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„Taubstumm? Das macht mich sprachlos!“

zeichenZum internationalen Tag der GehörlosenVon Hannah Wahl

Als ich meinen StudienkollegInnen von meiner Absicht berichtete, Gebärdensprache lernen zu wollen, zeigten sich viele erstaunt: „Hast du jemand gehörloses in der Familie?“ – „Nein, hab ich nicht.“ Zuvor hatte ich Spanisch am Sprachenzentrum belegt, jetzt möchte ich eben die Österreichische Gebärdensprache (ÖGS) lernen. So wie ich mich für Spanisch interessiere, empfinde ich auch ÖGS als eine ästhetische Sprache mit spannender historischer und gesellschaftlicher Dimension. Immer noch scheint ÖGS etwas Exotisches zu sein, und das auch noch 11 Jahre nach seiner formalen Anerkennung als eigene Sprache.

Die ÖGS ist die Muttersprache von ca. 8.000 bis 10.000 ÖsterreicherInnen (1). Wer glaubt, es handle sich bei der Gebärdensprache um eine internationale Sprache, der täuscht sich. Sie unterscheidet sich nicht nur von Land zu Land; auch innerhalb der Nationalgrenzen gibt es, genauso wie im österreichischen Deutsch, Dialekte und regionale Besonderheiten. Die Gebärdensprache unterliegt dabei einer eigenen historisch-linguistischen Entwicklung. So kann es sein, dass eine ehemals gebräuchliche Gebärde mittlerweile aus dem Sprachgebrauch verschwunden ist. Es existieren sogar regionale Jugendsprachen. Das Sprachsystem der visuell-manuellen Gebärdensprache ist gegenüber dem Sprachsystem der phonetischen Sprachen als völlig gleichrangig anzusehen. Mit der Gebärdensprache kann alles gänzlich ausgedrückt werden, sie hat eine eigene Syntax und Grammatik. Entgegen mancher Annahmen handelt es sich auch nicht um eine konstruierte, sondern um eine sich natürlich entstandene Sprache, die – ebenso wie phonetische Sprachen – dem aktuellen Sprachwandel unterliegt. Zur internationalen Verständigung kommt zwischen Gebärdensprechenden die American Sign Language (ASL), die British Sign Language (BSL) oder die International Sign Language zum Einsatz. Die früher weit verbreitete Bezeichnung von Gehörlosen als „Taubstumme“ ist also schlicht und ergreifend falsch. Man ist gehörlos, aber nicht stumm. Stumm wird man gemacht.

Stumm wurden Gehörlose insbesondere in der Zeit des Nationalsozialismus gemacht, als Gehörlose  – wie auch Menschen mit anderen Beeinträchtigungen – als „lebensunwert“ galten, von Zwangssterilisation betroffen waren und der Euthanasie zum Opfer fielen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Gehörlose in Schulen in Lautsprache unterrichtet, die Gebärdensprache war kein Thema. Im Vordergrund stand in den Bildungseinrichtungen das Erreichen der Fähigkeit sich oral auszudrücken und nicht das Vermitteln von grundlegenden Schulwissen, wie es einem hörenden Kind im gleichen Alter vermittelt wurde. Bis heute ist der Unterricht in vielen Gehörlosenschulen darauf ausgerichtet, den SchülerInnen die deutsche Lautsprache beizubringen, der bilinguale Unterricht stellt immer noch eine Ausnahme dar. Der „Österreichische Gehörlosenbund“ wurde 1913 als „Reichsverband der Taubstummenvereine Österreichs“ gegründet. Vergleichsweise spät, Ende 1980er Jahre, begann in Österreich der Kampf um Emanzipation und ein selbstbestimmtes Leben. Zentrale Forderungen waren die Anerkennung der Gebärdensprache als eigene Sprache und die Verbesserung der Bildungs-, und Arbeitssituation von Gehörlosen.

Eine Studie von 2006/2007 über das Bildungswesen für gehörlose und hörbehinderte Menschen ergab, dass hier immer noch enormer Reformbedarf besteht. Chancengleichheit sei nicht immer gegeben und vor allem im Spracherwerb und bei der Akzeptanz der Hörbehinderung durch hörende LehrerInnen und BildungspolitikerInnen seien Verbesserungen notwendig.

Auch heutzutage ist der Bildungsunterschied zwischen Hörenden und Gehörlosen nicht überwunden. Als Gründe können unter anderem der mehrheitlich lautsprachliche Unterricht von Gehörlosen oder der häufig negativ begriffene Sonderschulstatus der Gehörlosenschulen genannt werden. Immer noch vorhanden, aber langsam rückläufig, sind die mittlerweile wissenschaftlich entkräfteten Vorurteile, die Gebärdensprache würde beim Lernen der Lautsprache behindern und/oder gar keine „richtige“ Sprache sein. Auf gesellschaftlicher Ebene ist festzustellen, dass immer noch ein Mangel an Sensibilisierung für Gehörlose – wie auch für andere Beeinträchtigungen – herrscht. Trotz der geringen körperlichen Beeinträchtigung stoßen Gehörlose immer wieder auf eine wesentliche Barriere: Die Kommunikation mit Hörenden, der Mehrheitsgesellschaft.

Karina Theiß (27): „Und dann stehst du da, willst ein Wurschtsemmerl bestellen. Die Dame versteht dich nicht gleich. Du versuchst es nochmal. Deutest so eindeutig wie möglich. Wos wüst? hat sie mich dann gefragt. Ein Wurschtsemmerl! Sie verliert schließlich die Nerven, wendet sich ab, und bedient den Kunden hinter mir. Natürlich passiert so etwas nicht immer, es gibt auch zahlreiche positive Geschichten. Dass Leute sich bemühen langsam mit mir zu reden, damit ich besser von den Lippen ablesen kann. Und dann gibt’s noch diejenigen, die dann beginnen mit dir zu schreien, damit du sie verstehst. Dann muss ich oft schmunzeln.“

David Gassner (25): „Viele glauben, dass man auch geistig beeinträchtigt ist. Das merkt man im Umgang einfach. Und der ist nicht immer so super. Das ist ja auch bedenklich, dass man mit geistig Beeinträchtigten so umgeht. […] Barrieren sind halt auch oft dort, wo sie nicht sein müssten. Zum Beispiel, wenn du am Flughafen bist, und eine Gateänderung zunächst nur durch die Lautsprecher angekündigt wird. Natürlich ist das lästig. […] Und ich bin überrascht, wie viele noch von Taubstummen reden. Taubstumm? Das macht mich sprachlos! Genauer gesagt rede ich wie ein Wasserfall. Wir dürfen nicht nur darauf hoffen, dass sich Vorurteile bald in Luft auflösen. Wir müssen uns auch aktiv dafür einsetzen.“

Erst 2005 wurde die ÖGS mit dem Artikel 8/Absatz 3 des Bundesverfassungsgesetzes als eigene Sprache anerkannt. Die UN-Behindertenrechtskonvention, das Bundesbehindertengleichstellungsgesetz (BGstG) und das Behindertengleichstellungsgesetz (BEinstG) sollen die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen garantieren. Trotzdem sind Gehörlose weiterhin Diskriminierungen ausgesetzt. So gibt es beispielsweise keine Gesetze, die das Recht auf eine Bildungseinrichtung, in der ÖGS vermittelt wird, festlegen. Der Österreichische Gehörlosenbund (ÖGLB) setzt sich deshalb für die Gleichstellung der ÖGS mit gesprochenen Sprachen ein. Er fordert weiters das Recht auf Bildung in der Muttersprache und auf barrierefreies Lernen: „Zweisprachige Erziehung in ÖGS und Deutsch von Anfang an wird den Bedürfnissen gehörloser und schwerhöriger Kinder am besten gerecht. Das bedeutet: Die Österreichische Gebärdensprache muss gleichrangig mit Deutsch Unterrichtssprache werden. Noch ist das in Österreich die große Ausnahme und keinesfalls die Regel. Außerdem sollen gehörlose Kinder in einem eigenen Fach ÖGS die höchstmögliche Kompetenz in ihrer Muttersprache erwerben, wie Kinder mit deutscher Muttersprache auch.“ Eine barrierefreie Teilhabe wird zudem dadurch erschwert, dass kein bundesweiter Rechtsanspruch auf Kostenübernahme von DolmetscherInnen, die für Gehörlose z.B. bei einem Amtsgang notwendig sind, besteht. Ein solcher Rechtsanspruch würde nämlich auch zu einem weiteren Problem führen, denn in Österreich stehen nur ca. 90 DolmetscherInnen zur Verfügung.

2014 stellte die Mutter einer gehörlosen Tochter, die eine Kärntner Handelsakademie besucht, einen Antrag auf Sprachentausch gemäß Schulunterrichtsgesetz. Deutsch hätte demnach den Platz der ersten lebenden Fremdsprache eingenommen. Die Muttersprache der Schülerin, ÖGS, hätte die Stelle des Faches Deutsch eingenommen: „Sie [die Eltern] wollten […] eine Gleichberechtigung ihrer Kinder mit den Verwendern der autochthonen gesprochenen österreichischen Minderheitensprachen (zB die Ermöglichung von Abschlussprüfungen in der Österreichischen Gebärdensprache) und der Kinder mit anderen Muttersprachen als Deutsch.“[ris.bka.gv.at] Man ermöglichte der Schülerin jedoch kein barrierefreies Lernen. Die Muttersprache der Schülerin sei Deutsch, nicht ÖGS. Der Sprachentausch sei zudem nur mit einer lebenden Fremdsprache laut Lehrplan möglich. Auch ein Einspruch, und die Ausführung, man würde damit gegen die UN-Konvention über die Rechte der Menschen mit Behinderungen verstoßen, blieben erfolglos.

(1) Die Statistik Austria führt keine Daten zu gehörlosen Menschen in Österreich. Bei den oben genannten Zahlen handelt es sich daher um Schätzungen. Der ÖGSDV gibt 8.000 bis 10.000 SprecherInnen an. (vgl.: http://www.oegsdv.at/gehoerlosigkeit-gebaerdensprache)

Weiterführende Informationen:

Österreichischer Gehörlosenbund

Portal für Gehörlose und Schwerhörige

Lexikon für Gebärden in verschiedenen Sprachen

Kurzfilme über Gehörlose ÖsterreicherInnen im Nationalsozialismus

Fotos: Sign language (arte.callejero/flickr.com; Lizenz: CC BY-NC-ND 2.0), Titelbild: Hannah Wahl

ANMERKUNG: Ursprünglich hieß es im 3. Absatz, dass der  „Österreichische Gehörlosenverbund“ 1988 wiedergegründet wurde. Nach einem Leserhinweis wurde nun das offizielle Gründungsjahr 1913 angegeben.

 

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3 Gedanken zu „„Taubstumm? Das macht mich sprachlos!“

  • Benjamin Lapp

    Ein einfühlsamer Artikel um eine viel zu wenig beachtete Sprache, der dazu einlädt sie zu erkunden.

    Antwort
  • Danke für den interessanten Artikel! Leider sind einige Fehler eingeschlichen.
    So ist „1988 wurde der „Österreichische Gehörlosenverbund“(sic!) als Dachverband der österreichischen Gehörlosenvereine wiedergegründet.“ nicht korrekt.
    Der Österreichische Gehörlosenbund wurde bereits 1913 gegründet (unter einem anderen Vereinsnamen) und zuletzt im Jahr 1969 umbenannt.

    Antwort
    • UZ

      Vielen Dank für ihre Rückmeldung, Herr Huber! Wir haben das nun geändert.

      Antwort

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