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Neue Oberstufe: Gleichschaltung statt Individualisierung

Offener Brief der Deutschlehrerinnen und -lehrer des BRG 16 (Irene Krieger)

Autonomie und Individualisierung gehören zu den Lieblingsvokabeln in vielen Bildungsdiskussionen. Deren praktische Anwendung im Deutschunterricht fällt mit dem neuen Lehrplan für die Oberstufe (NOST) jedoch noch schwerer. Individualisierung und Persönlichkeitsbildung werden darin zwar auch explizit gefordert, tatsächlich werden aber Gleichschaltung und Nivellierung implizit gefördert.

Reformieren oder Uniformieren?

Schon die Vorbereitungen auf die Zentralmatura bringen eine schleichende Vereinheitlichung des Unterrichts mit sich. Der semestrierte Lehrplan für die Oberstufe ist ein weiterer Schritt in Richtung Gleichmacherei. Er ist streng reglementiert und überfrachtet, was in der praktischen Umsetzung dazu führt, dass in den jeweiligen Jahrgängen von allen Lehrpersonen dieselben Inhalte unterrichtet werden. Das wird auch in Fortbildungen empfohlen. Im Unterrichtsgeschehen wird so die individuelle Entfaltung von Schüler- und Lehrerpersönlichkeit eingeschränkt. Themenvielfalt, Kreativität und spontane Bezugnahme auf Aktuelles werden erschwert. In einer heterogenen Schulwirklichkeit wie der unseren – im 16. Wiener Gemeindebezirk – können spezielle Interessen der Schülerinnen und Schüler noch weniger miteinbezogen werden.

Fokussieren auf Schwächen statt auf Stärken?

In der gültigen Leistungsbeurteilungsverordnung (LBVO) werden mündliche und schriftliche Leistungen zu einer Gesamtnote zusammengeführt. Beim Beurteilungssystem der NOST hingegen ist eine Kompensation von Schwächen schwerer möglich, da alle von der Lehrperson definierten Kompetenzbereiche positiv sein müssen. Wir sehen darin nicht nur einen Widerspruch zur LBVO, sondern auch eine klare Fokussierung auf die Schwächen der Schülerinnen und Schüler, die diese nicht mehr mit ihren Stärken kompensieren können. Auch wird eine solche Beurteilung einem geisteswissenschaftlichen Fach wie Deutsch nicht gerecht.

Persönlichkeitsentwicklung oder Durchpeitschen von Inhalten?

Durch die Semestrierung entsteht eine zusätzliche zeitliche Einengung, was zu einem Durchpeitschen der vorgegebenen Inhalte führt. Oberflächlicher Erwerb von sogenannten Kompetenzen wird in der Praxis dominieren. Der Tiefgang im Umgang mit Sprache und Literatur kann leicht auf der Strecke bleiben, wenn die Hauptbeteiligten vor Ort zu Befehlsempfängern degradiert werden. Die individuellen Bedürfnisse von Schülerinnen und Schülern, Klassen und Lehrpersonen müssten mehr im Vordergrund stehen. In unserer Schule ist etwa die gesellschaftliche Auseinandersetzung entlang der verschiedenen Kulturen ein Hauptthema. „Themen, die für die Einzelnen sowie für die Gesellschaft bedeutsam sind“ brauchen „sinnvolle Handlungszusammenhänge“ (NOST-Lehrplan, Didaktische Grundsätze 5. bis 8. Klasse). Diese lassen sich nicht von oben verordnen und gedeihen schlecht in einem starren zeitlichen und inhaltlichen Korsett. Es sollten doch eigenständige Persönlichkeiten aus der Schulwelt hervorgehen und nicht Kopien mit zu vielen antrainierten Kompetenzen, die sie überfordern.

Irene Krieger, Lehrerin und Fachkustodin am BRG 16, Schuhmeierplatz, Wien, im Namen der Fachgruppe Deutsch.

Erschien auch als User-Kommentar auf derstandard.at

Titelbild: Lehrer (pixabay.com; public domain)

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