Bei diesem Kommentar musste ich lachen, denn der Roman spielt ja in den 90er und 2000er Jahren, also 1:1 kann man die Handlung nicht ins Hier & Jetzt übertragen. Ich denke im besten Fall lesen wir Bücher, nehmen etwas davon mit und sind nachher klüger als im Vorhinein. Die Romane von Elfriede Jelinek halten ja auch niemanden davon ab, für ein Wochenende nach Wien zu fahren.

Hat das Publikum bzw. haben die LeserInnen aus Deiner Heimatstadt nach realen Personen hinter Deinen Figuren gesucht?

Das passiert natürlich andauernd! Manchmal gibt es reale Vorbilder, aber oft interpretieren Leser:innen sehr viel in Dinge hinein, über die ich mir gar keine Gedanken gemacht habe. Das Buch ist ja immer noch ein Roman und keine Autobiografie.

Viele, die am Land – ich rechne da auch Waidhofen/Ybbs dazu – aufwachsen, flüchten aus Mangel an Möglichkeiten und Alternativen so schnell es geht in die Großstadt (Wien, nicht Amstetten), kehren irgendwann aber doch wieder in ihre alte Heimat zurück. Kannst Du Dir vorstellen, dass das bei Dir auch einmal so sein wird?

Ich sage niemals nie, aber da ich im Marketing-Bereich tätig bin, würde ich jobbedingt eher nach Wien zurückkehren. Dort ist auch mein Freundeskreis, nach Waidhofen/Ybbs selbst komme ich eigentlich eher wegen der Familie.

And now something completely different – Du hast auch Poetry Slam Erfahrung, warst 2015 beim Teambewerb der Deutschsprachigen Meisterschaften im Finale. Hat Dir Poetry Slam Augen und Türen für Dein (weiteres) Schreiben geöffnet. Wenn ja, in welcher Art und Weise?

Ich vermisse es auf jeden Fall. Kurz habe ich es ja auch solo probiert, aber mir hat es im Team viel mehr Spaß gemacht, denn man kann viel mehr mit dem Rhythmus spielen und aufeinander reagieren. Ich habe Texte auch immer konkret für dieses Format geschrieben, denn einfach eine Seite aus einem Projekt rausnehmen geht vielleicht bei Literaturwettbewerben, aber nicht beim Poetry Slam. Da muss man in 5 Minuten alles Wesentliche transportieren und die Leute mitnehmen, das ist äußerst schwierig. Durchs Slammen ist mir außerdem bewusst geworden, wie wichtig es ist, gut lesen zu können und das zu üben. Glücklicherweise wird das auch immer mehr Autor:innen bewusst.

Deine Biographie verrät, dass Du in Wien und Amsterdam lebst und arbeitest. Das klingt spannend! Was machst Du da?

Das stammt eigentlich noch ein bisschen aus der Post-Pandemie Zeit, in der ich oft länger am Stück in Wien war. Mittlerweile lebe ich die meiste Zeit in Amsterdam und arbeite im Den Haager Büro der Österreich Werbung.

Gibt es schon nächste literarische Pläne?

Ich schreibe gerade an meinem zweiten Roman und nebenbei auch an einigen Kurzgeschichten, die ich hier und da einreiche.


Das Interview erschien zuerst im Literaturmagazin DUM aus Zöbing (Österreich) und wurde durch den Journalisten Urs Heinz Aerni vermittelt. www.dum.at

Das Buch:

„Nacktschnecken“
Roman von Annemarie Andre
Müry Salzmann Verlag
978-3-99014-261-5

Annemarie Andre, geboren 1994 in Waidhofen / Ybbs, lebt und arbeitet in Wien und Amsterdam. Studium der Kunstgeschichte, anschließend Journalismus und neue Medien in Wien. Journalistische Beiträge in den Tageszeitungen „Der Standard“ und „Die Presse“ und im Kunstmagazin „Parnass“, literarische Veröffentlichungen u. a. in „die Rampe“, „etcetera“. Preise: Finaleinzug im Teambewerb bei den Deutschsprachigen Poetry Slam Meisterschaften 2015; LitArena 2015, 3. Platz; Junges Literaturkarussell Niederösterreich 2014, 1. Platz. „Nacktschnecken“ ist ihr erster Roman. Für das Manuskript erhielt sie 2022/23 das Hans-Weigel-Literaturstipendium.

Titelbild: Verena Moser-Cziczatka / Glitter & Confetti (muerysalzmann.com)

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