Gemeinwohl vor Eigennutz: Chinas Fünfjahresplan und der Kampf gegen Korruption
Die 4. Plenartagung des Zentralkomitees der KP Chinas verabschiedet ehrgeizige Sozial- und Klimaziele – während gleichzeitig konsequent gegen korrupte Funktionäre vorgegangen wird. Ein genauerer Blick auf die Ambitionen der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt und deren entschiedenen Kampf gegen Bereicherung im Amt.
Von Michael Wögerer
Von der internationalen Berichterstattung weitgehend unbeachtet, hat die Kommunistische Partei Chinas Ende Oktober 2025 auf ihrer 4. Plenartagung einen Fünfjahresplan verabschiedet, der in seiner sozialpolitischen Ausrichtung bemerkenswert ist – gerade im Vergleich zu den neoliberalen Agenden westlicher Regierungen. Gleichzeitig bestätigte dieselbe Tagung den Parteiausschluss von 14 hochrangigen Funktionären wegen schwerer Korruptionsvergehen, darunter neun Generäle. Diese Null-Toleranz-Politik gegenüber Amtsmissbrauch steht in scharfem Kontrast zur westlichen Praxis, wo hochrangige Politiker trotz Korruptionsvorwürfen häufig im Amt bleiben.
Soziale Versprechen mit Substanz
Während westliche Regierungen Sozialsysteme abbauen und Arbeitsrechte flexibilisieren, formuliert die chinesische Führung explizit das Ziel, „die Gewährleistung und Verbesserung des Wohlergehens der Bevölkerung zu intensivieren und verlässlich gemeinsamen Wohlstand der gesamten Bevölkerung zu fördern“, wie aus dem von der Tageszeitung junge Welt veröffentlichten offiziellen Kommuniqué hervorgeht. Das klingt zunächst nach Propaganda, doch die konkreten Maßnahmen verdienen Beachtung.
Der 15. Fünfjahresplan (2026-2030) sieht vor, „eine qualitativ hochwertige Vollbeschäftigung zu fördern“ und „das System der Einkommensverteilung weiter zu optimieren“. Konkret bedeutet dies: Ausbau der Sozialversicherungen, Verbesserung der Gesundheitsversorgung durch die „Healthy China Initiative“ und Investitionen in ein Bildungssystem „zur Zufriedenheit der Bevölkerung“. Das Zentralkomitee verpflichtet sich ausdrücklich, „all diejenigen Fragen gut zu lösen, die für die Menschen dringlich und schwierig sind und die ihnen die meisten Sorgen bereiten“.
Vergleicht man diese Prioritätensetzung mit der Politik in den USA oder der EU, wo Sozialausgaben häufig als Kostenfaktor gelten und die Schere zwischen Arm und Reich kontinuierlich wächst, zeigt sich ein fundamentaler Unterschied in der wirtschaftspolitischen Philosophie. China bekennt sich offen zum Primat der Realwirtschaft gegenüber der Finanzspekulation – eine Position, die nach der Finanzkrise 2008 auch im Westen diskutiert, aber nie ernsthaft umgesetzt wurde.
Klimapolitik mit konkreten Zielen
Besonders bemerkenswert ist die Deutlichkeit, mit der Chinas Regierung ökologische Ziele formuliert.
„Den Leitgedanken, dass klare Flüsse und grüne Berge so wertvoll wie Gold- und Silberberge sind, müssen wir uns fest zu eigen machen und ihn in die Praxis umsetzen“, heißt es in dem offiziellen Dokument.
Während westliche Politiker bei Klimaschutzmaßnahmen regelmäßig vor Industrieinteressen zurückweichen, verpflichtet sich die Kommunistische Partei zur „Erreichung des CO2-Emissionszenits und der Klimaneutralität“ mit messbaren Zwischenzielen.
Das Plenum fordert explizit den „beschleunigten Aufbau eines neuartigen Energiesystems“ und „kontinuierliche und intensive Anstrengungen im Kampf gegen Umweltverschmutzung“. Die „grüne Transformation in allen Bereichen der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung“ soll forciert werden – und zwar nicht als Lippenbekenntnis, sondern als zentrale Kennziffer des wirtschaftlichen Erfolgs.
China investiert bereits heute mehr in erneuerbare Energien als die USA und Europa zusammen. Das Land ist Weltmarktführer bei Solar- und Windenergie, Elektrofahrzeugen und Batterietechnologie. Während die EU-Kommission Umweltauflagen für die Autoindustrie verwässert und die USA unter verschiedenen Administrationen zwischen Klimaschutz und Fossilenergie schwanken, verfolgt China – bei allen berechtigten Kritikpunkten an der Umsetzung – eine konsistente Strategie der Energiewende.
Null Toleranz gegen Korruption im Staatsapparat
Diese ambitionierte Reformagenda wird flankiert von einer beispiellosen Antikorruptionskampagne. Am 17. Oktober 2025, wenige Tage vor der Plenartagung, bestätigte das chinesische Verteidigungsministerium den Ausschluss von neun hochrangigen Generälen aus Partei und Militär wegen schwerer Korruptionsvergehen. Wie CNN berichtete, handelt es sich um die größte Antikorruptions-Operation im chinesischen Militär seit der Kulturrevolution (1966-1976) – ein klares Signal, dass niemand über dem Gesetz steht.
Der prominenteste Fall ist He Weidong, mit 68 Jahren Vize-Vorsitzender der Zentralen Militärkommission und damit die Nummer zwei im chinesischen Militär. He, der auch dem 24-köpfigen Politbüro angehörte, wurde wegen „schwerer Verletzung der Parteidisziplin“ und „Pflichtverbrechen mit extrem großen Geldsummen“ aus allen Ämtern entfernt. Er verschwand bereits im März 2025 aus der Öffentlichkeit; die Untersuchungen gegen ihn liefen diskret, bis ausreichende Beweise vorlagen.
Besonders aufschlussreich ist die Begründung in der Parteizeitung PLA Daily: Die neun Generäle hätten „die politische Ökologie der Armee schwer beschädigt“ und persönliche Bereicherung über das Wohl des Landes gestellt.
Konkrete Fälle, konkrete Konsequenzen
Unter den zivilen Funktionären sticht der Fall von Tang Renjian heraus, dem ehemaligen Landwirtschaftsminister. Tang wurde im September 2025 wegen Korruption zum Tode verurteilt – mit zweijähriger Bewährung, was in China üblicherweise in lebenslange Haft umgewandelt wird. Laut der Nachrichtenagentur Reuters, die am 28. September 2025 berichtete, nahm Tang zwischen 2007 und 2024 Bestechungsgelder in Höhe von 268 Millionen Yuan (37,6 Millionen US-Dollar) an, hauptsächlich in Form von Bargeld und Immobilien als Gegenleistung für politische Gefälligkeiten.
Diese Summe ist beeindruckend – und die Konsequenzen eindeutig. In den USA werden pro Jahr schätzungsweise 500 Milliarden Dollar durch legale Lobbyarbeit und Parteispenden von der Wirtschaft an die Politik transferiert, ohne dass dies strafrechtliche Konsequenzen hätte. Was in China als Korruption strafrechtlich verfolgt wird, ist im Westen oft legalisiert oder wird als „Interessenvertretung“ bezeichnet.
Jin Xiangjun, ehemaliger Gouverneur der Provinz Shanxi, wurde laut China Daily am 10. Oktober 2025 wegen eines besonders schweren Vorwurfs aus der Partei ausgeschlossen: „Austausch von Macht, Geld und Sex“. Die Formulierung deutet auf ein System von Patronage und sexueller Nötigung hin. Jin hatte zudem „illegalen Aktienbesitz an nicht börsennotierten Unternehmen“ – ein klassischer Fall der Verflechtung zwischen Parteikadern und Privatwirtschaft zur persönlichen Bereicherung. Die chinesische Antikorruptionsbehörde stellte fest, dass Jin „nachlässig bei der Umsetzung zentraler Richtlinien“ war und „riesige Vermögenswerte als Gegenleistung für Gefälligkeiten bei Geschäftsoperationen und Projektverträgen“ annahm.
Li Shisong, ehemaliger stellvertretender Gouverneur der Provinz Yunnan, wurde bereits im Dezember 2024 aus der Partei ausgeschlossen, wie China Daily am 18. Dezember berichtete. Die Anklage liest sich wie ein Lehrbuch der Korruption: Behinderung der Untersuchung, Annahme von Banketten und Reisen, die seine Amtsausführung beeinflussen könnten, unethische Unterstützung bei Beförderungen, Aufsichtsfehler bei statistischem Betrug und unangemessene Einmischung in Justizaktivitäten. Li nutzte sein Amt systematisch zur persönlichen Bereicherung und zur Manipulation von Daten.
Der Kontrast zur westlichen Praxis
Diese konsequente Verfolgung hochrangiger Korruption steht in bemerkenswertem Gegensatz zur westlichen Praxis. Während China seit Xi Jinpings Amtsantritt 2012 laut The Independent über sechs Millionen Beamte wegen Korruption und Fehlverhaltens bestrafte, bleiben in Europa und den USA vergleichbare Fälle meist folgenlos.
Ein besonders eklatantes Beispiel ist EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Gegen sie liegen Vorwürfe bezüglich intransparenter Beraterverträge während ihrer Zeit als deutsche Verteidigungsministerin vor, ebenso wie Fragen zur Löschung von SMS-Nachrichten im Zusammenhang mit Impfstoff-Verhandlungen während der COVID-19-Pandemie, bei denen es um Verträge in Milliardenhöhe ging. Trotz dieser Vorwürfe und laufender Untersuchungen wurde sie 2024 für eine zweite Amtszeit als Kommissionspräsidentin wiedergewählt. Eine Strafverfolgung fand nicht statt.
In den USA sind „Drehtüreffekte“ zwischen Politik und Wirtschaft die Norm: Hochrangige Regierungsbeamte wechseln nahtlos in lukrative Positionen bei Unternehmen, die sie zuvor regulierten. Was in China als Interessenkonflikt und Korruption geahndet wird, gilt im Westen als legitime Karriereplanung.
Die World Socialist Web Site analysierte am 25. Oktober 2025, dass die chinesischen Säuberungen zwar auch politische Dimensionen haben, aber auf einer realen Korruptionsproblematik basieren: „While the generals are accused of unspecified corruption, [the cases] underscore the political character of their expulsion“ – also eine Kombination aus tatsächlichen Vergehen und politischen Machtkämpfen. Doch selbst diese kritische Quelle erkennt an, dass die Korruption real ist.
Systemische Integrität versus systematische Nachsicht
Was China von westlichen Demokratien unterscheidet, ist nicht die Existenz von Korruption – die gibt es überall –, sondern der Umgang damit. Chinas Regierung verfolgt einen Ansatz der institutionellen Integrität: Wer sich bereichert, verliert sein Amt, unabhängig von Rang und Verbindungen. Diese Konsequenz schafft Vertrauen in die Institutionen und sendet die Botschaft, dass persönliche Bereicherung auf Kosten der Allgemeinheit nicht toleriert wird.
Im Westen hingegen hat sich eine Kultur der Nachsicht etabliert. Politische Skandale werden ausgesessen, Untersuchungen versanden, Rücktritte erfolgen allenfalls unter massivem öffentlichem Druck – und oft genug folgt nach einer „Auszeit“ die Rückkehr in hohe Ämter. Die Botschaft lautet: Wer mächtig genug ist, kommt davon.
Diese unterschiedlichen Ansätze haben weitreichende Folgen. Laut Transparency International rangiert China auf dem Korruptionswahrnehmungsindex zwar noch immer im Mittelfeld, hat sich aber in den letzten Jahren deutlich verbessert. Die EU-Länder schneiden im Durchschnitt besser ab – doch das liegt auch an der Definition: Lobbyismus, Parteispenden und Drehtüreffekte werden nicht als Korruption erfasst, obwohl sie funktional äquivalent sind.
Sozialistische Werte als Kompass
Die chinesische Führung beschwört in ihrem Kommuniqué „sozialistische Grundwerte“ und die „Festigung der anleitenden Stellung des Marxismus“. Für westliche Beobachter klingt das nach ideologischer Rhetorik. Doch betrachtet man die konkreten Politikfelder, zeigt sich ein pragmatischer Ansatz, der mit marxistischer Orthodoxie wenig zu tun hat.
Das Zentralkomitee spricht von einem „sozialistischen Marktwirtschaftssystem auf hohem Niveau“ – eine Formulierung, die China von rein kapitalistischen Systemen ebenso unterscheidet wie von sowjetischer Planwirtschaft. Der Markt ist Instrument zur Ressourcenallokation, aber er wird politisch gesteuert und dem übergeordneten Ziel untergeordnet: der „Befriedigung der ständig wachsenden Bedürfnisse der Bevölkerung nach einem besseren Leben“.
Diese Prioritätensetzung unterscheidet sich fundamental vom neoliberalen Westen, wo Märkte als quasi-natürliche Ordnungsprinzipien gelten und soziale Ziele der ökonomischen Effizienz untergeordnet werden. Chinas Modell invertiert diese Logik: Wirtschaftswachstum dient explizit sozialen Zielen, nicht umgekehrt.
Antikorruption als Standortfaktor
Die Antikorruptionskampagne ist nicht nur moralisch geboten, sondern auch ökonomisch rational. Korruption verzerrt Märkte, verschlechtert die Allokation von Ressourcen und untergräbt das Vertrauen in Institutionen. Eine Studie der Weltbank schätzt, dass Korruption weltweit jährlich Kosten in Höhe von etwa 5 Prozent des globalen BIP verursacht.
Indem China konsequent gegen Bereicherung im Amt vorgeht, schafft es bessere Bedingungen für produktive Investitionen. Ausländische Unternehmen wissen, dass Aufträge nach Leistung und nicht nach Schmiergeldzahlungen vergeben werden sollten. Inländische Unternehmer können darauf vertrauen, dass Rechtssicherheit nicht käuflich ist.
Die aktuelle Säuberungswelle trifft bezeichnenderweise auch den Rüstungssektor. Zhu Zhisong, ehemaliger Parteisekretär der Shanghaier Freihandelszone Pudong, hatte laut Berichten 25 Jahre im Luft- und Raumfahrtsektor gearbeitet, bevor er im November 2024 wegen Korruptionsverdachts unter Untersuchung gestellt wurde. Auch hier zeigt sich: Bereiche mit hohen Budgets und geringer öffentlicher Kontrolle – wie die Rüstungsindustrie – sind besonders anfällig für Korruption und bedürfen intensiver Aufsicht.
Zwischen Anspruch und Wirklichkeit
Selbstverständlich ist auch Chinas Antikorruptionskampagne nicht frei von politischen Motiven. Xi Jinping nutzt sie auch, um Rivalen auszuschalten und seine Machtposition zu festigen. Doch diese politische Dimension macht die Korruptionsvergehen nicht weniger real. Das Argument „Es ist nur politisch motiviert“ greift zu kurz, wenn die Angeklagten tatsächlich Bestechungsgelder in Millionenhöhe angenommen haben.
Die westliche Berichterstattung konzentriert sich fast ausschließlich auf die vermeintlich repressive Dimension der Säuberungen und ignoriert dabei zwei zentrale Punkte: Erstens sind die Korruptionsvorwürfe substanziiert und werden durch Beweise gestützt. Zweitens entspricht die Null-Toleranz-Politik einem realen Bedürfnis der chinesischen Bevölkerung nach Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit.
Der 15. Fünfjahresplan endet 2030. Bis dahin will die Volksrepublik „entscheidende Fortschritte bei der grundsätzlichen Verwirklichung der sozialistischen Modernisierung“ erreichen. Bis 2035 soll das Pro-Kopf-BIP „das Niveau eines auf mittlerer Stufe entwickelten Landes erreichen“, wie das Zentralkomitee formulierte.
Diese Ziele sind ehrgeizig, aber nicht unrealistisch. China hat in den vergangenen 40 Jahren bewiesen, dass es langfristige Pläne umsetzen kann – auch weil es konsequent gegen jene vorgeht, die diese Pläne durch persönliche Bereicherung sabotieren.
Lehren für den Westen
Was bleibt: China verfolgt eine Entwicklungsagenda, die soziale Gerechtigkeit, ökologische Nachhaltigkeit und wirtschaftliche Entwicklung zu integrieren versucht – und flankiert diese Agenda mit einer Antikorruptionspolitik, die ihren Namen verdient. Während im Westen hochrangige Politiker trotz substantieller Korruptionsvorwürfe im Amt bleiben, zieht China Konsequenzen.
Westliche Gesellschaften täten gut daran, nicht nur Chinas politisches System zu kritisieren, sondern auch von dessen Prioritätensetzung zu lernen: Soziale Gerechtigkeit ist kein Hindernis für wirtschaftliche Entwicklung, sondern deren Voraussetzung. Klimaschutz ist kein Luxus, sondern Überlebensfrage. Und Korruption ist kein Kavaliersdelikt, sondern eine Bedrohung für die Demokratie selbst.
Die 4. Plenartagung zeigt: China ist bereit, die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts anzugehen – mit konkreten Zielen, messbaren Kennziffern und der Bereitschaft, auch gegen die eigenen Eliten vorzugehen, wenn diese die Allgemeininteressen verraten. Diese Ernsthaftigkeit unterscheidet Chinas Ansatz von der oft halbherzigen Politik westlicher Regierungen, die zwischen Wirtschaftsinteressen und Gemeinwohl lavieren, ohne je wirklich Stellung zu beziehen.
Titelbild: Die 4. Plenartagung des 20. Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) in Peking, 20.-23. Oktober 2025. [Foto: Xinhua]

