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Das aufhaltsame Ende der Demokratie

Die Welt befindet sich im Umbruch, die internationale Ordnung, die 1945 entstand, ist an ihrem Ende – mit ihr droht auch der Liberalismus zu Grunde zu gehen.

Ein Kommentar von Alexander P. Springer, Bogotá (Zeitschrift INTERNATIONAL, Heft III/2025)

„Die Demokratie ist konsolidiert, wenn die Politik langweilig geworden ist“, urteilte Philippe C. Schmitter Anfang der 1990er. Damals hatte die dritte Demokratisierungswelle die autoritären Systeme von Lissabon bis Warschau, von Santiago bis Seoul hinweggefegt, und die demokratische Konsolidierung schien erreicht: Es gab freie Wahlen, Rechtsstaatlichkeit, unparteiliche Bürokratie und eine unabhängige Zivilgesellschaft. An Warnungen fehlte es nicht. Norberto Bobbio schrieb 1994: „Neben der alten und verbrauchten Rechten ist eine ‚neue Rechte‘ entstanden, die auf Rache aus ist“, aber niemand wollte es glauben.

Diese neue Rechte wollte nicht nur an die Macht; sie suchte den liberalen Konsens, der aus der Asche von 1945 hervorgegangen war, zu beenden. Das Ende des Kalten Krieges festige nicht die liberale Demokratie, sondern befreite die inneren Dämonen des westlichen Konservatismus. Ohne den kommunistischen Feind, der sie zusammenhielt, richteten die radikalisierten Konservativen ihre Artillerie gegen den Liberalismus selbst. Es ist eine grausame Ironie der Geschichte:

Der Liberalismus droht an seinem eigenen Erfolg zu Grunde zu gehen.

Vielleicht das Erschreckendste ist die Geschwindigkeit, mit der wir vergessen haben, warum wir diese demokratischen Schutzmauern errichtet haben. Der Wertekonsens, der aus dem Faschismus hervorging und zur moralischen DNA des Westens wurde, zerfällt wie Sand zwischen den Fingern. Die Toten von Auschwitz sprechen nicht mehr zu uns. Anstatt die Demokratie entschlossen zu verteidigen, haben viele traditionelle Parteien die Chamäleon-Strategie gewählt: sich dem Populismus anzupassen, seine Rhetorik zu kopieren, seine Methoden zu normalisieren.

Sie verwechselten ihr politisches Überleben mit dem der Demokratie.

Im Zentrum der EU, die als demokratisches Friedensprojekt auf den Ruinen zweier Weltkriege errichtet wurde, erleben wir heute, dass Mitgliedsländer systematisch die liberalen Grundlagen der Union abbauen und sich dabei zynisch auf das Mehrheitsprinzip berufen. Diese „illiberalen Demokratien“ beschwören die mythische Einheit der Nation, während fiktive Mauern zwischen „uns“ und „den anderen“ errichtet werden. Diese Rückkehr des politischen Tribalismus wird in die Gewänder der elektoralen Legitimität gekleidet. Die alte Logik der Horde scheint die letzte Strategie, die noch funktioniert, um zunehmend fragmentierte und orientierungslose Massen zu mobilisieren.

Die gewählten Autokraten sind Meister in der Kunst der institutionellen Zerstörung: Sie kolonisieren Gerichte, kaufen Medien, korrumpieren den Privatsektor und schreiben die Spielregeln um, um ihre Gegner zu knebeln.

Ironischerweise agiert der nationale Autoritarismus global. Ein transnationales Netzwerk von Autokraten kooperiert in der Sabotage der liberalen Ordnung. Wir erleben die Geburt einer neuen autokratischen Internationale, die mit der Effizienz einer multinationalen Korporation und der Entschlossenheit einer religiösen Sekte operiert.

Was sollen wir tun?

Zuerst müssen wir die Illusion aufgeben, dass Demokratie ein natürlicher Zustand ist. Ihre Institutionen sind zerbrechlich und verwundbar. Hannah Arendt sagte: Es gibt keine Republik ohne Republikaner – nicht Anhänger einer politischen Couleur, sondern Bürger, die sich der res publica verpflichtet fühlen.

Freiheit ist kein Geschenk des Himmels; sie ist eine tägliche Eroberung, die ständige Wachsamkeit erfordert.

Dringend sollten wir den Defätismus austreiben, der die demokratischen Eliten lähmt. Politverdrossenheit, akademischer Zynismus und kultureller Nihilismus nützen nur denen, die den Pluralismus begraben wollen. Zu viele Kommentatoren haben vorzeitig den Tod der Demokratie dekretiert und ihren Pessimismus in eine sich selbst erfüllende Prophezeiung verwandelt. Neue Analysen des Untergangs der Weimarer Republik zeigen, dass Hitlers Aufstieg nicht unvermeidlich war; er war das Ergebnis verpasster Gelegenheiten, verweigerter Kompromisse und konkreter Entscheidungen spezifischer Akteure.

Wir müssen die Fehler des demokratischen Liberalismus eingestehen und korrigieren.

Der ungezügelte Neoliberalismus der letzten vier Jahrzehnte sprengte den Gesellschaftspakt der Nachkriegszeit und erzeugte obszöne Ungleichheit, welche die populistische Wut genährt hat. Der gute Glaube an die Unzerstörbarkeit der Demokratie kann ebenso tödlich sein wie der apokalyptische Katastrophismus.

Die Demokratiemüdigkeit ist weniger ein aktives Bekenntnis zu autoritären Regierungsformen, sondern eine Überforderung durch die Komplexität der Entscheidungsfindung in modernen pluralistischen Gesellschaften. Viele Bürger haben ein falsches Verständnis von Demokratie: Sie erwarten, dass ihre Wünsche automatisch zur Grundlage öffentlicher Politik werden, ohne mühsame Debatten, ohne Verhandlung und Kompromisse. Diese Vorstellung einer Instant-Demokratie muss enttäuscht werden, was wiederum den falschen Propheten des Populismus neuen Zulauf verschafft.

Wenn Demokratie auf das Abstimmen alle paar Jahre an der Wahlurne reduziert wird, entsteht naturgemäß wenig Begeisterung. Wir müssen diese limitierte Definition der Demokratie aufgeben und Ressourcen, Institutionen und Foren für Bürgerbeteiligung bereitstellen bzw. diese stärken. Die Demokratie kann nur als deliberative, als partizipative Demokratie überleben. Wählen allein ist zu wenig.

Wir brauchen eine demokratische Digitalisierung, welche die reflektierte Teilnahme an kollektiven Entscheidungsprozessen fördert, statt sie zu behindern. Der datengetriebene Kapitalismus der Plattformen steht der demokratischen Deliberation feindlich gegenüber und stellt emotionale Reaktionen über rationale Diskussion.

Jahrelang haben politische Eliten darin versagt, die digitalen Möglichkeiten zur Stärkung der Partizipation und für aktives staatsbürgerliches Engagement zu nutzen.

Stattdessen hat der Staat das Feld den Tech-Giganten überlassen, die mit antidemokratischen Logiken operieren.

Die Notwendigkeit eines parteiübergreifenden Konsenses zur Errichtung eines Cordon sanitaire gegen die Gegner der Freiheit muss zum Grundkonsens aller Demokraten werden. Wenn wir etwas aus dem Kollaps der Demokratien der Vergangenheit lernen können, dann dass die Uneinigkeit ihrer Verteidiger nur den Weg zum Autoritarismus ebnete.

Philippe Schmitter hatte recht, aber er vergaß zu erwähnen, dass die Demokratie in Gefahr gerät, wenn die Politik aufhört, langweilig zu sein. Denn wenn Politik zum Spektakel wird, verwandeln sich Bürger in Zuschauer. Und Zuschauer regieren per Definition nicht; sie werden regiert.

Die Frage, die uns die kommenden Generationen stellen werden, ist nicht, ob wir die Demokratie retten konnten, sondern ob wir den Mut hatten, es zu versuchen, als es noch möglich war. Wir wissen wohl, dass die Geschichte denen nicht vergibt, die handeln konnten, aber die Passivität wählten.

Alexander Springer ist Diplomat und an der Österreichischen Botschaft in Bogota tätig.

Titelbild: Gerd Altmann / Pixabay

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