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Langzeitarbeitslosigkeit: Politik muss rasch handeln

Seit dem ersten Corona-Lockdown haben es Langzeitarbeitslose besonders schwer, wieder in Beschäftigung zu finden. Es ist zu befürchten, dass sich diese Situation während und nach dem zweiten Lockdown weiter zuspitzen wird.

Von Dennis Tamesberger und Johann Bacher (A&W-Blog)

Politisch wurden bisher kaum Maßnahmen gesetzt – dies, obwohl die Folgen für die Betroffenen, für die Gesellschaft und für die Volkswirtschaft weitreichend sind. Wirksame Konzepte wie eine öffentliche Jobgarantie oder Solidaritätsmodelle liegen auf dem Tisch – jetzt liegt es an der Politik, aktiv zu werden.

Viermal so viele Langzeitbeschäftigungslose

Im Oktober 2020 gab es in Österreich über 122.500 langzeitbeschäftigungslose Arbeitslose (+30,7 Prozent im Vergleich zum Vorjahr). Im Oktober-Vergleich ist dies ein historisch hoher Wert und fast viermal so hoch wie im Jahr 2008. Auch relativ betrachtet ist die Langzeitbeschäftigungslosigkeit ein zunehmendes Problem geworden. Während 2008 noch 11,6 Prozent der Arbeitslosen, Lehrstellensuchenden bzw. Schulungsteilnehmer*innen als langzeitbeschäftigungslos galten, sind es aktuell 28,4 Prozent.

Es ist zu befürchten, dass der zweite Lockdown zu einem weiteren Anstieg führen wird, wenn nicht politisch gegengesteuert wird. Da es in absehbarer Zeit in vielen Branchen keine oder wenige freien Stellen gibt, werden bereits jetzt Langzeitbeschäftigungslose schwer eine Stelle finden, und es ist anzunehmen, dass viele Arbeitslose mit einer kurzen Dauer langzeitbeschäftigungslos werden.

Grafik: awblog.at

Ältere und gesundheitlich Beeinträchtigte besonders betroffen

Das Risiko der Langzeitbeschäftigungslosigkeit steigt mit zunehmendem Alter an. Rund 55 Prozent der Langzeitbeschäftigungslosen sind älter als 44 Jahre. Insgesamt – das heißt: unter allen Arbeitslosen – ist der Anteil dieser Altersgruppe deutlich niedriger (43 Prozent), was auf die überdurchschnittliche Betroffenheit von Langzeitbeschäftigungslosigkeit von Älteren hinweist. Aber auch mehr als 5.000 Jugendliche und junge Erwachsene sind von Langzeitbeschäftigungslosigkeit betroffen, dabei vor allem 19- bis 24-Jährige. Das zeigt, dass es eine konsequente Ausbildungsgarantie auch für junge Erwachsene im Alter zwischen 19 und 24 Jahren geben sollte.

Ein ähnlicher Befund trifft auf Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen zu. Rund 39 Prozent der Langzeitbeschäftigungslosen haben gesundheitliche Vermittlungseinschränkungen. In Bezug auf das Bildungsniveau von Langzeitbeschäftigungslosen bestätigt sich der bekannte Zusammenhang zwischen Ausbildung und individuellem Arbeitslosigkeitsrisiko. Rund jede/r zweite Langzeitbeschäftigungslose (48,7 Prozent) hat maximal eine Pflichtschulausbildung. Dieser Wert liegt leicht höher als im Durchschnitt aller Arbeitslosen (43,8 Prozent).

Es sollte jedoch nicht die zweite Hälfte übersehen werden, wo Menschen trotz Ausbildung bzw. Berufserfahrung langzeitbeschäftigungslos sind. Rund 19 Prozent der Langzeitbeschäftigungslosen bzw. rund 22.800 Menschen haben sogar eine höhere oder akademische Bildung. Es ist ökonomisch äußerst unvernünftig, dieses Potenzial nicht zu nutzen und eine Entwertung durch die lange Arbeitslosigkeitsdauer zu riskieren.

Folgen der Langzeitarbeitslosigkeit

Arbeitslosigkeit ist – wie Marie Jahoda einleitend in ihrer Rede auf dem SPD-Parteitag 1982 festhält – „schlecht (…), schlecht für den Betroffenen und schlecht für die Gesamtwirtschaft“. Das gilt insbesondere für Langzeitarbeitslosigkeit. Sie bedeutet für den Betroffenen/die Betroffene einen Einkommensverlust und in der Folge eine höhere Armutsgefährdung, eine Einschränkung der sozialen Kontakte und eine Verschlechterung des Gesundheitszustands.

Diese Narben sind langfristig nachweisbar, also auch noch beobachtbar, wenn die Person z. B. bereits wieder eine Stelle angenommen hat. Auf der Grundlage des Sozialen Surveys Österreich 2016, einer repräsentativen Befragung der österreichischen Wohnbevölkerung, zeigt sich, dass zum Befragungszeitpunkt Erwerbstätige auch nach Kontrolle von anderen möglichen Einflussfaktoren ein signifikant geringes monatliches Nettoeinkommen aufweisen.

Zum Befragungszeitpunkt verdienen Erwerbstätige mit früheren, längeren Arbeitslosigkeitserfahrungen im Durchschnitt um  355 Euro netto im Monat weniger als Befragte, die nie arbeitslos waren, selbst dann, wenn sie in derselben Branche und im selben Umfang beschäftigt sind, dieselbe Tätigkeit ausüben und sich auch nicht hinsichtlich Geschlecht, Alter, Bildung, Partnerschaft, Kinder und Wohnort unterscheiden. Sie nennen auch tendenziell geringere soziale Ressourcen (Netzwerke, unterstützendes Umfeld, …) als Personen, die nie oder maximal bis zu einem Jahr arbeitslos waren. Langzeitarbeitslose berichten schließlich auch über einen signifikant schlechteren Gesundheitszustand, unterscheiden sich hier aber nur von den Erwerbstätigen, die nie arbeitslos waren.

Grafik: awblog.at

Maßnahmen jetzt erforderlich

Angesichts des bereits bestehenden Ausmaßes und aufgrund des zu erwartenden weiteren Anstiegs von Langzeitbeschäftigungslosigkeit durch die wirtschaftlichen Folgen des zweiten Lockdowns einerseits und der negativen Folgen andererseits sind Maßnahmen zur Reduktion der Langzeitbeschäftigungslosigkeit dringend geboten. Diese sollten aus unserer Sicht in folgende Richtung gehen:

  1. Reduktion des Einkommensverlusts und des damit einhergehenden Armutsrisikos durch Erhöhung des Arbeitslosengeldes. Das Arbeitslosengeld und die Notstandshilfe sollten armutsfest gestaltet werden, die Nettoersatzrate auf mindestens 70 Prozent angehoben werden.
  2. Vermeidung von Kündigungen durch Kurzarbeit, da die Gefahr besteht, dass Kurzzeitarbeitslosigkeit zeitversetzt in Langzeitarbeitslosigkeit mündet.
  3. Schaffung von Arbeitsplätzen im öffentlichen und gemeinnützigen Bereich durch Jobgarantien und Solidaritätsmodelle, verbunden mit dem Mut zu mehr Experimenten.

Öffentliche Jobgarantie: Arbeit solidarisch organisieren

Angesichts der enormen Knappheit an Arbeitsplätzen wird international die Einführung einer öffentlichen Jobgarantie – generell aber speziell für Langzeitarbeitslose – diskutiert. Die Idee ist dabei einfach: Ausgaben, die sonst für das Arbeitslosengeld verwendet werden, werden im Rahmen der Jobgarantie für die Finanzierung von öffentlichen oder gemeinnützigen Jobs herangezogen. Indem die Menschen in den Regionen bei der Wahl der neu geschaffenen Jobs involviert werden, können vor Ort sinnvolle Jobs demokratisch geschaffen werden, die dem Gemeinwohl dienen.

Gerade in der Alten- und Kinderbetreuung, im Gesundheitsbereich und aktuell für das COVID-19-Contact-Tracing, im öffentlichen Verkehr, in der Kreislaufwirtschaft und in der Gewinnung von erneuerbarer Energie sind die Bedarfe enorm. Gleiches gilt für den Bildungsbereich, wie z. B. die versprochene Anstellung von Langzeitarbeitslosen für administrative Tätigkeiten. Eine öffentliche Jobgarantie, die versucht, diese Bedarfe zu decken, organisiert nicht nur Arbeit solidarisch und bekämpft Langzeitarbeitslosigkeit, sondern könnte auch neue Formen des Arbeitens und Wirtschaftens explizit im Auge haben.

Experimentelle Arbeitsmarktpolitik

Angeknüpft werden könnte an die experimentelle Arbeitsmarktpolitik der 1980er-Jahre, in der nicht in erster Linie individuelle Arbeitsplätze in Betrieben gefördert wurden, sondern die auf die Gründung von alternativ organisierten Betrieben, die gemeinnützig und partizipativ ausgerichtet waren, abzielte. Die gemeinnützige Ausrichtung hatte auch die Ursprungsvariante der „Aktion 20.000“. Sie ist auch ein Teil des vor Kurzem gestarteten Modellprojekts MAGMA (Modellprojekt Arbeitsplatzgarantie Marienthal) des AMS Niederösterreich. 

Ein Selbsthilfeprojekt für arbeitslose Bergarbeiter wurde von Marie Jahoda im Exil 1937/38 in Wales evaluiert. Das Projekt sah vor, dass die arbeitslos gewordenen Bergarbeiter in speziell gegründeten Betrieben die Güter des täglichen Bedarfs produzierten, die sie dann gegen ein geringes Entgelt konsumieren konnten. Positive Effekte ergaben sich vor allem für ältere Arbeitslose, da sie ihre landwirtschaftlichen Kenntnisse einbringen konnten, während ihre Söhne, die mit dem Bergbau aufgewachsen waren, über diese nicht mehr verfügten. Dies zeigt, dass Projekte bei den Erfahrungen und Kompetenzen der Langzeitarbeitslosen ansetzen sollten, um erfolgreich zu sein.

Solidaritätsmodelle

Ihre Grundidee besteht darin, dass Erwerbstätige ihre Arbeitszeit reduzieren und dadurch Stellen geschaffen werden. Beispiele dafür sind die kontinuierlich genommene Altersteilzeit oder das AMS-Solidaritätsprämienmodell. Erste Berechnungen für ein staatlich gefördertes Arbeitszeitverkürzungsmodell zeigen, dass die öffentlichen Kosten im Vergleich zur Alternative Arbeitslosigkeit leistbar sind. In der aktuellen Situation muss die Politik entschieden handeln, den Mut für neue Wege in der Arbeitsmarktpolitik haben und sich auf Experimente für einen gesellschaftlichen Fortschritt einlassen. Die Risiken und Kosten des Nicht-Handels sind wesentlich höher.


Titelbild: kalhh auf Pixabay/edited by Unsere Zeitung

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