Das bewegte Leben von Fatos Nano
Am 31. Oktober starb ein Politiker, der Albanien vom Realsozialismus eines Enver Hoxha in die neoliberale Demokratie führte und dabei selbst unter die Räder kam.
Von Andreas Pittler
Als Fatos Nano am 16. September 1952 in Tirana zur Welt kommt, ist sein Heimatstaat, die Volksrepublik Albanien, noch ein braves Mitgliedsland im von der UdSSR dominierten Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe. In Moskau bereitet man den XIX. Parteitag der KPdSU vor, der sich zwei Wochen später in schier endlosen Elogen auf Generalissimus Stalin ergehen wird, zu dessen größten Fans das Triumvirat an der Spitze der albanischen KP zählt. Enver Hoxha, Hysni Kapo und Mehmet Shehu sind so von Stalin begeistert, dass sie mit der Sowjetunion brechen, als diese ab 1956 eine, ohnehin nur halbherzige, Ent-Stalinisierung betreibt. Die Albaner verbünden sich mit Maos Volksrepublik China, die gleich den Skipetaren das Erbe Stalins hochhält. Als die Chinesen aber nach Maos Tod ebenfalls in Richtung Revisionismus abdriften, da brechen die Albaner auch mit ihnen, um sich die letzten 15 Jahre des realen Sozialismus allen Ernstes für das einzig authentisch marxistisch-leninistische Land der Welt zu halten. Wer nicht jede These von Enver Hoxha vollinhaltlich teilt, der ist bereits ein Titoist, ein Chruschtschowianer oder überhaupt ein Agent westlich-imperialistischer Geheimdienste – mit entsprechend brutalen Folgen für den der Abweichung Verdächtigen.
Derlei freilich hat der junge Nano nicht zu befürchten. Er ist der Sohn von Thanas Nano, dem Sprachrohr Enver Hoxhas als Direktor der albanischen Rundfunkanstalt RTSh und zudem der Neffe von Dhimiter Shuteriqi, dem Vorsitzenden des albanischen Schriftstellerverbandes. Derart in der sozialistischen Elite verankert, ist Nanos Weg an die Spitze vorgezeichnet. Er besucht die der sozialistischen Nomenklatura vorbehaltene Sami-Frasheri-Hochschule und wird nach erfolgter Graduierung erst einmal aufs Land geschickt, wo er sich mit Fragen der Metallurgie ebenso wie mit neuen Anbaumethoden auseinandersetzen muss, ehe er nach Tirana zurückgeholt wird, wo er am Institut für Marxismus-Leninismus (IML) unter direkter Anleitung von Nexhmije Hoxha, Envers Frau, die Weiterentwicklung marxistisch-leninistischer Konzeptionen zu verantworten hat. Ihm verdankt Albanien so vergängliche Werke wie „Die Sowjetunion, ein kapitalistisches, imperialistisches Land“ (1988) und eine grundlegende Darstellung des „Sozialimperialismus“ (1987), die Nano nur wenige Jahre später gerne vergessen gemacht hätte.
Von Envers Pyramide zu Berishas Pyramidenspiel
Ende 1989 ist selbst den starrsinnigsten Ideologen klar, dass sich der Sozialismus Marke „Realsoz“ nicht mehr halten kann. Eine Partokratie nach der anderen bricht in sich zusammen, während die albanische KP stur an ihrem Hoxha-Kult festhält, dessen Pyramide im Zentrum Tiranas mehr und mehr einer religiösen Kultstätte gleicht. Doch Hoxhas Nachfolger als Staats- und Parteichef, Ramiz Alia, erkennt, dass auch von seinem Regime Reformen erwartet werden. Er macht sich auf die Suche nach einem jungen, nicht diskreditierten Apparatschik, der glaubwürdig einen Politikwechsel verkörpern kann. Er findet ihn in Nano, der zunächst Vizepremier und im Februar 1991 letzter Regierungschef der Volksrepublik wird.
Und Nano weiß, was die Bürokratie von ihm erwartet. Er lässt die Bildung antimarxistischer Parteien zu, setzt aber zeitgleich Neuwahlen an, die es den neuen Gruppen verunmöglichen, gegen die alt-eingesessene PPSh (Partei der Arbeit Albaniens) zu bestehen. Dementsprechend erhält die PPSh 170 der 250 Mandate, von allen anderen Wahlwerbern ziehen nur die Demokraten des ehemaligen Leibarztes von Enver Hoxha und die Partei „Omonia“ der griechischen Minderheit ins Parlament ein. Nano nutzt den Triumph und entledigt sich umgehend aller politischen Altlasten. Das gesamte Politbüro (dem Nano niemals angehörte) wird aus der Partei ausgeschlossen, die Partei in „Sozialistische Partei“ umbenannt, und Nano wird nach Hoxha (1941-1985) und Alia (1985-1991) der dritte Vorsitzende der albanischen Arbeiterpartei. Umgehend knüpft er Kontakte zur Sozialistischen Internationale von SPÖ, SPD & Co. und schafft es 1992, seine SPA dort Mitglied werden zu lassen.
Zu diesem Zeitpunkt hängt aber Nanos Regierung schon nachhaltig in den Seilen. Der Westen, allen voran die USA und Italien, werden nicht müde, in Albanien politisch zu intervenieren. Sie unterstützen den exzentrischen Leibarzt, Sali Berisha, finanziell und ideologisch, der seine Landsleute dazu aufruft, die SP-Regierung notfalls mit Gewalt zu stürzen. Berisha setzt dabei auf die altbewährte Taktik von Rechtsextremen, indem er einerseits durch eine Reihe von Tumulten das Parlament erfolgreich daran hindert, notwendige soziale Verbesserungen ins Werk zu setzen, während er andererseits auf Massenveranstaltungen der Regierung wortreich Untätigkeit vorwirft. Und da sich die „Demokraten“ jedweden Kompromisses verweigern, verliert die SP schließlich die Nerven und setzt im Frühjahr 1992 vorzeitige Neuwahlen an, die sie prompt haushoch verliert.
Die Stunde des bürgerlichen Sieges ist gleichzeitig der Moment der Abrechnung. Berishas Regime geht sofort mit aller Brutalität gegen alles und jeden vor, der mit der alten Volksherrschaft in Verbindung gebracht werden kann. Staatspräsident Ramiz Alia wird zum Rücktritt gezwungen und nur wenig später ebenso verhaftet wie der nunmehrige Ex-Premier Fatos Nano und dessen Vorgänger Adil Carcani. Allen wird „Machtmissbrauch“, „Bereicherung“ und, natürlich, „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ vorgeworfen. Die Prozesse verlaufen derart absurd, dass sie nicht nur von Amnesty International oder „Human Rights Watch“, sondern sogar von der Interparlamentarischen Union als rein politisch motivierte Schauprozesse kritisiert werden. Alia, Nano und Co. gelten allerorten als „politische Gefangene“, was freilich dem neuen Diktator Berisha nicht anficht, der sich der Unterstützung der USA auch weiterhin gewiss sein kann.
Unter US-amerikanischer Anleitung wurde das albanische Wirtschaftssystem grundlegend umgewandelt. Alles, was irgendeinen Kapitalisten interessieren konnte, wurde postwendend privatisiert, den massenweise arbeitslos gewordenen Werktätigen versprach man schnellen Reichtum durch Investitionen in diverse Pyramidenspiele. Und wie bei solchen Konstrukten üblich, erhielten anfänglich einige Wenige tatsächlich ansehnliche Renditen, was viele verzweifelte Albaner dazu veranlasste, die letzten Geldreserven ebenfalls in solche Spekulationen zu stecken.
Als diese freilich unweigerlich platzten und zigtausende Familien unwiderruflich ruinierten, reagierten die Albaner mit einen bewaffneten Aufstand. Berisha und sein Regime wurden mit Waffengewalt gestürzt, die politischen Gefangenen, unter ihnen eben auch Nano, kamen frei, und nach einer kurzen Zeit der Anarchie, in der die Gefahr eines nachhaltigen Bürgerkriegs durchaus im Bereich des Möglichen lag, gelang es Nano, die Lage wieder zu stabilisieren. Er gewann die Wahlen 1997 haushoch (100 von 140 Mandaten, dazu noch neun von den mit ihm verbündeten Sozialdemokraten) und wurde, quasi aus dem Gefängnis heraus abermals Premier.
Durchwachsener Neubeginn
Aber er übernahm ein in jeder Hinsicht gescheitertes Staatswesen. Nicht nur, dass Albanien völlig bankrott war, Berisha hatte das Land auch inhaltlich zutiefst gespalten. Neben dem scharfen Gegensatz zwischen links orientierten SP-Anhängern und stark antikommunistisch geprägten Demokraten kam nun auch der religiöse Konflikt erstmals nach 1945 wieder zum Tragen, da Berisha zur Absicherung seiner Macht seinen „Islam“ für sich entdeckt hatte, wodurch er Nano, der formal orthodoxer Christ war, zusätzlich desavouieren konnte. Albanien wurde dadurch auch zum Spielball zwischen dem benachbarten Griechenland, das mit Nanos Minderheitenpolitik gegenüber den Griechen gute Erfahrungen gemacht hatte, und der Türkei, die ihre einstige Dominanz über den Balkan wiederherzustellen bestrebt war.
Berisha wurde immer unduldsamer und tolerierte einen Putsch-Versuch seiner Anhänger im September 1998, in dessen Zuge ein Mordversuch an Nano unternommen werden sollte, dem Nano jedoch entkam. Der Premier erkannte, dass er nicht in der Lage war, das Land dauerhaft zu stabilisieren, und so trat er noch 1998 von seinem Amt zurück. Allerdings blieb er weiterhin Parteichef der SPA, sodass er seinen Nachfolger als Premier politisch anleitete, ehe Nano nach dem neuerlichen Wahlsieg der SPA im Sommer 2001 erneut das Amt des Regierungschefs übernahm.
Seine Gegner wurden nicht müde, ihn wo immer möglich zu diskreditieren. So wurde er in einem italienischen Magazin in die Nähe der organisierten Kriminalität gerückt, weil er, so der Vorwurf, von einem umfangreichen Zigarettenschmuggel der Mafia finanziell profitiert habe. Nano klagte umgehend und erhielt vom römischen Gericht umfassend recht. Das Magazin musste 3 Millionen Euro Schadenersatz zahlen, nachdem es ihm nicht gelungen war, irgendeine Verbindung zwischen Nano einer- und der Mafia andererseits auch nur im Ansatz zu beweisen. Der Prozess freilich zeigte, wie vergiftet das Klima in Albanien war. Es brauchte ein ums andere Mal nur einen klitzekleinen Anlass, und die Spannungen entluden sich in gewalttätigen Auseinandersetzungen. Diesmal behielt Nano jedoch die Nerven und regierte bis zum regulären Wahltermin im Sommer 2005, wobei seine Bilanz freilich durchwachsen war. Zu sehr hatte er sich seine Politik vom Weltwährungsfonds und von der EU diktieren lassen, sodass die soziale Kluft zwischen Neureichen und der breiten Masse nicht kleiner, sondern im Gegenteil größer wurde. Albanien mutierte mehr und mehr zum kapitalistischen Hinterhof, in dem gierige Multis ihr dubioses Süppchen kochten. Mehr und mehr Albaner sahen in der Heimat keine Perspektive mehr und emigrierten nach Italien, nach Deutschland oder in die Schweiz. Die Stimmung blieb trübe, sodass es letztlich nicht wirklich verwunderte, dass Nano die Wahlen 2005 verlor.
Unruhestand
Nano war zu diesem Zeitpunkt gerade erst 53 Jahre alt, aber in den Augen seiner Landsleute und vor allem auch seiner Parteifreunde war er jemand, dem man keine Zukunft mehr zubilligte. Er zog aus diesem Urteil die Konsequenzen und trat nach 14 Jahren als Parteichef zurück, um sich ins Privatleben zurückzuziehen. Lange freilich hielt er es dort nicht aus. Schon zwei Jahre später nutzte er den Umstand, dass turnusgemäß Präsidentenwahlen anstanden, sich von der SPA als Kandidat aufs Schild heben zu lassen. Sein Nachfolger als Parteichef, der ehemalige Tiraner Bürgermeister Edi Rama, sah darin allerdings keinen Sinn, da der Präsident in Albanien vom Parlament gewählt wird, in dem nach 2005 die Demokraten die Mehrheit hatten. Rama entschied sich daher dazu, die Wahlen durch Abwesenheit seiner Mandatare zu boykottieren. Drei Abgeordnete wählten Nano trotzdem. Was nichts daran änderte, dass Berishas Mann neues Staatsoberhaupt wurde.
Nano nahm seinem Nachfolger dessen Haltung nachhaltig übel, und so entschloss er sich 2012, mittlerweile 60 Jahre alt, eine eigene Partei ins Leben zu rufen, die er „Nanos Bewegung für den Sieg des Sozialismus“ taufte. Doch nunmehr war die Zeit über Nano endgültig hinweggeschritten. Die Partei blieb eine Schimäre und übte keinerlei Einfluss auf die albanische Innenpolitik aus. Nano erkannte schließlich selbst sein Scheitern und zog sich nach dem triumphalen Wahlsieg Ramas 2013 endgültig aus der Politik zurück. Rama verteidigte 2017, 2021 und 2025 dreimal souverän die absolute Mehrheit der SPA, und Nano geriet darüber vollends in Vergessenheit. Ins Licht der Öffentlichkeit trat Nano erst wieder, als er Ende Oktober 2025 infolge einer sich stark verschlechtert habenden COPD-Erkrankung in ein Tiraner Krankenhaus verbracht wurde, wo er wenige Tage später starb.
Titelbild: Fatos Nano (© European Union, 2025; CC BY 4.0) mit Flagge von Albanien (pxhere.com, lizenzfrei)

