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Markt, Freiheit & Wettbewerb als Kampfbegriffe der neoliberalen Ideologen

Teil 2 der Serie „Wie der Kapitalismus Krisen erzeugt und Kriege vorbereitet“

Von Ullrich Mies, Sozial- und Politikwissenschaftler

Markt

Der „freie Markt“ ist die „natürliche Ordnung der Dinge“, dies ist das Glaubensbekenntnis der Neoliberalen. Die neoliberale Ideologie trägt religiöse Züge, weil sie beansprucht, „alternativlos“ zu sein: TINA [1].

There is no alternative.
Margret Thatcher, in den 1980ern

Tatsächlich handelt es sich beim Neoliberalismus um eine Kampf- und Selbstimmunisierungsideologie totalitären Charakters, da die Marktfreiheit und die (unregulierte) Freiheit des Finanzkapitals allen demokratischen Prinzipien vorgeordnet sind. Der „freie Markt“ steht über dem Souverän, der Demokratie und ihren Institutionen. Der Staat und seine Institutionen haben dem Markt zu dienen. Es war und ist die „große Propagandaleistung“ der Neoliberalen, den „Ökonomismus“ als die neue Religion im Alltagsbewusstsein der Menschen verankert zu haben.

Hierzu sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel im September 2011:

„Wir leben ja in einer Demokratie und das ist eine parlamentarische Demokratie und deshalb ist das Budgetrecht ein Kernrecht des Parlaments und insofern werden wir Wege finden, wie die parlamentarische Mitbestimmung so gestaltet wird, dass sie trotzdem auch marktkonform ist [2].“

Genauso gut hätte Merkel sagen können: Das Grundgesetz interessiert mich nicht. Ich bin das Politbüro und Zentralkomitee der Kapitalinteressen in Personalunion und stehe über Verfassung, Recht und Gesetz. Denn im Klartext bedeutet die Aussage nichts anderes, als das fortan die Finanzmärkte über der parlamentarischen Demokratie stehen.

Bei aufkommenden Zweifeln am Sinn des Neoliberalismus reagieren seine Träger mit einem immer penetranteren Geschrei nach Reformen, um den Prozess der permanenten Marktentfesselung sogar noch zu beschleunigen. Damit verfolgen die Neoliberalen das alleinige Ziel: Sie wollen die Alleinherrschaft des Marktes aufrechterhalten. Von großer Bedeutung ist dabei die Integration der Argumente seiner Kritiker, die er marktgerecht zu transformieren versteht, indem er sie in moderne Management-, Controlling- und Governance-Strategien integriert.

Freiheit

Freiheit ist der wichtigste Kampfbegriff der Marktradikalen. „Freiheit“ ist nach marktradikaler Lesart dann verwirklicht, wenn sich die Finanzmärkte ohne Hindernisse durch gesetzliche (zum Beispiel Sozial- und Umweltregulierungen) oder sonstige Friktionen wie Arbeitnehmerorganisationen, Zölle, Kontingente „frei“ und ohne ethisch-moralische Hemmnisse entfalten können.

Zudem müssen sich Konzerne sowie Individuen [Oligarchen/ Plutokraten/Kleptokraten] ungehemmt zu Lasten Dritter, der Allgemeinheit oder der Natur bereichern können. „Freiheit“ oder auch individuelle Freiheit ist dann verwirklicht, wenn die Freiheit des Marktes in all ihren Formen als Waren-, Dienstleistungs-, Kapital- und Arbeitsmarktfreiheit und der Zugriff des Kapitals auf das kollektive Eigentum (Staatseigentum) und den Reichtum der Natur durch Privatisierung sichergestellt ist.

Der Freiheitsbegriff der Neoliberalen hat mit der Freiheit des Individuums auf Verwirklichung und Selbstentfaltung nichts zu tun. Es handelt sich um die Perversion des Freiheitsbegriffs.

Wettbewerb

„Wettbewerb“ ist das neoliberale Mantra. „Wettbewerb“ steht für das kapitalistische Verdrängungsprinzip. Alle „Marktteilnehmer“, vom Individuum über Großunternehmen, Kommunen, Regionen, Bundesländer bis hin zur internationalen Staatengemeinschaft haben sich dem „Wettbewerb“ zu unterwerfen.

Sich dem „Wettbewerb“ zu stellen, bedeutet nicht „gesunde Konkurrenz“ zum Wohl des Verbrauchers oder der allgemeinen Wohlstandsmehrung, sondern

  • die Unterwerfung unter sein Diktat,
  • die Eingliederung in den globalisierten Markt,
  • die gewaltsame Öffnung der „dem freien Spiel der Marktkräfte“ und damit der hemmungslosen Profiterwirtschaftung noch nicht offen stehenden nationalen Märkte,
  • das Niederkonkurrieren und Vernichten Schwächerer im täglichen Kampf.
  • „Übernahme- und Abwehrschlachten“ bestimmen das Geschehen. „Jeder gegen jeden“, „alle gegen alle“, ist das als „Wettbewerb“ kaschierte neoliberale Grundprinzip des entsolidarisierten Gesellschaftsmodells im totalen Wirtschaftskrieg des modernen Kapitalismus.

Solidarisches, demokratisches Handeln sowie ein Leben im Einklang mit der Natur gelten grundsätzlich als den „Markt“ verzerrend. Der Geltungsanspruch des neoliberalen, marktradikalen Wettbewerbsprinzips ist total und imperial, er erstreckt sich auf den politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Raum.

Erklärtes Ziel der EU ist zum Beispiel durch Konzentrationsprozesse „Champions“ und „Global Player“ zu schaffen, damit diese auf den Weltmärkten im Kampf der Giganten „ganz oben mitmischen können“. Zusammen mit der NATO sichert die EU diesen Eroberungskampf auch militärisch ab.

Der Neoliberalismus als Herrenmenschenideologie

„Reichtum ist das Ergebnis von Leistung.“ Das ist ein weiterer Leitspruch der neoliberalen Ideologen. Es geht nicht um Wohlstand für alle! Das Gegenteil ist der Fall: Im Neoliberalismus erfolgt Führung durch (selbsternannte) „Eliten“ und geschlossene Herrschaftszirkel, Experten/Technokraten, Senate, Direktorien, Netzwerke und geheime Bünde. Diesem Führungsanspruch liegt die sozialdarwinistische Ideologie des „Sieges der Starken“ zugrunde.

Demokratie ist für diese Cliquen eine permanente Bedrohung ihrer Herrschaftsbastionen. Es ist die „große Propaganda-Leistung“ der Neoliberalen, eine (neue) klassenbasierte Herrenmenschenideologie unter dem Deckmantel eines umdefinierten Demokratie- und Freiheitsbegriffs geschaffen zu haben.

„Armut ist das Ergebnis von Faulheit“. Die, die sich „im Wettbewerb“ nicht bewährt haben, werden als die Schwachen, Dummen, Armen und Faulen abgestempelt; diejenigen, die nicht mehr mitmachen können oder wollen, werden ausgegrenzt oder mit „Absturz“ bedroht; die „Ausgeschiedenen und Überflüssigen“ werden nach unten getreten, denunziert und gedemütigt. Vor allem sollen sie auch unten bleiben. Sie sind nutzloser „Humanschrott“.

Der Mensch als Markt-Homunculus

Die neoliberalen Täter zerstören Millionen Menschen die Arbeit, drängen sie in minderwertige beziehungsweise schlecht bezahlte und prekäre Jobs. Damit nicht genug: Anschließend machen sie diese noch zu Opfern ihrer Denunziationen und Herrschaftspraktiken.

Der ökonomistisch-verformte Markt-Homunculus entspricht dem Menschenbild der Neoliberalen. Sie wollen den „neuen Menschen“ schaffen: Dieser darf sich nur innerhalb des gesetzten Rahmens der kapitalistisch-neoliberalen Ordnung „verwirklichen“, vor allem darf er den gesetzten Rahmen des Laufstalls organisierter Beschränkung und geistiger Enge nicht erkennen und schon gar nicht verlassen.

Die Herrschaftsträger setzen alles daran, dass der Mensch nicht befähigt wird, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Er soll gehorchen, funktionieren, keine Fragen stellen und sich der „freien Marktordnung“ und ihren „Wahrheiten“ hingeben. Seine einzige Funktion besteht darin, selbst zum Träger der neoliberalen Ideologie zu werden.

Demokratie, Staat und Staatsstreich im Neoliberalismus

Demokratie ist nach Auffassung der neoliberalen Ideologen dann verwirklicht, wenn alle Wirtschaftssubjekte die Chance haben, am Marktgeschehen teilzunehmen und das gilt auch für Ein-Euro-Shopper. Die Menschen haben sich nicht in die „freie Marktordnung“ einzumischen, sie sind einzig und allein Marktteilnehmer. Den Neoliberalen reicht für das Funktionieren ihrer Pseudo-Demokratie, dass die Institutionen der parteienbasierten-parlamentarisch-repräsentativen Demokratie formal in Takt bleiben.

Abgesehen von der Tatsache, dass die parteien-basierte Demokratie noch nie dazu da war, den Volkswillen zu repräsentieren, erfolgte ihre finale Zerstörung hin zu lobbygestützten, scheindemokratischen Herrschaftskonfigurationen der Kapitalinteressen nach dem Systemzusammenbruch der UdSSR.

Die politischen Cliquen rekrutieren sich aus dem Personalpool der neoliberal gleichgeschalteten Parteien und werden durch externe „Berater“ gestärkt. In den weitgehend geschlossenen Systemen und Parallelwelten ihrer Steuerungsnetzwerke sorgen sie dafür, dass ausschließlich sie „das Sagen haben“. Sie haben den demokratischen Verfassungsstaat „gekapert“, ihn der neoliberalen Ordnung unterworfen und hinter scheindemokratischer Fassade die marktradikale (Wirtschafts-)Diktatur errichtet. Bei aufkommendem Widerstand, wie in Frankreich durch die Gelbwestenbewegung, gehen die marktradikalen Herrschaftscliquen zur offenen Repression über.

Gewaltenvereinigung, Lobbykratur und Rechtsnihilismus

Auf dem Weg, Demokratie und Sozialstaat zu schleifen, räumen die neoliberalen Akteure den Rechtsstaat gleich mit ab: Die Exekutive wird, wo immer möglich, gestärkt, die Fachbeamtenschaft durch Heere marktradikaler angloamerikanischer Anwälte und Berater sowie Expertengremien ersetzt (siehe deutsches Kriegsministerium). Die Legislative in den Parlamenten, das heißt, die Abgeordneten werden via Parteisozialisation in den Herrschaftsparteien auf Linie gebracht, durch Fraktionszwang schleichend entmachtet und durch Lobbyistenheere korrumpiert.

Ich zitiere aus dem Newsletter des Vereins „Abgeordnetenwatch“ vom 26. Mai 2019:

„500 Millionen Euro, vielleicht auch eine Milliarde oder mehr: So viel lassen sich Konzerne und Verbände ihre Lobbybüros in Berlin kosten. Von dort schwärmen dann regelmäßig mindestens 6.000 Lobbyisten aus, um politische Entscheidungen in ihrem Interesse zu beeinflussen. Nach unseren Recherchen verfügen 778 Lobbyisten über einen Hausausweis für den Bundestag, zum Beispiel Vertreter der Tabak-, Banken- und Rüstungsindustrie. Damit gelangen sie ungehindert bis zu den Abgeordnetenbüros, den Fraktionsräumen oder der Bundestagskantine. Welche Anliegen die Lobbyisten dort platzieren, erfahren wir Bürgerinnen und Bürger nicht – denn ein Lobbyregister, in dem Einflussversuche, Lobbybudgets und Auftraggeber öffentlich werden, gibt es nicht.“

Unabhängig von der Lage in Berlin sollen etwa 30.000 Lobbyisten in Brüssel unterwegs sein, um Kommission und EU-Abgeordnete konzerngerecht zu bearbeiten und diese für die gewünschten Gesetzesvorlagen in Stellung zu bringen. Damit nicht genug. Die Organisation Lobbycontrol spricht von „Captured Legislature“, also von einer „Gefangennahme der Gesetzgebung“ durch Konzerninteressen.

Erosion der Dritten Gewalt

Auch die Judikative wird systemkonform auf Linie gebracht, das „Recht“ marktkonform zugerichtet, darüber hinaus werden Richterämter und Rechtspflege via „Sparzwang“ personell auf Schrumpfkur gesetzt. Das heißt, es findet eine neoliberale Durchdringung und ideologische Verengung im gesamten Staatsapparat mit der Folge der Gewaltenvereinigung statt.

Der demokratische Verfassungsstaat mutiert zum Wettbewerbs-, Kontroll- und Gewährleistungsstaat. Dieser Rechtsnihilismus ist integraler Bestandteil des neoliberalen Staatsumbaus. Hierzu gehört, dass die Herrschaftscliquen für sich zunehmend rechtsfreie Räume beanspruchen, um sich vor Strafverfolgung – wie zum Beispiel bei der Planung von Angriffskriegen – zu schützen. Die systematische Erosion der Dritten Gewalt beschneidet die Bürger in fundamentalen Rechten.



Quellen und Anmerkungen

[1] Investopedia (29.03.2019): TINA – There Is No Alternative. Auf https://www.investopedia.com/terms/t/tina-there-no-alternative.asp (abgerufen am 07.07.2019).

[2] Zitat vom 1. September 2011. Quelle: https://www.youtube.com/watch?v=y4CIiBL-EKg (Angela Merkel und die marktkonforme Demokratie) sowie Jasper von Altenbockum in der FAZ (15.04.2012): Marktkonforme Demokratie? Oder demokratiekonformer Markt? Auf http://www.faz.net/aktuell/politik/hartebretter/marktkonforme-demokratie-oder-demokratiekonformer-markt-11712359.html (beide abgerufen am 07.07.2019).


Redaktioneller Hinweis: Der Beitrag von Ullrich Mies basiert auf dem gleichnamigen Vortragsskript „Wie der Kapitalismus Krisen erzeugt und Kriege vorbereitet“, gehalten beim Club of Vienna am 6. Juni 2019. Es wurde in Abstimmung mit dem Autor aktualisiert und redaktionell überarbeitet.


Ullrich Mies ist Sozial- und Politikwissenschaftler. Er studierte in Duisburg und Kingston/Jamaica. Seine Interessenschwerpunkte sind internationale politische Konflikte, organisierte Friedlosigkeit, Staatsterrorismus, Neoliberalismus, Demokratieerosion, Kapitalismus- und Militarismuskritik sowie die Erhaltung der Biodiversität. Er ist seit 1994 selbständig und lebt seit 30 Jahren in den Niederlanden. Er schreibt für „Rubikon – Magazin für die kritische Masse“, die „Neue Rheinische Zeitung“, „Neue Debatte“, „scharf-links“ und ist für „sputnik“ aktiv. 2017 erschien von ihm und Jens Wernicke als Herausgeber das Buch „Fassadendemokratie und Tiefer Staat: Auf dem Weg in ein autoritäres Zeitalter“.

Der Beitrag erschien zuerst auf neue-debatte.com, Kooperationspartner von Unsere Zeitung.
Titelbild: Free Market by Nick Youngson CC BY-SA 3.0 ImageCreator

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