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Massenmord an der Tagesordnung

Im Durchschnitt 20 Mal im Jahr kommt es im mächtigsten kapitalistischen Land der Erde zu Massenschießereien mit unzähligen Todesopfern – Tendenz steigend. In gewisser Weise sind in den USA Morde und Massenmorde nichts Außergewöhnliches.

Ein Kommentar von Hannes A. Fellner*

Zwar ist die Öffentlichkeit nach jedem größeren „shooting“ schockiert, diese Art von Gewaltentladung hat aber eine solche Alltäglichkeit, dass die Menschen sehr schnell wieder von diesen Tragödien abgelenkt sind und sich auch gerne ablenken lassen. Doch dann passiert es wieder und wieder. Und jedes Mal verstehen die PolitikerInnen, die MedienvertreterInnen und viele Menschen auf den Straßen der Vereinigten Staaten erneut nicht, wie es zu derlei Ausbrüchen von Gewalt kommen konnte.

Schuldige findet man schnell. Zuerst einmal, versteht sich, der in irgendeiner Weise geistig derangierte Einzeltäter – in den letzten Jahren überwiegend junge weiße Menschen aus der Mittelschicht zwischen dem Ende der Teenagerzeit und dem Beginn ihrer Dreißiger -, dann natürlich brutale Computerspiele, exzessive Rock’n’Roll und Heavy Metal Musik, anrüchige Publikationen, Gewaltfilme, das IT, die liberale Waffengesetzgebung, Atheismus…

Nun es gibt auch andere Länder, in welchen es brutale Computerspiele, exzessive Rock’n’Roll und Heavy Metal Musik, anrüchige Publikationen, Gewaltfilme, das IT, eine liberale Waffengesetzgebung und Atheismus gibt. Passieren in einem Land, auf welches alle diese Dinge zutreffen und das vergleichbar mit den USA ist – etwa Kanada – derlei Gewaltexzesse mit einer beinahe vorhersagbaren Regelmäßigkeit? Die Antwort ist nein. Was also stimmt nicht mit den USA?

Die USA, in deren Gesellschaft die sozialen Unterschiede größer und ausgeprägter sind als im antiken Rom, ist ein Dritte-Welt-Land mit der Fassade eines modernen Industriestaates. Was in den Vereinigten Staaten mit im Grunde rassistischen „USA – Still No. 1“-Parolen, Hurra-Patriotismus und „american dream“-Rhetorik übertüncht werden soll, ist das Faktum, dass die ökonomischen und sozialen Widersprüche des Krisenkapitalismus dieses Land auf allen Ebenen barbarisieren und entmenschlichen.

Die US-Gesellschaft wird nur mit Mühe und Not, mit Angst und Gewalt zusammengehalten. Unter der Oberfläche der „nation under god“ brodelt ein Vulkan, dessen Ausbruch sich in Vorbeben wie der massenhaften Erschießungen von Angehörigen der Minderheiten durch „Ordnungs“organe oder „school shootings“ ankündigt.

Muss man sich über derlei Explosionen sinnloser Gewalt wundern, in einem Land, das historisch auf dem Völkermord an den Ureinwohner des amerikanischen Kontinents und mit dem Blut von Arbeits- und Lohnsklaven aus Afrika und der europäischen Peripherie aufgebaut ist?

Muss man sich über derlei Explosionen sinnloser Gewalt wundern, in einem Land, dessen Militärisch-Medial-Industrieller Komplex im In- und Ausland, Angst schürt, Krieg führt, unzählige Menschen weltweit direkt wie indirekt bedroht, drangsaliert, foltert und mordet?

Muss man sich über derlei Explosionen sinnloser Gewalt wundern, in einem Land, dessen Außenpolitik seit über einem Jahrhundert weitestgehend von ökonomischer und militärischer Kriegsführung und dem Wunsch nach absoluter globaler Dominanz bestimmt ist, die es mit allen Mitteln durchzusetzen bereit ist?

Muss man sich über derlei Explosionen sinnloser Gewalt wundern, in einem Land, in dem Polizei- und Behördenwillkür und -brutalität an der Tagesordnung sind, in welchem die physische Liquidierung oder das Verschwindenlassen von oppositionellen und unliebsamen Bürgern spätestens seit dem Erwachen der US-amerikanischen Arbeiter- und später Bürgerrechtsbewegung Normalität sind?

NEIN. Man muss sich wundern, warum derlei Explosionen sinnloser Gewalt nicht viel öfter passieren.

In einer Zeit, in welcher die US-Regierung unzählige geheime und nicht wenige offene Kriege führt, versucht der „Onkel Tom“ im Weißen Haus, sich krampfhaft Tränen aus den Augen zu drücken, wenn er über die immer wiederkehrenden Schulmassenmorde, spricht. Der Friedensnobelpreisträger wird wohl schon irgendwie betroffen gewesen sein, schließlich waren es ja US-AmerikanerInnen, die sinnlos dahin gemordet wurden, keine Pakistanis, AfghanInnen, Irakis, SyrerInnen oder PalästinenserInnen, deren in regelmäßigeren Abständen wie die „school shooting“ vorkommende Ermordung durch US-Drohnen, GIs und ihre Verbündeten – nach dem Verhalten von US PolitikerInnen und MedienvertreterInnen nach zu urteilen – ja gar nicht so schlimm zu schein scheint.

Die bittere, naive US-BürgerInnen besonders treffende Ironie an dem abermaligen Massenmord ist, dass er sich just wieder in einer Gegend zugetragen hat, in welcher die überwiegende Mehrzahl der Menschen zur weißen Mittelschicht gehört (wenn auch die Arbeitslosigkeit bei 10% ist und ebenso viele Menschen unter der Armutsgrenze leben). Diese Art von Brutalität und Gewalt, welche die weißen US-AmerikanerInnen sonst nur über die Medien aus dem bäuerlich-tristen Mittleren Westen, den „white trash trailer parks“ des Südens oder den afroamerikanischen und Einwanderer Ghettos von Los Angeles kennen, erwarten sie in solchen Gegenden nicht unbedingt.

Die Jugendlichen der zunehmender Deklassierung ausgesetzten US-Mittelschichten, welche den Konkurrenzdruck des perversen US-„Bildungssystems“ nicht ertragen wollen oder können und für sich keine Perspektive in einer in die ökonomische Unsicherheit und soziales Chaos taumelnden Gesellschaft erblicken, sehen keinen anderen Ausweg als zum erweiterten Suizid zu greifen. Die Art und Weise, in welcher dies passiert, könnte inspiriert von Hollywood und Abu Ghuraib und gespeist von der Vereinzelung und Verrohung einer siechenden entsolidarisierten Gesellschaft nicht US-amerikanischer sein.

Ändert sich nichts an den Verhältnissen in den USA und anderswo – und leider sieht es derzeit eher nach noch weiterer Verschärfung der Widersprüche in der Welt aus -, werden derlei zum Massenmord erweiterte Suizide weiterhin zur Tagesordnung gehören wie Hunger und Armut, Ausbeutung und Unterdrückung, Umweltzerstörung und Ressourcenvernichtung, Morden und Krieg zum Alltagsgeschäft der kapitalistischen Gesellschaft gehören.

*Hannes A. Fellner hat sechs Jahre in den USA gelebt und gearbeitet

Bildquelle: humansarefree.com

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