Der Kampf um Belutschistan
Mit den zunehmenden Spannungen in West- und Zentralasien begannen auch bewaffnete Separatisten in Belutschistan, wieder vermehrt mit Terroranschlägen für ihre Anliegen zu kämpfen. Die Region erstreckt sich über den Süden des Iran, Afghanistan und den Westen Pakistans. Besonders in Pakistan gab es zuletzt verheerende Anschläge auf die Infrastruktur, bei denen dutzende Zivilisten zu Tode kamen.
Von Matin Baraki (Zeitschrift INTERNATIONAL, Heft III/2025)
Das heutige Belutschistan gehörte bis 1893 zu Afghanistan. Die damalige afghanische Grenze zu Britisch-Indien lag am Westufer des Flusses Indus. Um den Russen den Weg zum „warmen Wasser“ zu sperren, so das ewige britische Märchen, das bis heute wie eine tibetanische Gebetsmühle wiederholt wird, bot die britische Kolonialmacht dem damaligen afghanischen König Amir Abdul Rahman (1880-1901) Zuckerbrot und Peitsche. Sie setzte ihn zum einen unter militärischen Druck, und zum anderen bot man an, ihm jährlich 120.000 Britische Pfund Sterling Subsidien zu zahlen, wenn er bereit wäre, mit der Kolonialmacht einen Vertrag zu schließen. Die Briten erzwangen die Zustimmung des afghanischen Herrschers zum Durand-Vertrag, benannt nach dem britischen Unterhändler Mortimer Durand, vom 12. November 1893. Daraufhin wurde dem afghanischen Despoten eine Erhöhung der Subsidien auf 160.000 Pfund Sterling versprochen.
Außenpolitisch erhielt das Land am Hindukusch den Status eines britischen Protektorats, und durch dieses koloniale Diktat verlor Afghanistan den Zugang zum indischen Ozean – mit gravierenden ökonomischen und politischen Folgen – sowie einen großen Teil seines Territoriums am Khaibar-Pass, wozu auch das heutige Belutschistan gehörte.
Nachdem Indien 1947 von den Briten in die Unabhängigkeit entlassen worden war bzw. diese erkämpft hatte, entstanden auf dem indischen Subkontinent zwei unabhängige Staaten, die Republik Indien und die Islamische Republik Pakistan. Das im Rahmen des Durand-Vertrages annektierte Territorium Afghanistans wurde den Pakistanis geschenkt. Das war die Geburtsstunde des Belutschistan-Konfliktes, der seit 78 Jahren andauert.
Neue Herrscher
Als die britische Kolonialmacht den indischen Subkontinent verließ, wurden den ehemaligen Kollaborateuren aus der Region Punjab auf dem neu entstandenen Separatstaat Pakistan riesige Ländereien sowie industrielle Infrastruktur geschenkt und der punjabischen Militärelite die Macht übertragen. Es begann ein faktisch innerer Kolonialismus mit allen bekannten Erscheinungen.
Während die punjabischen Städte „verwestlicht“ wurden, blieben in den westlichen Teilen des Landes an der Grenze zu Afghanistan, darunter Belutschistan, die vorfeudalen und feudalen Verhältnisse bestehen.
Belutschistan, mit knapp 350.000 Quadratkilometern so groß wie Deutschland, ist die größte der vier Provinzen des Landes und verfügt über wichtige Bodenschätze, vor allem Erdgas, das in andere Provinzen transportiert wird. Die übrigen Industriezweige sind extrem unterentwickelt. Die Menschen leben von der Landwirtschaft. Das Wohlstands- und Bildungsniveau in der abgelegenen und schwer zugänglichen Provinz gilt als unterdurchschnittlich.
Den Herrschenden ist bewusst, dass Bildung und Entwicklung Unruhe, Selbstbewusstsein und Ansprüche zur Folge haben würden. Je ungebildeter die Menschen, desto besser sind sie beeinfluss- und beherrschbar. Die Belutschen wollen aber nicht nur Entwicklung und Bildung, sondern endlich auch politische Emanzipation. Die Revolutionen in Afghanistan (1978) und im Iran (1979), die Machtübernahme der Mujaheddin in Afghanistan (1992), die Vertreibung der NATO vom Hindukusch und die Machtübernahme der Taliban (2021) haben die belutschische nationale Bewegung wachgerüttelt.
Ein islamischer Radikalismus spielt aber in Belutschistan kaum eine Rolle. Eher im Gegenteil: Dort ist ein säkularer Umgang mit dem Islam vorherrschend. Seit den 1970er- und 1980er-Jahren dominieren Gruppierungen mit sozialistischen Vorstellungen den politischen Diskurs in Belutschistan.
Eine neue Phase des Kampfes
Die belutschische nationale Bewegung forderte stets eine Autonomie im Rahmen des Staates Pakistan. Da die Zentralregierung darauf nicht einging, brach 2004 ein heftiger Konflikt aus. 2006 wurde der Führer der Bewegung, Akbar Bugti, durch pakistanische Sicherheitskräfte getötet. Im Verlauf der Jahre wurde die Auseinandersetzung auf beiden Seiten immer brutaler. Es wurden nicht nur Gasleitungen gesprengt, sondern auch Entwicklungshelfer, Diplomaten und Journalisten entführt und getötet.
Die staatliche Repression ist allgegenwärtig, und Menschenrechtsverletzungen stehen an der Tagesordnung.
Vor allem die pakistanische Armee wird von Menschenrechtsaktivisten beschuldigt, einen schmutzigen Krieg gegen die Belutschen zu führen und vielfach Personen verschwinden zu lassen. Pakistanische und internationale Journalisten haben nur eingeschränkt die Möglichkeit, vor Ort Informationen aus erster Hand zu erhalten. Am 22. März 2025 wurde die pakistanische Menschenrechtsaktivistin Mahrang Baloch durch Sicherheitskräfte festgenommen, weil sie zu friedlichen Protesten aufgerufen hatte und die sofortige Freilassung des von Sicherheitskräften in Belutschistan entführten 15-jährigen Menschenrechtaktivisten Ans Ahmed verlangt hatte. Die belutschische Menschenrechtsgruppe Paank verurteilte die sich häufenden Fälle des „Verschwindenlassens“ von Belutschen. Am 26. und 29. Januar 2025 waren sechs Personen aus verschiedenen Teilen Belutschistans gewaltsam entführt worden, nachdem am 14. Januar 2025 der Belutsche Pindok getötet worden war.
Chinesisch-Pakistanischer Wirtschaftskorridor
Hauptziel der nationalen Widerstandsbewegungen sind die Sicherheitskräfte, wobei es auch immer zu Kollateralschäden kommt. Im November 2024 führte die Baloch Liberation Army (BLA) einen Anschlag auf den Hauptbahnhof von Quetta durch, bei dem 26 Menschen, darunter 14 Soldaten, getötet wurden. Die Heftigkeit der Auseinandersetzungen nahm zu, seitdem China in Pakistan den Chinesisch-Pakistanischen Wirtschaftskorridor (CPEC) ausbaut. Das ist ein gigantischer Transportweg, der vom Himalaja bis zum indischen Ozean nach Gwadar führt. China baute das Fischerdorf Gwadar seit 2015 zu einem Tiefwasserhafen für Containerschiffe aus, um sich im Rahmen der maritimen Seidenstraße einen großen Teil der kontinentalen Strecke für Warenlieferungen nach Europa zu sparen. China tätigte seit 2015 in Pakistan Investitionen von mehr als 50 Milliarden Euro. Da die Seidenstraße aber durch Belutschistan führt, sind immer wieder chinesische Bauprojekte Ziele der BLA. Als im Oktober 2024 am Flughafen von Karatschi ein Selbstmordattentat verübt wurde, kamen dabei viele chinesische Arbeiter ums Leben.
Seit der neuerlichen Machtübernahme der Taliban in Afghanistan am 15. August 2021 verschlechterte sich die Lage in Pakistan signifikant. Auch die pakistanischen Taliban drängen mit Gewalt zurück in ihre angestammten Gebiete an der Grenze zu Afghanistan und setzen die Zentralregierung in Islamabad mit regelmäßigen Terroranschlägen unter Druck. Um der Verfolgung zu entgehen, ziehen sie sich immer wieder nach Afghanistan zurück. Am 24. Dezember 2024 drangen mehrere Kampfjets der pakistanischen Streitkräfte in den afghanischen Luftraum ein und bombardierten vier Stellungen der pakistanischen Taliban, Tehreek-i-Taliban (TTP) sowie die Camps der Baloch Republican Army (BRA) und mit ihnen verbündeter Organisationen. Das führte am 26. Dezember 2024 an der afghanisch-pakistanischen Grenze zwischen den Grenzposten beider Länder zu einem militärischen Schlagabtausch und zu diplomatischen Verstimmungen zwischen den einstigen Verbündeten. Daher wendet sich die pakistanische Elite an ihren Allwetter-Freund China. Dies passt aber gewissen US-Politikern nicht. Hochrangige US-Senatoren drohen Pakistan, sie würden die Belutschen bei ihren Unabhängigkeitsbestrebungen unterstützen, wenn Pakistan sich weiter China annähere. Als die Regierung in Islamabad die international weniger bekannte BRA im September 2010 verbot, kam es zwischen den Sicherheitskräften und der BRA zur bewaffneten Auseinandersetzung.
Die BRA wird als der militante Flügel einer marxistischen Organisation in Belutschistan angesehen.
Die im Jahre 2000 gegründete BLA kämpft für einen unabhängigen Staat Belutschistan. Sie hat am 11. März 2025 den „Jaffar-Expresszug“, der auf dem Weg von Quetta nach Peshāwar unterwegs war, gestürmt und etwa 440 Passagiere in ihre Gewalt gebracht, darunter 200 Soldaten. Die BLA-Kämpfer hätten Frauen und ältere Menschen von den übrigen Passagieren getrennt und freigelassen, berichtete ein Augenzeuge der Zeitung Dawn. Bis zum Abend des 13. März 2025 töteten die Geiselnehmer nach eigenen Angaben 50 Passagiere, darunter 20 Soldaten. Die Armee stürmte den Zug und erschoss alle 33 Geiselnehmer. Dieser Angriff der BLA war der erste dieser Art und dürfte wahrscheinlich nicht der letzte gewesen sein. Ruhe wird es in Belutschistan auch weiterhin nicht geben, sowie auch keine militärische Lösung. Dies hat die über 70-jährige Geschichte Pakistans bewiesen. Die einzige Alternative wäre die Anerkennung einer Autonomie, gepaart mit breiten Aufbau- und Bildungsprojekten, um der Bevölkerung Hoffnung und Zukunft zu vermitteln.
Matin Baraki ist Mitglied des Zentrums für Konfliktforschung an der Universität Marburg und der Autor von „Afghanistan: Revolution, Intervention, 40 Jahre Krieg“ (PapyRossa, 2023).
Titelbild: Alte Karte von Persien, Afghanistan und Belutschistan (picryl.com, Public Domain)

