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Der Fall Julian Assange: Es geht um mehr, als wir glauben

Der Fall Assange macht ganz klar deutlich: Es geht nicht allein um die Zukunft von Assange im Speziellen, sondern um die Zukunft der Presse- und Meinungsfreiheit im Allgemeinen – und damit gewissermaßen um die Zukunft von uns allen.

Von Florian Maiwald

Der 1987 veröffentlichte Song It’s the End of the World as We Know It (And I Feel Fine) von R.E.M thematisiert in loser Reihenfolge diverse Endzeitszenarien, ist in seiner Form jedoch darauf ausgerichtet für ausgelassene Partystimmung zu sorgen – was nicht zuletzt erklärt, warum der Song in der Corona-Pandemie zunehmend als Hit wahrgenommen wurde. 

Das eigentlich Interessante an dem Song tritt jedoch zutage, wenn man den Refrain etwas genauer liest:

It’s the end of the world as we know it
It’s the end of the world as we know it
It’s the end of the world as we know it and I feel fine I feel fine (I feel fine)

Es geht nicht im engeren Sinne um die zynische, affirmative Thematisierung möglicher apokalyptischer Szenarien, sondern vielmehr um die Verabschiedung einer uns bekannten Welt ( …as we know it), welche zugleich das Fundament für die praktische Realisierung eines positiveren und utopischeren Ideals einer anderen Welt darstellen kann. Diese Lesart würde auch den Zusatz I feel fine erklären. Wenn man den Refrain genauer betrachtet, wird jedoch noch etwas anderes sehr interessantes deutlich: Jenes Ende, von welchem im Song die Rede ist, muss sich nicht zwangsläufig auf ein als apokalyptisch aufzufassendes Ende der Welt an sich beziehen, sondern kann auch auf einen Bewusstseinswandel hinweisen, welcher nichts an den bestehenden soziopolitischen Rahmenbedingungen ändert, sondern lediglich die Art und Weise wie wir ebendiese Rahmenbedingungen wahrnehmen. Steht der Fall Julian Assange nicht paradigmatisch für einen derartigen Bewusstseinswandel? Ist es nicht Julian Assanges Verdienst, dass die Art und Weise, wie wir bestimmte Aspekte der (geo-) politischen Wirklichkeit wahrnehmen, sich radikal geändert hat?

Julian Assange: Der Gerichtsprozess und seine Hintergründe

Am 04. Januar 2021 findet am Central Criminal Court in London der Gerichtsprozess um den investigativen Journalisten Julian Assange statt. Der Grund: Über die Enthüllungsplattform Wikileaks hat Assange unter anderem das Video „Collateral Murder“ veröffentlicht, in welchem mitunter die Erschießung von unbewaffneten irakischen Zivilist*innen aus einem US-Militärhubschrauber dokumentiert wird. Die Konsequenz: Nachdem die ecuadorianische Botschaft in London Assange keine Zuflucht mehr gewährte, befindet er sich bereits seit Monaten im dem Londoner Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh, welches nach einigen Aussagen einem “britischen Guantanamo“ gleicht. Dort verweilt Assange unter menschrechtswidrigen Bedingungen und lebt 23 Stunden am Tag in kompletter Isolation. Assange wartet dort auf seinen Gerichtsprozess. Wird Assange für schuldig erklärt so erwarten ihn in den USA 175 Jahre Haft.

Dies mutet umso paradoxer vor dem Hintergrund der Tatsache an, dass Assange nicht einmal ein US-amerikanischer Staatsbürger ist – er ist Australier – und keines seiner angeblichen Verbrechen auf US-amerikanischen Boden begangen hat. Umso nachdenklicher sollten die Aussagen des ehemaligen CIA-Direktors Leon Panetta stimmen, wenn dieser darauf hinweist, dass es den USA im Hinblick auf den Fall Assange primär darum gehe, ein Exempel zu statuieren. Das bedeutet im Konkreten so viel wie: Jeder investigative Journalist, welcher intendiert, Kriegsverbrechen durch die US-Armee an die Öffentlichkeit zu bringen, muss zukünftig mit einer ähnlichen Strafe rechnen. Der Fall Assange macht ganz klar deutlich: Es geht nicht allein um die Zukunft von Assange im Speziellen, sondern um die Zukunft der Presse- und Meinungsfreiheit im Allgemeinen und damit gewissermaßen um die Zukunft von uns allen.

Die Tatsache, dass Assange nun möglicherweise 175 Jahre Haft drohen ist mehr als schockierend, da das, was Assange getan hat, lediglich journalistische Arbeit war. Ohnehin bleibt in diesem Zusammenhang die Frage zu stellen: Warum reden die USA dauernd von Staatgeheimnissen? Haben die Bürger*innen nicht das Recht, über bestimmte Kriegsverbrechen aufgeklärt zu werden?

 

Assange und das gesellschaftlich Unbewusste

Das, was Assange getan hat – und das mag auch die harten Sanktionsabsichten der USA erklären – kann ebenfalls als die Offenlegung jenes Phänomens interpretiert werden, welches Erich Fromm als das gesellschaftlich Unbewusste bezeichnet hat. In diesem Zusammenhang schreibt Fromm:

Der Gesellschafts-Charakter, der die Menschen veranlasst, so zu handeln und zu denken, wie es der reibungslose Ablauf ihres gesellschaftlichen Lebens erfordert, ist nur das eine Verbindungsglied zwischen Gesellschaftsstruktur und Ideen. Das andere Verbindungsglied ist die Tatsache, dass eine jede Gesellschaft bestimmt, welche Gedanken ins Bewusstsein gelangen dürfen und welche unbewusst bleiben müssen (Fromm 2005: 98).

Während der Gesellschaftscharakter darauf ausgerichtet ist, dass das Handeln und Denken auf eine Reproduktion der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse ausgerichtet ist, bezeichnet das gesellschaftlich Unbewusste jene Verdrängung, welche notwendig ist, damit ebenjene Reproduktion der gesellschaftlichen Verhältnisse nicht gestört wird. Appliziert man die Gedanken Fromms auf den Fall Assange, so wird folgendes deutlich:

Unbewusst mag uns schon seit längerem klar sein, dass das für die westliche Welt charakteristische Freiheitsnarrativ von einer gewissen Ambivalenz geprägt ist – wir verurteilen zu Recht den Umgang Chinas oder der Türkei mit den eigenen Journalist*innen, aber machen die USA nicht das gleiche, wenn sie einen Journalisten wegsperren möchten, welcher Kriegsverbrechen an die Öffentlichkeit brachte? Und warum wird der Fall Assange in den deutschsprachigen Medien und der politischen Öffentlichkeit wenig bis kaum thematisiert? Es sind eben jene Ambivalenzen, welche durch die Wikileaks-Enthüllungen an den Tag gebracht wurden und welche zu einer Disruption des bestehenden gesellschaftlichen Narrativs geführt haben. Assange hat das, was uns nicht bewusst werden durfte, ins Bewusstsein gerufen und soll nun dafür bestraft werden. Er hat für ein Ende der Welt gesorgt, wie wir sie vorher wahrgenommen haben (oder wahrnehmen sollten), aber manchmal kann genau ein solches Ende der Anfang von etwas Positiven sein. Und egal wie der Prozess ausgeht, dafür sollten wir Assange auf ewig dankbar sein.


Quellen: Fromm, Erich. Jenseits Der Illusionen: Die Bedeutung Von Marx Und Freud. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1981.

Titelbild: „Julian Assange“ by acidpolly is licensed with CC BY-NC-SA 2.0.

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