„Ich wünsche dem Sender und unseren Ländern bessere Zeiten“
Als er im Sommer 2012 aus Protest gegen zunehmend tendenziöse Berichterstattung seinen Job beim arabischen Nachrichtensender Al Jazeera nach über zehn Jahren kündigte, schrieb das deutsche Magazin Focus: „Mr al-Dschasira geht“. Mit INTERNATIONAL sprach er über seine Erfahrungen beim katarischen Sender und wieso er ihn verließ.
Aktham Suliman im Gespräch mit Dieter Reinisch (Zeitschrift INTERNATIONAL, Heft IV/2025)
INTERNATIONAL: Sie arbeiten seit den 1990er-Jahren in Deutschland als Journalist, unter anderem für Medien wie Deutsche Welle, und natürlich als Leiter des Al-Jazeera-Büros. Wie war es für einen Journalisten aus Syrien, in Deutschland zu arbeiten?
Suliman: Es war schwierig. Ich kann mich sehr genau erinnern, wie glücklich ich war, als ich den ersten arabisch klingenden Namen in der Presse gelesen habe: Karim El-Gawhary in der taz. Ein Ägypter, der mittlerweile für den ORF arbeitet. Ein arabisch klingender Name war eine Seltenheit. Inzwischen gibt es mehrere arabisch klingende Namen, aber man wurde eines Besseren belehrt: Es geht nicht um den Namen, es geht um die Sichtweise. Inzwischen ist es schick, einen arabischen Namen zu haben. Wir erleben das auch in der Politik und in der Kultur: Wir sind multikulti und offen. Aber in Wahrheit ist die Sichtweise gar nicht so offen.
Wie war die Erfahrung, in Deutschland Journalist zu werden?
Man kommt aus einem ganz anderen sprachlichen und kulturellen Zusammenhang und will hier konkurrieren in einer ganz anderen Umgebung. Anfangs gab es die Sichtweise in Deutschland: Ein Journalist aus dem Ausland soll lieber Multikulti-Themen machen – das ist sein Bereich.
Ich kann mich erinnern an einen Beitrag, den ich für SFB 4 Radio Multikulti, das war ein Vorgänger von Radio Berlin-Brandenburg, über Straßenverkäufer in Berlin machen musste. Die Straßenverkäufer kamen damals alle aus einem bestimmten Dorf in Ägypten. Das war ein Thema, das ich beleuchtet habe, weil ich es besser konnte als andere Journalisten damals.
Aber später habe ich mich dann in die Landschaft der arabischsprachigen Medien in Deutschland begeben. Da ist die Konkurrenz weniger, aber der Bedarf an Journalisten größer. Ich habe für Abu Dhabi TV gearbeitet und von Berlin aus für alle arabischsprachigen Zeitungen geschrieben.
Man entdeckt irgendwann seine Nische: Ich muss nicht mit Hans-Peter konkurrieren, ob ich einen Beitrag über den CDU-Parteitag machen darf, sondern ich konkurriere mit einer Handvoll arabischer Journalisten in Deutschland, um einen Artikel über Wahlen in Deutschland zu schreiben.
Für jemanden, der wie ich Politik- und Islamwissenschaft studiert hat, waren die Chancen nicht schlecht.
Ich habe also für arabische Medien gearbeitet und auch für Deutsche Welle von Deutschland aus in die Welt – das war damals Radio, denn TV gab es in den 1990er-Jahren nicht. Das waren aber nur vier Jahre, und dann kam Al Jazeera.
Was hat sich dadurch geändert?
Es ist eine Welt für sich. Es ist intensiver Journalismus und exklusiver Journalismus mit vielen Reisen. Die Bindung zu Deutschland war dann nur bedingt. Man kommt immer wieder zurück und hat es als den Lebensmittelpunkt, aber man war ständig im Irak, Ägypten, Iran oder Moskau.
Al Jazeera war damals recht neu. Wie war es, diesen Sender in Deutschland aufzubauen?
Es war interessant, denn auf einmal ist man eine Figur, die die Aufmerksamkeit auf sich zieht: Das ist der Al-Jazeera-Mann. Und was hat man damals mit Al Jazeera verbunden? 11. September, Al Kaida und die ganze Geschichte um Osama Bin Laden. Man war ein bunter Fisch in dieser ganzen Journalistenlandschaft. Das war schwierig, denn mit diesem Ruf wird man schief angesehen. Ich kann mich erinnern, dass ein Journalist zu mir kam und mich über die Lage von Frauen in der arabischen Welt interviewen wollte, denn die sei ganz anders und so, hat er zu mir gesagt. Und ich schaue ihn an und sage: „Ich kenne dich, wir waren gemeinsam auf der Universität und haben gemeinsam getrunken.“ Er war damals bei ARD oder ZDF. So entstehen also auch Stereotype: Al Jazeera, Islamismus, Terrorismus.
Ich begann bei Al Jazeera im März 2002, also ungefähr ein halbes Jahr nach dem 11. September. Das hat damals alles bestimmt. Die Jungen unter uns verstehen das gar nicht: Alle Araber, die nach Europa kommen wollten, hatten Angst, hier angegangen zu werden. Sie haben uns, die wir schon hier gelebt haben, gefragt, ob sie ein Kreuz tragen und Christen werden müssen, um hier akzeptiert zu werden.
Alle in Europa hatten Angst vor dem Araber: Hat er einen Bart, dann ist er ein Islamist, und hat er keinen Bart, dann ist er ein Schläfer, also noch schlimmer. In dieser sehr angespannten Atmosphäre wurde damals Al Jazeera gegründet.
Ich wurde dann zu allen Talkshows eingeladen und immer gefragt: Wo ist dieser Bin Laden?
Ich musste so tun, als ob ich es wüsste, aber es nicht sagen konnte oder wollte. Man wurde so zu einem bunten Vogel gemacht, bis sich alle daran gewöhnt hatten, dass Al Jazeera ein ganz normaler Sender ist, der normale Berichterstattung macht: Hannover Messe oder Wahlen in Deutschland.
2002 war auch ein wichtiges Jahr, da es ein Jahr vor dem Irakkrieg war. Damals hat Gerhard Schröder „Nein“ gesagt und sich gegen die US-Amerikaner gestellt. Das hat die Araber damals sehr geprägt. Deutschland war in der arabischen Welt für Mercedes, BMW und Bayern München bekannt, aber nicht für politische Positionen. Plötzlich hat sich das geändert, und das hat die Araber sehr interessiert. Das war sehr prägend und hat unserem Büro einen Schub gegeben.
Inwiefern?
Zwei Menschen haben die Arbeit sehr befördert: Osama Bin Laden, weil eine Zelle in Hamburg war, und Gerhard Schröder. Dadurch war klar: Wir müssen jemanden in Deutschland haben, und das Büro muss groß sein. Dann kam Frau Merkel, die Sache ist etwas eingeschlafen, aber das Büro war schon da.
Wie geht man mit diesen Stereotypen und Zuschreibungen um, von denen Sie erzählt haben?
Man spielt damit, denn es bringt auch viele Einladungen zu den großen Talkshows. Aber zugleich leidet man darunter. Einige Monate davor war ich noch der integrierte Journalist bei der Deutschen Welle, und plötzlich wurde ich mit Dingen in Zusammenhang gebracht, mit denen ich nichts zu tun hatte: Terrororganisationen, radikaler Islam.
Ich war aber glücklich, für einen Sender zu arbeiten, der sich für die arabische Sache eingesetzt hat – das war sehr emotional: Wir waren bei jeder Demonstration gegen den Irakkrieg dabei. Es war eine interessante Zeit. Ein Telefonat, in dem ich gefragt wurde: „Kannst du nach Bagdad?“, und einen Tag später war ich dort und musste Kriegsberichterstattung lernen. Ich war in vielen Kriegen, auch 2008 im Georgienkrieg. Diese Lockerheit, die Berichterstattung im Krieg mit dem eigenen Körper zu erlernen, hatte man bei westlichen Medien nicht.
Zehn Jahre haben Sie das Büro geleitet. Wieso haben Sie den Sender 2012 verlassen?
Es war anfangs eine Überzeugung:
Irakkrieg, Palästina – es gibt viele Themen, bei denen man sich bei westlichen Medien nicht gut durchsetzen kann.
Man hatte das Gefühl, in eigenen Gewässern zu sein. Mit dem Fall des Irak 2003 merkte man aber, dass sich bei Al Jazeera die Atmosphäre änderte. Es ging Richtung Islamisierung, also dass islamische Kräfte mehr Macht innerhalb des Senders bekommen haben, und er entfernte sich von der Professionalisierung. Die Stärke war eigentlich: Al Jazeera war der erste professionelle arabische Sender. Unser Werbeslogan war: „Wenn alle Menschen CNN schauen, was schaut CNN? Al Jazeera.“ Wir wollten so professionell sein, dass CNN und BBC uns anschauen. Wenn wir dies aufgeben, kommen wir zurück auf die Ebene der staatlichen arabischen Sender, die niemand anschaut, nicht einmal die eigenen Bürger.
Es war aber ein langsamer Prozess dorthin bei Al Jazeera, und dann kam der sogenannte Arabische Frühling 2011 und ich empfand mich wie bei einem NATO-Sender: Da ist Militär immer gut und Bombardierung immer eine Befreiung. Genau das Gegenteil, was wir beim Irakkrieg gemacht haben. Damals haben wir die Bombardierung nicht als eine Befreiung und einen Schritt zur Demokratie betrachtet, aber 2011 in Libyen war es dann schon so. Das konnte ich dann nicht mehr verantworten, und ich habe gesagt: „Ich kann da nicht mehr mitmachen. Ich kann es nicht verantworten.“ Ich habe gesagt: „Ich wünsche dem Sender und unseren Ländern bessere Zeiten.“
Wie war die Zeit danach?
Wenn man Al Jazeera als Büroleiter von Berlin verlässt, ist das zuerst schon, als würde man in ein schwarzes Loch fallen. Aber ich bin froh, dass ich den Schritt gemacht habe, denn meine Vorahnung hat sich bewahrheitet. Natürlich hat jedes Medium einen politischen Überbau, aber es ist schlimm, wenn der in den Vordergrund gerückt wird. Al Jazeera hat viel an Glaubwürdigkeit verloren. Es ist heutzutage immer noch stark, aber ein Sender von vielen. Davor war es DER Sender. Was jedoch dann bei Al Jazeera passierte, war dann nicht mehr Journalismus, sondern die Schaffung eigener Wahrheiten.
Wie sehen Sie die Medienlandschaft in Deutschland heute?
Die 1990er-Jahre waren schwierig, die 2000er waren kompliziert. Wir leben nun in einer postmodernen Zeit, es ist alles surrealistisch. Die Widersprüche passieren vor unseren Augen, und keiner bemerkt das. Beispiel: Israel-Palästina wird ganz anders berichtet als Russland-Ukraine. Zeitgleich argumentiert man bei dem einen mit internationalem Recht, und bei dem anderen wird es als ungültig erklärt – ohne mit der Wimper zu zucken beim Journalisten, dem Medienhaus und den Zusehern. Das ist der absolute Wahnsinn.
Aktham Suliman wurde in Damaskus geboren und lebt in Berlin. Er baute ab 2002 das Al-Jazeera-Korrespondentenbüro in Deutschland auf, das er bis 2012 leitete.
Dieter Reinisch ist Chefredakteur der INTERNATIONAL sowie Chefredakteur und Vorstandsmitglied des Österreichischen Journalisten Clubs.
Titelbild: Aktham Suliman, mit Chefredakteur Dieter Reinisch, zu Besuch im INTERNATIONAL-Büro in Wien

