AktuellKulturÖsterreichZeitschrift International

Mehr als eine kunsthistorische Korrektur

Die Ausstellung Radikal! Künstlerinnen* und Moderne 1910–1950 will die Geschichte der Moderne neu erzählen. Sie zeigt über 60 Künstlerinnen aus mehr als 20 Ländern und stellt damit einen Kanon in Frage, der lange Zeit vor allem europäisch, männlich und weiß gedacht wurde. Dabei macht sie deutlich: Die Moderne war nie ein rein westliches Projekt, sondern das Ergebnis globaler Verflechtungen, das durch Handel, Reisen, Migration, aber auch durch Kolonialismus und politische Umbrüche geformt wurde.

Von Melanie Sindelar (Zeitschrift INTERNATIONAL, Heft IV/2025)

Wenn kunsthistorische Lehrbücher von einer „europäischen Moderne“ sprechen, ist das eigentlich ein Trugschluss. Denn die europäische Moderne wurde maßgeblich von der Kunst und Kultur außereuropäischer Regionen beeinflusst, und kunsthistorische Entwicklungen globaler Modernen verliefen selten linear oder isoliert.

Hier setzt Radikal! an. Anstatt eine Abfolge von Stilrichtungen nachzuerzählen, in die die Stimmen von Künstlerinnen, queeren Kunstschaffenden und People of Color nur beiläufig eingefügt werden, legt die Ausstellung den Fokus auf die Vielfalt dieser Positionen und darauf, wie sie die Moderne eigenständig geprägt und mitgestaltet haben. Radikal ist in diesen Werken nicht nur die Infragestellung überlieferter Konventionen, sondern vor allem die Konsequenz, mit der diese Künstlerinnen ihren Weg gingen, häufig gegen massive Widerstände. Dass viele ihrer Themen – von sozialer Ungleichheit über Geschlechterrollen bis zu Fragen von Identität und politischem Protest – bis heute nachwirken, macht die Relevanz dieser Ausstellung deutlich.

Die Ausstellung ist klar strukturiert in Bereiche wie „Kunst als Akt des Protests“, „Experiment Abstraktion“ und „Neue Realitäten. Neue Identitäten“. Diese thematische Gliederung funktioniert gut, weil sie Querverbindungen sichtbar macht, ohne gezeigte Werke in nationale oder stilistische Schubladen zu zwängen. Auch die Mischung der Medien – Malerei, Fotografie, Skulptur, Montage – ist überzeugend.

Positiv fällt auf, dass das Belvedere nicht nur auf „klassische“ bildende Kunst setzt, sondern auch Bühnen- und Kostümbild, Design und Kunstgewerbe zeigt.

Gerade diese Einbeziehung erweitert den Blick darauf, was als moderne Kunst gelten kann: Beispielsweise entwarf Stella Junker-Weißenberg 1928 die Figurine „Elektromotor für Königin Maschine“, eine Hommage an Technik und Bühnenfantasie zugleich. Maria Likarz, in Österreich-Ungarn geboren, arbeitete in Glasdekor, Email, Textil und Mode. Solche Positionen sprengen den engen Kanon der Moderne, in dem handwerkliche und angewandte Formen oft marginalisiert werden. Dass diese Arbeiten hier gleichberechtigt neben Gemälden und Skulpturen stehen, ist eine der Stärken der Schau.

Die Zeit von 1910 bis 1950 war politisch und gesellschaftlich eine Zeit der Extreme, wie es der britische Historiker Eric Hobsbawm bezeichnet. 1910 begann in Italien der Futurismus, dessen Technikbegeisterung bald einen nationalistischen und später faschistischen Einschlag bekam. Wenig später, 1914, brach der Erste Weltkrieg aus, 1918 erhielten in Österreich Frauen das Wahlrecht, wenn auch nicht alle: Sexarbeiterinnen, zum Beispiel, wurden weiterhin ausgeschlossen. 1919 wurde das Bauhaus gegründet, das zwar progressiv wirkte, Frauen jedoch trotz vieler Förderungen in ihrer künstlerischen Entfaltung oft einschränkte. 1929 entstand in Wien die Österreichische Frauenpartei, die unter anderem die Abschaffung des Abtreibungsparagrafen forderte. International formierten sich neue Künstlergruppen: 1939 die surrealistische Bewegung Art et Liberté in Kairo und 1943 die Calcutta Group in Indien, die westliche mit lokalen Traditionen verbindet. Diese Entwicklungen sind der Hintergrund, vor dem viele der in Radikal! vertretenen Künstlerinnen oft im Spannungsfeld zwischen gesellschaftlicher Aufbruchsstimmung und politischen Restriktionen arbeiten.

Arabische Künstlerinnen und globale Moderne

Ein besonders starker Akzent wird auf arabische Künstlerinnen gelegt, die nicht nur ästhetisch, sondern auch politisch Neuland betraten. Saloua Raouda Choucair, die 1916 in Beirut geboren wurde, verband in ihrer abstrakten Malerei islamische Architektur- und Schriftästhetik mit moderner Formensprache. Ihre Werke zeigen, wie sich Abstraktion jenseits einer europäischen Tradition entwickeln konnte.

Fahrelnissa Zeid, 1901 im Osmanischen Reich geboren, bewegte sich zwischen Istanbul, Paris und London. Sie arbeitete großformatig, farbintensiv und abstrakt, wie man in ihrem ausgestellten Werk von 1949 erkennen kann. Ihre kaleidoskopartigen Kompositionen wirken wie ein visueller Dialog zwischen kulturellen Traditionen und moderner Abstraktion. Zeid lebte später in Amman, wo sie eine Kunstschule gründete und Generationen junger Künstlerinnen und Künstler prägte. Ihr Werk strahlt eine kosmopolitische Haltung aus, die sie selbst einmal so formulierte: „Künstlerinnen sind weder einem Land noch einer Religion zugehörig. Ich wurde auf dieser Erde geboren. Ich bin aus ihr gemacht und an allem interessiert, was mit ihr zusammenhängt.“

Inji Efflatoun aus Ägypten verband politische Überzeugung und künstlerische Arbeit auf radikale Weise. Ihr Werk Mädchen und Monster zeigt eine junge Frau, die von Flammen und verkohlten Bäumen umgeben ist. Die Flammen scheinen sie gleichzeitig zu umschließen und zu bedrängen, während die Bäume wie ein starrer Rahmen wirken, eine visuelle Metapher für das Aufeinandertreffen von persönlicher Freiheit und gesellschaftlichen Begrenzungen. Das Bild spielt mit Kontrasten: leuchtendes Rot und warmes Orange gegen dunkle, fast schwarze Linien.

Efflatoun, als Marxistin und Feministin politisch aktiv, wurde 1959 als eine der ersten Frauen in Ägypten aus politischen Gründen inhaftiert. Ihre Bildsprache macht den inneren und äußeren Kampf sichtbar, den viele Frauen in dieser Zeit führten.

Europäische Positionen mit kritischer Kante

Unter den europäischen Künstlerinnen fällt Benedetta Cappa auf, eine zentrale Figur des italienischen Futurismus. Sie setzte sich in ihren Gemälden und Wandmalereien von den sexistischen und propagandistischen Tendenzen ihrer männlichen Kollegen ab, unter anderem auch ihres Ehemannes Filippo Tommaso Marinetti. Ihr Werk Das große X (1925–30) zeigt eine dynamische, futuristisch-surrealistische Stadtlandschaft, die teilweise von abstrakten Elementen verdeckt wird. Die große Vielfalt der Exponate lässt es leider nicht zu, dass einzelne Werke in ihren historischen und soziopolitischen Kontexten verortet werden. Gerade beim italienischen Futurismus wäre das jedoch dringend vonnöten gewesen, um die ideologischen Verbindungen zwischen Futurismus und Faschismus für ein breiteres Publikum näher zu beleuchten.

Käthe Kollwitz, eine der bekanntesten Grafikerinnen des frühen 20. Jahrhunderts, zeigt in Nieder mit dem Abtreibungsparagrafen (1923) eine Frau, die ein Kind im Arm hält und eines an der Hand führt. Das Blatt verweist direkt auf den damals geltenden § 218, der Schwangerschaftsabbrüche kriminalisierte und Frauen in existenzielle Notlagen brachte. Auch Alice Lex‑Nerlinger griff das Thema § 218 künstlerisch auf. In ihrem Werk Paragraph 218 (1931) stellen Frauen das Symbol des Kreuzes mit der Gesetzesnummer dar, das sie gemeinsam zu Fall bringen. Damit schlägt sie eine Brücke zwischen politischem Protest und weiblicher Solidarität in der Kunst.

Das Linolschnitt-Blatt Ich habe spezielle reservierte Sitzplätze aus Elizabeth Catletts Serie Die Schwarze Frau (1946) zeigt eine Frau mit dem Schild „Colored Only“. Dieses Bild verweist unmittelbar auf die Segregation im Rahmen der Jim-Crow-Gesetze, die in den Südstaaten der USA bis in die 1960er-Jahre gesetzlich verankert war. Öffentliche Verkehrsmittel, Schulen, Restaurants und sogar Trinkwasserbrunnen waren strikt nach Hautfarbe getrennt. Afroamerikaner mussten im Bus in speziell gekennzeichneten Zonen unter entwürdigenden Bedingungen im hinteren Bereich Platz nehmen. Die Serie Die Schwarze Frau dokumentiert nicht nur Unterdrückung, sondern auch Beharrlichkeit und Hoffnung, dass diese Segregation ein Ende findet. Elizabeth Catlett (1915–2012), afroamerikanische Bildhauerin und Grafikerin, widmete ihr Werk zeitlebens der Lebensrealität schwarzer Frauen und ihrem Kampf um Bürgerrechte. „Ich wollte immer, dass meine Kunst meinem Volk dient. Sie sollte uns widerspiegeln, einen Bezug zu uns haben, uns stimulieren, uns unser Potenzial vor Augen führen“, wird sie im Ausstellungskatalog zitiert. Mit Arbeiten wie diesem Linolschnitt machte sie ein Kapitel sichtbar, das in der Kunstgeschichte lange unterrepräsentiert blieb.

Radikal! ist mehr als eine kunsthistorische Korrektur.

Die Ausstellung zeigt, dass die Moderne von Beginn an ein globales Projekt war, in dem Künstlerinnen aus unterschiedlichsten Kontexten entscheidende Beiträge geleistet haben.

Sie erweitert den Kanon nicht nur durch neue Namen, sondern auch durch neue Medien und Themen.

Kritikpunkte gibt es wenige. Wie bei vielen großen Ausstellungen sind die Begleittexte knapp gehalten, sodass für weiterführende Informationen der Katalog konsultiert werden muss. Wer sich ein umfassendes Bild machen will, sollte die Ausstellung jedoch im Rahmen einer Führung besuchen.

Radikal! eine sehenswerte und relevante Schau. Sie öffnet den Blick für die Vielfalt künstlerischer Ausdrucksformen und macht deutlich, dass viele der Fragen, die Künstlerinnen vor hundert Jahren durch ihre Kunst aufwarfen, noch immer nicht beantwortet sind.

Die Ausstellung Radikal! Künstlerinnen* und Moderne 1910–1950 im Unteren Belvedere in Wien läuft noch bis 12. Oktober 2025. Nähere Informationen unter: www.belvedere.at/radikal

Melanie Sindelar ist Assistenzprofessorin für Kunstanthropologie an der Karls-Universität in Prag. Zuletzt erschien von ihr „Moderne und zeitgenössische Kunst“ im Handbuch „Die Arabische Halbinsel“ (Berlin: Springer, 2025).


Titelbild: Screenshot (belvedere.at/radikal)

Artikel teilen/drucken:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.