Horror in der Westbank
Der Völkermord in Gaza hält die Welt in Atem. Entscheidendes Eingreifen aber bleibt aus. Auch die neue Phase, in der die Stadt Gaza dem Erdboden gleichgemacht werden soll, ändert offensichtlich nichts daran.
Von Helga Baumgarten, Jerusalem (Zeitschrift INTERNATIONAL, Heft IV/2025)
Während Israel seine Offensive in der Stadt Gaza beginnt, tobt in der Westbank ein durch nichts und niemanden mehr gebremster Siedlerkolonialismus. Nach den systematischen Häuserzerstörungen durch die Armee zuerst in Jenin, dann im Flüchtlingslager Nur Shams bei Tulkarm konzentrieren sich brutal-gewalttätige Siedler, seit geraumer Zeit voll unterstützt durch die Armee, auf Angriffe auf palästinensische Beduinendörfer überall in der Westbank. Ziel ist die Vertreibung der Bewohner und die Kolonisierung des Landes durch jüdische Siedler.
Beduinen werden aus dem Jordantal sowie aus der ganzen Gegend um Masafer Yatta südlich von Hebron vertrieben.
Inzwischen bleiben auch Beduinendörfer zwischen Jericho und Ramallah nicht mehr verschont. Hunderte von Menschen haben ihre Heimat verloren, das zweite Mal seit 1948, als die israelische Armee sie aus ihren Dörfern und Weidegebieten des Israel innerhalb der Grenzen von 1948-1967 vertrieb und ihnen alles wegnahm. Auch die Häuser und Dörfer der Beduinen innerhalb Israels werden zerstört.
Eine neue Zielscheibe der Siedler und der Armee sind palästinensische Dörfer rund um Ramallah und auf der Straße Richtung Nablus. Siedler, gemeinsam mit der Armee, dringen in Dörfer ein, demolieren Autos und zünden Häuser an. Wenn die Bewohner versuchen, den Brand zu löschen, werden sie daran gehindert. Immer wieder erschießen die Siedlerkolonialisten Menschen. Einen Brennpunkt bildet inzwischen das Dorf Sinjil nördlich von Ramallah.
Die kolonialistischen Siedler werden brutaler und sadistisch. Parallele Veränderungen sehen wir in der Armee. Jeder Soldat schlägt, demoliert, schießt, mordet, wie es ihm passt. Kein Offizier kontrolliert sie mehr.
Im Grunde setzen Soldaten und Offiziere ihre blutigen Verbrechen aus dem Gazastreifen nun in der Westbank fort.
Gefängnishöllen für Palästinenser
Tagtäglich werden Menschen in der Westbank und in Ost-Jerusalem verhaftet, meist ohne jegliche Beschuldigung. Es reicht, dass sie Palästinenser sind. In den israelischen Gefängnissen in den besetzten Gebieten, aber auch in Gefängnissen in Israel, wartet eine regelrechte Hölle auf sie. Israels Minister für Nationale Sicherheit, der wegen Rassismus vorbestrafte Siedlerkolonialist Itamar Ben-Gvir, trägt dafür die Verantwortung: Die Häftlinge erhalten, wenn überhaupt, ein Minimum an Nahrung, Waschen und Duschen gibt es vielleicht einmal in der Woche, ohne Seife und ohne frische Kleidung. Es gibt keinen Hofgang über lange Zeit hin, Familienbesuche sind seit Oktober 2023 verboten, selbst die Besuche von Rechtsanwälten sind entweder verboten oder zeitlich eingeschränkt, immer wieder auch unter Anwesenheit der Gefängniswärter: Dies sind alles klare Verstöße gegen Internationales Recht.
Am schlimmsten trifft es dabei die Gefangenen aus Gaza, vor allem, wenn sie zu „unlawful combatants“ (illegale Kämpfer) gemacht werden, wie etwa der Arzt Husam Abu Safiyeh, der schwerstens gefoltert wurde und wohl noch wird. Er durfte bisher keinen Rechtsanwalt sehen.
Itamar Ben-Gvir war es auch, der Marwan Barghouti „besuchte“ und in widerwärtiger Art versuchte, seine Macht gegenüber einem völlig abgemagerten, weil ausgehungerten und gefolterten Gefangenen zu demonstrieren. Danach veröffentlichte Ben-Gvir ein Video dieser Demütigung in den sozialen Medien. In dem Video hören wir Ben-Gvir laut und deutlich sagen: „Du wirst nicht gewinnen. Jeder, der sich mit der israelischen Nation anlegt, jeder, der unsere Kinder und Frauen ermordet, wird von uns aus dem Weg geräumt, ausgelöscht. Vergiss nicht, eben das ist durchweg so in der Geschichte passiert.“ Diese versuchte Demütigung demonstrierte aber nur den Sadismus Ben-Gvirs und die Dehumanisierung aller Palästinenser durch das Regime unter Netanyahu. Barghouti ist einer der bekanntesten Gefangenen und einer der populärsten Politiker unter den Palästinensern.
Das Netanyahu-Regime verfolgt mit derartigen Aktionen ein klares Ziel: Allen Palästinensern sollen ein normaler Alltag und ein normales Leben unmöglich gemacht werden. So ist die Fahrt von einem Ort zum anderen in der Westbank nur mit stundenlangen Verzögerungen machbar und manchmal schlicht unmöglich.
Überall in der Westbank werden Häuser zerstört und Menschen angegriffen, verletzt und ermordet: einfach so.
Der tagtägliche Handel bis hin zu jeder wirtschaftlichen Aktivität wird zusehends schwieriger. Der Alltag soll, so formulieren es die Palästinenser und so beschreibt es inzwischen selbst die liberale israelische Zeitung Haaretz, eine einzige Nakba – eine fortgesetzte Katastrophe – werden.
Über Israel kann nicht mehr ausgereist werden, der einzige Weg ist daher über die Allenby-Brücke nach Jordanien. Jeder Palästinenser, der diesen Weg auf sich nimmt, kommt über kurz oder lang zum Schluss: „Da ich schon einmal draußen bin, bleibe ich vielleicht am besten gleich draußen.“ Genau dies ist das Ziel Israels: „Geht von alleine, damit wir Euch nicht vertreiben oder töten müssen, vielleicht in einem weiteren Völkermord.“ Wir sollten nicht vergessen, dass eben dies das Ziel des Zionismus von Anfang war.
Angriffe auf Ost-Jerusalem und der Siedlungsbau E1
Jerusalem, präzise das besetzte Ost-Jerusalem, das Israel in klarem Verstoß gegen internationales Recht 1980 annektiert hat, ist ebenfalls massiven Angriffen ausgesetzt. Am 20. August entschied das Planungskomitee der Ziviladministration über die besetzte Westbank, die Siedlung E1 zu bauen. Sie soll die alten, nach 1967 gebauten Siedlungen French Hill und Mount Scopus, wo ein Campus der Hebräischen Universität liegt, mit der Siedlung Ma’aleh Adumim, der größten israelischen Siedlung in der Westbank, verbinden. Das gesamte Gebiet streckt sich nahezu bis zum Toten Meer. Ein riesiges Areal, aus dem alle dort noch wohnenden Palästinenser, wieder vor allem Beduinen, vertrieben werden sollen.
Mit E1 wird die Westbank unwiderruflich in zwei Teile zerschnitten.
Finanzminister Smotrich, gleichzeitig Minister im Verteidigungsministerium und damit, so die Interpretation in Haaretz, „Herrscher“ über die Westbank, stellte sich am 14. August mit einer Karte in Ma’aleh Adumim auf und proklamierte in unübertroffen zynisch-kolonialistischer Manier, wie es weitergehen wird: „Sie sprechen über einen palästinensischen Traum, wir bauen eine jüdische Realität. (…) Eben diese Realität wird selbst den Gedanken an einen Palästinensischen Staat begraben, es gibt dann nichts mehr, das man anerkennen kann.“ Und weiter: „All jene in der Welt, die einen palästinensischen Staat anerkennen wollen, bekommen von uns eine Antwort, die Hand und Fuß hat, (…) nicht mit Dokumenten, nicht mit Beschlüssen oder Deklarationen, (…) sondern mit Tatsachen. Tatsachen von Häusern, neuen Nachbarschaften, Straßen und jüdischen Familien, die dort ihr Leben aufbauen.“
Smotrich bedankte sich bei Netanyahu dafür, dass er ihm ermöglicht habe, „diese Revolution in den vergangenen zwei Jahren durchzuführen.“ Er forderte abschließend: „Es ist an der Zeit, israelische Souveränität über Judäa und Samaria auszuweiten. Wir müssen jede Idee der Teilung des Landes für immer aus der Welt schaffen. Denn nur damit stellen wir sicher, dass diese hypokritischen europäischen Staatschefs im September nichts mehr finden, was sie anerkennen könnten.“
Für die Zukunft der besetzten palästinensischen Gebiete ist Smotrich der gefährlichste Siedlerkolonialist.
Mit ihm und in Konfrontation mit seiner Programmatik wird jede Zweistaatenlösung hinfällig.
Smotrich: „From the River to the Sea“
Wer Smotrich ist und was er plant, ist seit 2017 hinlänglich bekannt: Er verkündet offen und ohne jegliche Hemmungen die von ihm vertretenen Ziele. Das grundlegende Dokument ist der „Entscheidende Plan“ vom September 2017, in dem es um das gesamte Erez Israel geht, vom Fluss bis zum Meer, „from the river to the sea“. Es darf nicht vergessen werden, dass Israel nie ernsthaft eine Zweistaatenlösung wollte: Auch Yitzhak Rabin, der mit dem Oslo-Abkommen als der Architekt einer Friedenslösung auf der Basis einer Zweistaatenlösung gefeiert wurde, hat dafür Sorge getragen, dass die Palästinenser selbst mit Oslo und den historisch einmaligen Zugeständnissen nie einen unabhängigen Staat erhalten werden.
Explosive Bedeutung hat der Haram al-Sharif, also der Heilige Bezirk um die al-Aqsa-Moschee, drittheiligste Stätte für Muslime weltweit. Hier müssen wir wieder zurückgehen zum offenen Rassisten Ben-Gvir. Dieser besteht darauf, dass Juden das Recht haben, den Haram jederzeit zu betreten und dort in aller Offenheit zu beten. Schließlich, so seine regelmäßigen Proklamationen, stehe er unter israelischer Souveränität und gehöre deshalb „uns“. Eben dort soll der jüdische Tempel von einst wiederaufgebaut werden.
Anfang August wurde bekannt, dass die Elite-Einheit 8200 der israelischen Armee in direkter und enger Kooperation mit dem Softwareentwickler Microsoft ein systematisches und allumfassendes Überwachungsprogramm für die gesamten palästinensischen Gebiete entwickelt hat. Damit wurde es möglich, „eine Million Telefonanrufe pro Stunde“ abzuspeichern. Der Umfang: 11.500 Terabytes von israelischen Armeedaten – das entspricht 200 Millionen Stunden Audioaufnahmen – sind bis Juli 2025 auf den Servern von Microsoft in den Niederlanden und zu einem kleineren Teil in Irland gespeichert worden. Der britische Guardian und das Magazin +972 deckten diesen Skandal auf und schrieben, dass dies „die weltweit größte und umfassendste Sammlung von Überwachungsdaten über eine einzige Bevölkerungsgruppe ist“. Damit ist die Einheit 8200 in der Lage, Daten über jeden einzelnen Palästinenser in den besetzten Gebieten auf der Basis schlichter Telefonanrufe zu sammeln. George Orwells 1984 verblasst angesichts dieser Entwicklungen.
„Plötzlich war die gesamte Gesellschaft unser Feind“, wie es ein Mitarbeiter des Projektes gegenüber Journalisten formulierte. Damit wird auch verständlich, wie Kinder und Jugendliche in der Westbank und in Ostjerusalem „einfach so“, aus heiterem Himmel, erschossen werden. Das System hat sie wohl als „Risiko“ eingestuft.
Helga Baumgarten lebt in Ost-Jerusalem. Sie ist emeritierte Professorin für Politikwissenschaft an der Universität Birzeit, an der sie seit 1993 lehrt. Zuletzt erschien „Völkermord in Gaza“ (Promedia, 2025).
Titelbild: Palestine 2011. Israel’s Wall in Bethlehem, West Bank (flickr.com, Montecruz Foto, CC BY-SA 2.0)

