Ein Zypern, zwei Regierungen
Seit 50 Jahren ist die Insel Zypern gespalten. Der Norden wird bis heute ausschließlich von der Türkei als eigenständiger Staat anerkannt. Dieser versucht, als Offshore-Steuerparadies Investoren anzulocken. Das gelingt nur bedingt, und so sind Landwirtschaft und Tourismus weiterhin die bedeutenden Wirtschaftszweige.
Von Dieter Reinisch, Girte (Zeitschrift INTERNATIONAL, Heft IV/2025)
Am Flughafen Larnaka wartet bereits unser Fahrer. Die Straßen sind wenig befahren, und so konzentriert er sich mehr auf das Englischlernen mit seiner Sprach-App als auf den Verkehr. Zwei Stunden dauert die Fahrt. Unser Ziel: Der Norden der geteilten Insel. Direktflüge in die von der Türkei kontrollierte Republik gibt es nicht, denn aufgrund von EU-Sanktionen müssen Flüge einen Zwischenstopp einplanen – zumeist in Istanbul.
Die EU sieht den Norden als Sonderstatusgebiet an. Das bedeutet, dass die EU weiterhin einen Hoheitsanspruch auf die gesamte Insel stellt, obwohl sie auf den Norden keine Macht ausüben kann. Die südliche Republik ist dagegen EU-Mitglied.
Nach zwei Militärputschen in Griechenland und Zypern und dem darauffolgenden Einmarsch türkischer Truppen im Norden ist die Insel formal seit 1974 geteilt. Dass es mich plötzlich in die international nicht anerkannte Republik Nordzypern verschlagen wird, hätte ich nicht erwartet.
Nicht viel mehr als 24 Stunden hatte ich Zeit, um mich vorzubereiten – Buchung des Flugs inklusive. Über Istanbul auf den Flughafen Ercan gab es keine sinnvollen Verbindungen mehr, so ging es zunächst nach Larnaka.
Zypern an der Seite Irlands
Geteilte Städte: Belfast, Beirut, Nikosia – dies verband ich mit Zypern. Mit der Insel kam ich politisch und historisch erstmals Mitte der 2000er-Jahre über Irland in Kontakt. Vor rund 20 Jahren veröffentlichte ein ehemaliges Mitglied der EOKA, wie die antibritische Befreiungsbewegung auf Zypern hieß, seine Gefängnismemoiren. Vias Livadas war in den 1950er-Jahren in England in Haft. Damals führte auch die IRA ihre „Operation Harvest“ entlang der inneririschen Grenze durch – auch von ihr endeten viele Mitglieder wie jene der EOKA in Gefängnissen in England.
In Haft schmiedeten viele der Kämpfer enge Kontakte, denn EOKA und IRA hatten einen gemeinsamen Feind: den britischen Kolonialismus.
Einige der damaligen IRA-Kämpfer kannte ich persönlich durch meine wissenschaftliche Arbeit. Sie erzählten mir, wie die Netzwerke auch Jahrzehnte später dienlich waren: Waffenschmuggel aus Libyen und von Irland zur PLO – Zypern war die Drehscheibe des Netzwerks aus IRA und EOKA während des Nordirlandkonflikts nach 1969.
Doch während sich die irische Bewegung nach links entwickelte, driftete die zypriotische Nationalbewegung geführt von griechisch-orthodoxen Geistlichen zusehends nach rechts ab.
„Enosis“ nannte sich das Konzept des zunächst antibritischen Patriotismus, der sich nach der Unabhängigkeit zu einer antitürkischen Hellenisierung wandelte. Die türkische Minderheit sah sich bedroht. Um deren Interessen zu wahren, intervenierte die Türkei militärisch. Die Teilung der Insel war von ethnischer Vertreibung geprägt: Bis zu 200.000 türkische Zyprioten mussten den Süden Richtung Norden verlassen, in die andere Richtung wurden bis zu 60.000 Griechen vertrieben.
Unscheinbare Blauhelme
Geblieben sind die Briten mit Militärbasen, zu denen sich eine UN-Blauhelmtruppe hinzugesellte, um die Grenze zu bewachen. Mein erster Gedanke über die Insel, als mich unser Fahrer aus dem Ankunftsbereich des Flughafens zu seinem Auto begleitet: Irgendwie wie Beirut. Es ist sonnig, heiß, und vor dem Flughafen wimmelt es von rauchenden Passagieren, gelangweilten, aber schwer bewaffneten Polizisten und weißen Jeeps mit großer, schwarzer Aufschrift „UN“. Doch zur Überraschung ist dann von der militärischen Spaltung der Insel kaum etwas zu bemerken.
Anders als im Libanon sind die UN-Blauhelme nicht im Straßenbild zu erkennen, auch der Grenzübertritt in Nikosia ist unscheinbar: Nicht einmal einen Stempel gibt es, keine Gebühr für ein Visum ist zu entrichten. So habe ich mir den Eintritt in ein nicht anerkanntes Staatsgebiet nicht vorgestellt, wird Nordzypern doch oft in einem Atemzug mit Transnistrien, Abchasien und Südossetien genannt.
Der kulturelle Unterschied zum Süden ist dagegen frappierend: türkischer Einfluss, wohin man schaut, von Reklametafeln bis zu den riesigen, neu errichteten Moscheen entlang der Fahrt über den kyrenischen Gebirgszug an die Nordküste in die Gegend von Girte und Alsancak. Auf den Hängen prangt Richtung Süden hin eine riesige nordzypriotische Flagge. Das einzige Mal, dass ich in diesen Tagen die weiße Flagge mit rotem Halbmond und zwei horizontalen roten Streifen allein sehen werde. Denn ansonsten hängt sie an allen Masten ausschließlich neben der türkischen Flagge.
Türkisches Protektorat
Rund 380.000 Menschen leben in Nordzypern – etwa so viele wie in Bratislava, oder um den Nordirlandvergleich weiter zu bemühen: etwa so viele wie in Belfast. Kyrenia, wo es mich hinführt, ist eines der beiden Wirtschaftszentren. Als Offshore-Gebiet mit niedrigen Steuern will es, wie die Republik im Süden, Investoren anziehen. Besonders viele Russen tummeln sich entlang der Strände. „Kannst Du uns einen Bericht über die israelischen Kolonien in Zypern liefern?“, schreibt der Chef eines Newsdesks, für den ich arbeite, als er mitbekommt, dass ich auf der Mittelmeerinsel bin. „Nein, die sind alle im Süden, ich bin hier im türkischen Norden“, antworte ich.
Als der Krieg gegen den Iran im Juni begann, verließen viele Israelis fluchtartig das Land. Aufgrund des eingestellten Flugverkehrs zog es sie mit Booten ins weniger als 100 Seemeilen entfernte Zypern. Im Süden siedelten sie sich an. Auch im Norden tummeln sich ein paar von ihnen, aber weit weniger. Denn anders als die Republik im Süden versucht die Türkei, nach außen hin eine pro-palästinensische Position einzunehmen.
Seit Jahren vergibt sie Universitätsstipendien an Studierende aus Gaza, um ihnen einen Abschluss an einer der sechs nordzypriotischen Universitäten zu gewähren.
Es ist ein weiterer Versuch, die Wirtschaft des Landes in Gang zu bringen, denn die Verwaltung Nordzyperns wird nahezu ausschließlich von Ankara finanziert. Wie Nordirland, wo London Milliardenzuschüsse liefern muss, um das Staatsgebilde künstlich am Leben zu halten, hängt Nordzypern am Tropf der Türkei.
Während mit mehr als einem Drittel des BIP die größten Einnahmen des Südens aus dem Erdölgeschäft kommen, bezieht der Norden seine wenigen Einnahmen aus Landwirtschaft und Tourismus.
Nordzypern als Offshore-Steuerparadies zu etablieren, gelingt nur bedingt. Ebenso wenig, wie es religiös im Sinne Erdogans AKP zu prägen. Während der wachsende türkische Einfluss etwa in Sarajevo auch durch eine zunehmende Rolle der Religion im Straßenbild deutlich wird, erkennt man dies – außer durch die erwähnten Moscheen am Straßenrand – hier kaum: Wenige Frauen tragen Hijab, dafür Alkoholreklamen und -konsum an jeder Ecke. Besonders beliebt ist neben Whiskey der Anadolu Raki.
Entlang der Nordküste reiht sich ein Hotelkomplex an den anderen. Die Gäste sind zumeist Türken, Englisch kann das Hotelpersonal nur spärlich. Tageszeitungen gibt es sowieso nur auf Türkisch.
An alle Hotels angeschlossen sind Spielcasinos. „Das Essen dort ist besonders gut, und alles gratis“, erzählt mir ein Bewohner. Viele Einheimische würden „ein bisschen spielen, damit sie ins Casino gehen können und dort dann ein gutes Abendessen gratis bekommen“, erklärt er.
Am Weg zurück nach Larnaka telefoniert mein Fahrer hastig mit Kollegen: „Es ist zu viel los am Grenzübergang, das dauert dort zwei Stunden“, informiert er mich, nachdem ein befreundeter Taxifahrer in Lefkoșa, wie die Hauptstadt Nordzyperns und der Nordteil des geteilten Nikosia bei Türken genannt wird, ihm Fotos von den Autoschlangen gesendet hat.
Britisches Hoheitsgebiet
„Wir fahren woanders hin, Sie haben eh einen EU-Reisepass?“, fragt er. Der andere Grenzübergang ist nur für gebürtige Zyprioten, Briten und EU-Bürger: „Er wird von den Briten kontrolliert. Ist eine weitere Fahrt, aber geht schneller“, informiert er mich.
Bei einer Einreise aus dem Süden in den Norden gäbe es kaum Wartezeit, umgekehrt dafür schon: „Die Behörden im Norden sehen das eher als einen Kontrollposten, nicht als eine Grenze“, meint er. Grenzkontrollen würde es daher nur bei einer Einreise vom Norden aus in den Süden geben: „Da durchsuchen sie dann das Auto.“
Als wir uns der Grenze von Norden aus nähern, passieren wir in den kleinen Dörfern immer mehr Denkmäler von Gefallenen der Kämpfe.
Entlang der Straßen kommen durchwegs verfallende Bunker zum Vorschein. Besonders militarisiert wirkt das Grenzgebiet nicht mehr.
Anders als in anderen geteilten Regionen dieser Welt, die ich bereiste, finden sich kaum politische Slogans an Hauswänden nahe der Grenze. Dafür aber eine Warteschlange. „Das sind alles Griechen, die zurückfahren“, erklärt mir mein Fahrer: „Es ist Urlaubszeit, heiß und sonnig, da kommen die Griechen hierher in den Norden, weil Benzin und die Zigaretten bei uns günstig sind.“
Als sich die Autokolonne nicht bewegt, steigt er aus und heftet Plastikteile auf sein Autokennzeichen: „In meinem Zulassungsschein steht das Nummernschild, so wie das Auto im Süden zugelassen wurde. Damit ich über die Grenze darf, muss das genau gleich sein. Doch die Türken setzen ein T am Anfang des Nummernschilds hin.“ Mein Fahrer hat es nun vor Grenzübertritt verdeckt: „Denn die Griechen akzeptieren das T nicht, daher muss ich es zudecken, um einreisen zu können“, erklärt er mir. „Wir sind ein Zypern, haben aber zwei Regierungen mit unterschiedlichen Gesetzen. Das ist ein Blödsinn.“
Von Zypern aus Bomben in den Irak und auf Gaza
Mein Fahrer beklagt sich, dass es langsam voran geht: „Die SBA-Polizei kontrolliert alles.“ Ich frage ihn, wer SBA sei: „Die englische Polizei, wir fahren in das englische Gebiet. Als die Engländer weg sind, haben sie Militärbasen behalten. Das hier ist alles britisches Hoheitsgebiet“, erzählt er. Vor mir ist auf den Schildern zu lesen: „Sie verlassen das türkisch kontrollierte Gebiet“, TCA auf Englisch: „Willkommen in der Eastern Sovereign Base Area.“
Es ist ein britischer Luftwaffenstützpunkt der Royal Air Force. „Als sie den Irak bombardiert haben, sind die Flugzeuge von hier aus gestartet“, erzählt mein Fahrer. Doch auch jetzt starten hier Flugzeuge: Erkundungsflüge über Gaza – die Daten werden der israelischen Armee zur Verfügung gestellt, haben britische NGOs herausgefunden.
Am Flughafen in Larnaka angekommen, stehe ich in der Schlange zum Sicherheitsbereich: Vor mir eine ältere Dame mit israelischem Reisepass, hinter mir ein junges Paar ebenfalls aus Israel.
Am heutigen Nachmittag gehen noch drei Maschinen nach Tel Aviv. Neben Griechisch und Englisch ist am Flughafen viel auf Hebräisch angeschrieben.
Während die Türkei im Norden bis zum 7. Oktober 2023 Stipendien für Studierende aus Gaza vergab, wurde der Süden für Israelis ein Rückzugsort vom Krieg und dem Genozid, den ihre Regierung derzeit an den Palästinensern verübt. Zypern ist eine Insel, doch sie ist nicht nur zwischen Griechen und Türken geteilt – die UN-Demarkationslinie trennt auch ihre Haltung zum Krieg in Gaza.
Dieter Reinisch ist Chefredakteur der INTERNATIONAL sowie Chefredakteur und Vorstandsmitglied des Österreichischen Journalisten Clubs.
Alle Bilder: Dieter Reinisch

