Zwischen Blüte und Untergang
Eine Reise in eine der ältesten Städte der Welt wird zur Begegnung mit den Widersprüchen unserer Zeit. Was sich in Hawler, der Hauptstadt der Autonomen Region Kurdistan im Norden des Irak, offenbart – zwischen Luxuskarossen und Kindern, die Wasser verkaufen, zwischen achttausendjähriger Geschichte und Betonbunkern – lässt an einer fundamentalen Frage nicht vorbeikommen. Kann eine Gesellschaft Fortschritt und ihre Seele gleichzeitig bewahren?
Ein Gastbeitrag von Dilan Canbaz
Mein Flugzeug landet um 15:45 in Hawler. Ich nehme den Koffer vom Förderband, laufe zum Ausgang. Unerträgliche Hitze begrüßt mich, als die Eingangstür des Flughafens aufgeht. Ein nass geschwitzter Freund steht mir gegenüber, neben seinem Auto. Drinnen zeigt das Thermometer 46 Grad. Der blaue Himmel ist noch leicht vom letzten Sandsturm verfärbt. Wir fahren los, sind sofort im Stau. Die Straßen sind links und rechts von unvorstellbar wertvollen Autos aller Marken überfüllt. Ich sitze bequem in einem über zweihunderttausend Dollar kostbaren Fahrzeug. Ich bemerke anfangs wegen seiner Extras einiges nicht – diesen Luxus kann ich mir jedenfalls nie leisten. Ich rechne mit etwas. Vertikale Betonbunker fallen mir jetzt ins Auge. Diese verdecken die Zitadelle im Zentrum – einst zeigte sie sich von allen Seiten.
Schreitet eine alte Stadt auf diese Weise voran oder geht damit ihre Seele unter?
Hawler zählt mit ihrem Alter von mehr als 8.000 Jahren zu den ältesten bewohnten Städten der Welt. Hier sind das kurdische Volk und seine Vorfahren beheimatet. Ihre Abstammung ist aus politischen, religiösen und wirtschaftlichen Gründen im Laufe ihrer Jahrtausende alten Geschichte komplex geworden – mangels eindeutiger Beweise enthalten die schriftlichen Quellen Lücken. Neben den Kurden leben Araber, Turkmenen, andere Ethnien, Menschen aus fast aller Welt, unter ihnen sind vorwiegend muslimische, nachfolgend christliche, yezidische (eine alte Religion der Kurden vor der Islamisierung) und andere Glaubensrichtungen. Moralische Werte sind klar definiert. Es gibt Wege, diese umgehen zu können. Auf den Punkt gebracht könnte Geld hier ebenfalls das Unmögliche möglich machen. Den wirtschaftlichen Status verteidigen manche also mit allen Mitteln. Trotz gemischter Gefühle freue ich mich darüber, über meine Reise – ein paar Tage Auszeit vom Alltag, sie könnten vielleicht meine negativen Gedanken ein wenig positiver stimmen. Neugierig bin ich auf menschliche Unterschiede, ihre Entwicklung durch ihr globales Verhalten und Umwelt. Die Klimaanlage läuft mit voller Kraft. Ich schwitze das Wasser aus, das ich zu mir nehme. Der Freund lacht: „Willkommen in Kurdistan! Das ist nur die Probefahrt zur Hölle.“
An der Kreuzung stehen Kinder mit Wasserflaschen in der Hand; sie leben vom Verkauf. Ich äußere mich, um etwas dazu gesagt zu haben: „Das wahre Gesicht unserer Welt bleibt unverändert.“
Der Freund antwortet wie jemand, der das oft gehört hat: „Sie haben zumindest eine Möglichkeit.“
Das stimmt teilweise. Ich bestehe darauf: „Es geht nicht nur um die Armut. Die Ressourcen einfacher Menschen verkleinern sich durch unseren Wohlstand.“
„Das gehört zum Menschsein“, er rast an diesem Teil der Szene vorbei. Wir hören Musik, lachen laut. Das Gespräch gerät in die Vergangenheit.
Am nächsten Morgen steige ich in den Linienbus. 500 irakische Dinar (umgerechnet 40 Eurocent) kostet die Fahrt ins Zentrum. Ich gehe durch den Bazar zu einem Teehaus, nehme Platz. Neben mir sind drei Araber in ihrer Tracht, schräg gegenüber zwei Philippiner, ein paar Kurden in ihrem traditionellen Gewand, und auch andere Leute. Den besten Anblick dazwischen bietet mir der Seitenteil der Burg an. Mir tischt der Kellner einen schwarzen Tee ohne Zucker, zwei Nans, Joghurt und Honig auf. An der Kasse zahle ich 3.000 Dinar.
Die schönsten Momente erlebe ich immer zwischen diesen schlichten Menschen trotz ihres Kampfs ums Überleben – viele von ihnen erhalten seit Monaten keinen Lohn von der zentralen Regierung, während die Weltpolitik, Unruhen vor allem im Südirak, die Reichen dieser Stadt und die aus dem Süden und anderen benachbarten Ländern herkommen, zur Investition verleitet. Geld wird in Gold, Immobilen und Aktien verwandelt. Das erschwert das Leben der Mittellosen, macht dies unbezahlbarer. Gleichzeitig geben die Bauern landesweit wegen Dürre und Wasserknappheit auf. Sie gehen in die Städte. Ohne Bildung gibt es für sie auch keinen Job, der sie über Wasser hält. Ohne Kapital landen sie auf der Straße als Bettler, Wasser- und Taschentuchverkäufer. Investoren bestimmen, aus welchem Land ihre Arbeitskräfte importiert werden. Ölfirmen bringen ebenso ihre Belegschaft mit. Das Nachspiel dieser gängigen Egozentrik, die viele politische Systeme weltweit mit sich einschließt, wird genauso wie die Kluft zwischen Reich und Arm nicht als globale Gefahr erkannt. Ein verschleierter Krieg lenkt Menschen von dem Wesentlichen ab. Ein paar Leute bezeichnen ihn als eine Taktik – die Weltmächtigen profitieren allein davon. Der wahre Krieg versteckt sich unter unterschiedlichen Masken. Ein Gerede von Wassermafia ist bereits in aller Munde. In ausgetrockneten Gebieten Südiraks und der angrenzenden Länder ist der Literpreis von Trinkwasser höher als der von Treibstoff.
Zwei Tage vor meiner Abreise lädt mich der Freund in einer gehobenen Gegend der Stadt zum Essen ein. An diesem kleinen Ort ragen Vermögende aus der Not der gesamten Menschheit heraus. Sie kaufen sich alles, was sie wollen, Kindermädchen, Sicherheiten, von jeglichen Emotionen frei. Nie betrachtete ich bisher wie in diesem Teil der Stadt so viele Gesichter, Körperteile mit kosmetischen Operationen. Diese Leute optimieren ihr Aussehen, um einem medialen Standard anzugehören. Trotz ihrer unterschiedlichen Herkunft merke ich an der äußeren Erscheinung dieser Menschen keine Differenzierung.
Erstmals spüre ich so sehr in Hawler, wie materieller Wert auch hier alle menschlichen Grenzen übertrifft. Die Erkenntnis entfernt mich von dieser Schönheit meiner Jugendzeit in dieser Stadt. Ich fühle mich fremd darin.
„Welche Absicht, welche Macht steckt hinter dem Ganzen?“, frage ich mich auf dem Weg zurück nach Europa, und wo führen diese vorbildliche Ebene des Narzissmus und diese kapitalistische Herrschaft hin, die sich ein Paradies vorstellen, das nur in ihrer Realität existiert?
Als grausam und brutal stellt sich diese kontrollierte Macht in meinen Augen am Ende meiner Reise dar.
Dilan Canbaz wurde 1973 in Sulaimaniyya im irakischen Kurdistan geboren, kam mit 22 Jahren nach Graz, schreibt und veröffentlicht seit 2018. Mit seinen Texten versucht er Türen für neue Betrachtungsweisen zu öffnen. Neben seiner Schreibtätigkeit arbeitet er im Sozialbereich mit Kindern und Jugendlichen.
Titelbild: Arbil catsle -Hawler Kurdistan von KURDISTAN🌟 كوردستان, CC BY-SA 2.0

