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Wann hat Europa seine Menschlichkeit verloren?

Am kommenden Dienstag, 14. Oktober, feiert der Dokumentarfilm „Kein Land für Niemand – Abschottung eines Einwanderungslandes“ seine Österreich-Premiere im Wiener WUK. Ein Film, der zur richtigen Zeit kommt – in einer Ära, in der Menschlichkeit zur Verhandlungsmasse geworden ist.

Von Michael Wögerer

Ein Spiegel unserer Zeit

Max Ahrens und Maik Lüdemann haben mit ihrem 111-minütigen Dokumentarfilm ein erschütterndes Zeitdokument geschaffen, das den Wandel Europas von Angela Merkels „Wir schaffen das“ (2015) bis zur gemeinsamen Abstimmung von CDU und AfD für Grenzschließungen (Januar 2025) nachzeichnet. Produziert von der Nashorn Filmhaus KG und finanziert durch ein Bündnis von NGOs – Sea-Eye, Sea-Watch, United4Rescue, Pro Asyl, German Doctors und dem Mennonitischen Hilfswerk – ist der Film gleichzeitig dokumentarisches Zeugnis und politisches Statement.

Mehr als Seenotrettung: Systemkritik

Was „Kein Land für Niemand“ von typischen Migrations-Dokumentationen unterscheidet, ist sein analytischer Tiefgang. Der Film beginnt zwar auf dem Mittelmeer, bei Rettungsaktionen der Sea-Eye, doch sein eigentlicher Fokus liegt auf der gesellschaftlichen Transformation in Deutschland und Europa. Die Filmemacher verstehen Migration nicht als isoliertes Phänomen, sondern als Symptom tieferliegender gesellschaftlicher Verwerfungen.

Besonders stark ist die Analyse der sozialen Schieflage in Deutschland. Während Politiker wie Horst Seehofer Migration zur „Mutter aller Probleme“ erklären, beleuchtet der Film die eigentlichen Ursachen gesellschaftlicher Spannungen: jahrzehntelange Austeritätspolitik, marode Infrastruktur, Wohnungsnot und prekäre Arbeitsverhältnisse. Diese Probleme existierten lange vor 2015 – doch anstatt sie zu lösen, bietet die Politik den Bürgern einen Sündenbock: die Geflüchteten.

Populismus als Problemverschleierung

Der Film zeigt eindrücklich, wie demokratische Parteien sukzessive rechtspopulistische Narrative übernehmen. Ein besonders verstörendes Beispiel liefert Martina Schweinsburg, ehemalige CDU-Landrätin und Erfinderin der Bezahlkarte, die Geflüchtete mit „Ziegenhirten“ vergleicht. Solche Aussagen stehen exemplarisch für eine Entmenschlichung, die mittlerweile in der politischen Mitte angekommen ist.

Diese Entwicklung wirkt wie ein Drehbuch für Österreich: Während ÖVP und SPÖ seit Jahren den migrationspolitischen Forderungen der FPÖ hinterherlaufen, steigen Herbert Kickls Umfragewerte kontinuierlich. Die etablierten Parteien übersehen dabei, dass sie durch diese Anpassungsstrategie das Problem nur verschärfen. Wer rechte Inhalte will, wählt letztendlich das Original – nicht die Kopie.

Fakten gegen Hysterie

Wissenschaftler:innen wie Marcel Fratzscher (DIW) und Monika Schnitzer (Wirtschaftsweise) liefern im Film nüchterne Zahlen: Deutschland benötigt aufgrund des demografischen Wandels eine jährliche Brutto-Zuwanderung von 1,5 Millionen Menschen. Migration ist also nicht das Problem, sondern Teil der Lösung. Doch diese Fakten werden von einer emotionalisierten Debatte überlagert, die gezielt Ängste schürt.

Der Film dokumentiert auch die perversen Auswüchse europäischer Abschottungspolitik: EU-finanzierte libysche Küstenwache, die Geflüchtete mit Schlagstöcken traktiert; Pushbacks an kroatischen Grenzen; das systematische Sterben lassen im Mittelmeer. Seit 2014 sind laut UN-Angaben über 32.000 Menschen im Mittelmeer ums Leben gekommen – eine Zahl, die jeden humanitären Anspruch Europas ad absurdum führt.

Authentische Stimmen

Neben politischen Analysen lässt der Film konsequent Betroffene zu Wort kommen. Besonders bewegend ist die Geschichte von Iraj, der drei Jahre im griechischen Lager Moria verbringen musste, bevor er nach Deutschland gelangen konnte. Solche persönlichen Schicksale durchbrechen die abstrakte Debatte über „Migrantenströme“ und „Kontingente“ und geben der humanitären Katastrophe ein Gesicht.

Hoffnung statt Resignation

Trotz der erschütternden Bilder und Erkenntnisse verfällt „Kein Land für Niemand“ nicht in Hoffnungslosigkeit. Der Film endet mit einem Appell der österreichischen Politikwissenschaftlerin Natascha Strobl: „Die Zukunft ist offen. Sie kann furchtbar werden […] Aber sie kann so viel besser werden als die Gegenwart.“ Diese Botschaft ist zentral: Resignation ist keine Option.

Der Film motiviert zum Handeln, indem er Alternativen aufzeigt. Aktivist:innen von Sea-Watch und Pro Asyl demonstrieren praktische Solidarität, Forschende liefern Argumente für eine rationale Migrationspolitik, und Geflüchtete selbst zeigen durch ihre Lebensgeschichten, dass Integration möglich ist – wenn man sie denn zulässt.

Ein notwendiger Weckruf

„Kein Land für Niemand“ ist mehr als eine Dokumentation – er ist ein Weckruf für eine Gesellschaft, die dabei ist, ihre humanitären Grundwerte zu verlieren. Der Film macht deutlich: Wer den Rechtsruck stoppen will, darf sich nicht auf die Parole „Faschismus verhindern!“ beschränken, sondern muss die Wurzeln des Problems angehen. Das bedeutet: eine solidarische Gesellschaft aufbauen, in der jeder Mensch – unabhängig von seiner Herkunft – die Chance auf ein würdiges Leben hat.

Die Österreich-Premiere

Am Dienstag, 14. Oktober, 19 Uhr, wird „Kein Land für Niemand“ im WUK (Werkstätten- und Kulturhaus) seine Österreich-Premiere feiern. Im Anschluss findet ein Filmgespräch mit Anna Lena Buchleitner und Michael Ladurner (beide Attac) sowie Prof. Sieglinde Rosenberger (Politikwissenschaftlerin, Universität Wien) statt. Eine Gelegenheit, die im Film aufgeworfenen Fragen auf die österreichische Situation zu übertragen und konkrete Handlungsoptionen zu diskutieren. In einer Zeit, in der die FPÖ bei 30 Prozent steht und die etablierten Parteien ratlos wirken, könnte diese Diskussion nicht aktueller sein.

Der Film ist ein eindringliches Statement gegen die fortschreitende Entmenschlichung der europäischen Politik – und gleichzeitig ein Aufruf, nicht zu resignieren, sondern für eine solidarische Zukunft zu kämpfen.

Titelbild: Filmstill „Kein Land für Niemand“

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