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Was es wirklich bedeutet, auf unseren Körper zu hören

Mit «Darm mit Charme» ermöglichte Giulia Enders neue Einsichten über das, was in uns geschieht. «Organisch» heißt ihr neues und persönliches Buch über das Wichtigste, was wir haben, unseren Körper.

Urs Heinz Aerni im Gespräch mit Giulia Enders

Urs Heinz Aerni: Frau Enders, bevor wir zu Ihrem neuen Buch kommen, möchte ich Sie wissen lassen, dass ich auf Ihren Bestseller «Darm mit Charm» durch einen Beitrag der «Tagesschau» des Schweizer Fernsehens aufmerksam gemacht wurde, was ja nicht alltäglich ist bei Neuerscheinungen. Wie sehen Sie heute auf diese mediale Aufmerksamkeit zurück?

Giulia Enders: Ich hatte das damals nicht erwartet. Es war ein großes Geschenk. Der Darm hatte es meiner Meinung nach verdient – er leistet so viel für uns und wird dann völlig falsch eingeschätzt bzw. unterschätzt. Dass das auch andere erkannt haben und mir dabei geholfen haben, es zu verbreiten, hat mich sehr gefreut.

Aerni: Ihr «anschauliches und unzimperliches» Erläutern von gesundheitlichen Fragen, wie es eine Zeitschrift formulierte, erreichte nicht nur ein gigantisches Publikum, sondern ließ auch hoffen, dass sich die Fachwelt und die Gesellschaft annähern. Hat sich diesbezüglich was getan?

Enders: Ich finde schon. Mein Weg in diese Welt kam ja durch Science Slams die genau dieses Ziel verfolgen und seitdem gab es eine ganze Reihe weiterer Sachbücher über andere Organe in lockerer Sprache.

Aerni: Science Slam ist ein Vortragswettbewerb, bei dem Fachleute ihre Forschungsergebnisse witzig und verständlich präsentieren in Anlehnung von Slam Poetry…

Enders: Das fand ich gut. Während der Covid-Pandemie habe ich allerdings auch das eine oder andere Mal zusammengezuckt. Wissenschaft ist etwas, das beruhigen und Klarheit schaffen kann, wenn man es richtig benutzt. Dafür ist allerdings manchmal jahrzehntelange Forschung nötig – langsame und tiefgründige Arbeiten. Ich hoffe, die Menschen, die aufgrund unangenehmer Kommunikation das Vertrauen in Wissenschaft verloren haben, wieder zurückzugewinnen.

Giulia Enders: „Organisch“ (Ullstein Verlag)

Aerni: Auch in Ihrem neuen Buch widmen Sie sich unserem Körper. Es scheint, je digitaler unsere Welt wird, desto mehr gilt es auf das eigene Pulsieren zu achten. Hören wir heute zu wenig auf unseren Körper trotz dem Zeitalter der «Selbstoptimierung»?

Enders: Es kommt ja immer drauf an, wie. Wenn wir bei einem Gespräch jemandem nur zuhören, um ihn direkt danach zu verbessern, wird das ganze schnell unangenehm. Mit dem Körper und der Selbstoptimierung ist das ähnlich. Apps und Smartwatches können uns schon helfen, aber nur, wenn sie auch dafür dienen, dass wir etwas über uns selbst lernen und aufmerksam sind. Dafür braucht es oft noch ein bisschen mehr Verständnis als nur rohe Empfehlungen und Daten.

Aerni: Ihr Augenmerk fokussierte sich auf das Organ Darm, das ja dem Gehirn ähnlich ist. Nun widmen Sie sich in Ihrem Buch dem ganzen Körper dazwischen. Was war der Anlass dazu?

Enders: Bei meiner Arbeit im Krankenhaus reichte es nicht, nur «die Darmforschung» zu kennen. Die Menschen, um die ich mich kümmern sollte, hatten auch ein Herz, Lungen und ein Immunsystem. In einem Körper hängt alles zusammen. Ich kam nicht drumherum, mich auch mit den anderen Organen zu beschäftigen.

Aerni: Gezwungenermaßen, weil alles doch wieder mit dem Darm zusammenhängt?

Enders: Als mir zum Beispiel auffiel, dass Menschen mit einem Reizdarm-Syndrom häufig schlecht schlafen, habe ich mich intensiv mit dem Schlaf auseinandergesetzt. Nicht wenige Texte im Buch beruhen auf solchen Darm-Themen, auch wenn man das nicht direkt erkennt.

Aerni: Im Buch stellen Sie fest, dass viele Begriffe aus der «Technik, Wirtschaft und der Kriegsführung» benutzt werden, um über unseren Körper zu sprechen. Wir Changieren zwischen Selbstheilung durch den Körper und Maßnahmen, den Körper vor Krankheiten zu schützen. Eine stetige Gratwanderung?

Enders: Für mich geht es hierbei nicht nur um Selbstheilung oder bewusste Maßnahmen, sondern darum, was so eine Sprache mit uns macht.

Aerni: Hätten Sie da ein Beispiel?

Enders: Etwa bei Autoimmunerkrankungen habe ich schon oft mitbekommen, dass Patientinnen gesagt bekamen: «Ihr Immunsystem greift ihren eigenen Körper an». In Wirklichkeit handelt es sich hierbei aber um Zellen, die uns so übervorsichtig beschützen wollen, dass sie dabei zu weit gehen. Das zu verstehen, macht für Betroffene einen Unterschied. Und auch abseits von Krankheiten gehen wir mit unserem Körper stimmiger um, wenn wir ihn besser einschätzen können. Beim Schlaf, beim Sport, beim Rumlungern – mir hat ein geschärftes Verständnis bei vielem geholfen.

Aerni: Sie nehmen uns mit, zu persönlichen Erfahrungen. So zum Beispiel der Abschnitt über ihre Urgroßmutter und die Lunge oder das Kapitel über Muskeln am Beispiel Ihrer Mutter, die «Essenszubereiterin», wie Sie sie eine Zeit lang neckisch als Mädchen nannten. Wie dürfen wir uns Ihr Vorgehen des Schreibens vorstellen?

Enders: Ich fand es am Anfang schwierig über andere Organe zu schreiben. Sie liegen mir nicht so wie der Darm. Damals bin ich zu einer Paartherapeutin gegangen und habe sie gefragt, wie stelle ich zu diesen Organen eine Verbindung her. Ihre Rückfrage war simpel:» Erinnern die Organe Sie denn an irgendjemanden, der ihnen nahe ist?»

Aerni: Eine interessante Frage…

Enders: Lange überlegen musste ich nicht. Kurz vorher hatte ich noch gelesen, dass eine der bahnbrechendsten neuen Erkenntnisse über die Lunge lautet, dass wir alle paar Minuten einmal tief seufzen ohne es zu merken. Mit einem Schlag wurde mir klar: das erinnert mich an die Erzählungen von meiner Uroma! Eine seufzende, gütige Frau. Plötzlich fiel es mir leicht zu erkennen, was ich an der Lunge schätzen konnte. Meine Uroma gab mit ihrer liebevollen Neugier ein Fundament für alle, die nach ihr kamen. Sie war zwar etwas passiv, aber wollte durchaus Dinge, die sie dann auf ihre ganz eigene Art bekam. Sie war eine Art Gegenstück zum typischen Businessman, aber nicht weniger erfolgreich. Das fand ich spannend und konnte all das auch an der Lunge finden, die ja unser wichtigstes Bedürfnis stillt – aber eben auf eine ganz untypische, weiche Art.

Aerni: Im Kapitel über das Gehirn, zeigen Sie die Unterschiede zwischen Ihnen und Ihrer Schwester auf, die das Buch illustrierte. Ihre Schlussfolgerung ist, dass erst Text und Bild zu einem Ganzen werden, als Beispiel für die Wechselwirkung zwischen Hirn und Körper. Mit anderen Worten: Geben wir dem Gehirn zu viel Aufmerksamkeit?

Enders: Ja, das glaube ich schon! Zumindest wird es oft so dargestellt, als ob es ein Computer-artiger Manager wäre, der über alles verfügt. Das ist es aber nicht.

Aerni: Also kein Denken ohne Körper?

Enders: Ich habe aus Spaß mal eine Liste angefertigt, welche körperlichen Prozesse unser Denken beeinflussen – diese Liste hat es in sich! Von Immunzellen, Muskelsignalstoffen, Stoffwechselprozessen… wer wirklich gut und klar denken können will, muss viel über den eigenen Körper verstehen und auch erfühlen können.

Aerni: Wir kommen langsam zum Schluss und wollen ja nicht schon alles aus dem Buch verraten. Doch nur noch dies; Sie unterscheiden Gefühle von Emotionen im Text mit dem Untertitel «Wissen und Gefühl». Welches von beiden ist denn zuerst da?

Enders: Das Größere: die Emotionen! Durch die moderne Forschung habe ich sie völlig neu verstanden. Emotionen versetzen den ganzen Körper in einen Zustand, der möglichst praktisch für uns ist. Unser bewusstes Denken kriegt von diesem komplexen Prozess nur einen Kurz-Memo zugeschickt – ein Gefühl. So genial, wie wir oft denken, ist das bewusste Denken nicht: es kann sich ziemlich verschätzen, was die darunter liegende Emotion eigentlich beabsichtigt. Klügere Gefühle zu entwickeln, die den Körper noch besser verstehen, bringt uns – laut der aktuellen Wissenschaft – sehr viel weiter als eine Enzyklopädie auswendig zu lernen.

Aerni: Ihr Buch findet nun den Weg in die Buchhandlungen. Wenn ich ein Gemälde malen würde, mit einem lesenden Menschen mit Ihrem Buch in den Händen, wie müsste dieses aussehen?

Enders: Anders als beim Lesen des ersten Buches! Da ging es ums überraschte Lachen und Freuen – wie beim munteren Erzählen in meiner WG. Dieses Buch hier ist eher das Gefühl danach zusammen auf dem Sofa zu liegen und zu raunen: «Weißt du, was ich jetzt erst verstanden habe?» – also vielleicht das Gesicht friedlich und aufgeschlossen, ruhig atmend, schmunzelnd.

Aerni: Darf man nach der Gesundheit fragen? Wenn ja, wie geht es Ihnen?

Enders: Fast merkwürdig gut – ich war nach dem Schreiben so erleichtert und fröhlich wie schon lange nicht mehr. Am ersten Tag nachdem ich den Stift abgelegt habe, bin ich einfach aufgestanden, habe laut Musik angemacht und bin durch meine Wohnung getanzt. Das war vermutlich das Gegengewicht zum ruhigen Schreiben. Mir ist außerdem noch etwas anderes aufgefallen: ich witzle wieder mit mir selbst. Dann laufe ich zum Beispiel über die Straße und sehe etwas, über das ich mir innerlich einen ironischen Spruch zuflüstere und grinse. Das habe ich als Kind viel getan und es ist während dem Beschäftigen mit der Innenwelt wieder zurückgekehrt. Das finde ich sehr schön.


Das Interview wurde zuerst im Magazin „Lesen“ veröffentlicht, herausgegeben von Orell Füssli Zürich

Giulia Enders wurde 1990 in Mannheim geboren, forschte in der Mikrobiologie, arbeitete als Ärztin und engagiert sich für die verständliche Vermittlung wissenschaftlicher Themen. Nebst der Weiterbildung zur Fachärztin für Innere Medizin wirkte sie wirkte als Wissenschaftsjournalistin für «Die Zeit». Das Magazin «Bild der Wissenschaft» schreibt über ihren Bestseller «Darm mit Charme»: «Ihre erfrischende Art und ihre lockere Sprache bewirken vermutlich mehr als so mancher belehrende Medizinbeitrag.»

Das Buch: „Organisch“ von Giulia Enders mit Illustrationen von Jill Enders, Ullstein Verlag, 336 Seiten, 2025


Titelbild: Giulia Enders (Foto: Julia Sellmann, Ullstein Verlag)

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